Gedanken und Einsichten – über den Tag hinaus (1)

Über viele Jahre hinweg habe ich für meinen Blog „Denkraum“ insgesamt ca. 250 Beiträge geschrieben – von unterschiedlicher Qualität und Relevanz. Einige davon möchte ich kennzeichnen als „Über den Tag hinaus…“.

  • Der Mensch – ein „Gott der Erde“?
    • „Das Gewebe dieser Welt ist aus Notwendigkeit und Zufall gebildet; die Vernunft des Menschen stellt sich zwischen beide und weiß sie zu beherrschen; sie behandelt das Notwendige als den Grund ihres Daseins; das Zufällige weiß sie zu lenken, zu leiten und zu nutzen. Und nur, indem sie fest und unerschütterlich steht, verdient der Mensch, ein Gott der Erde genannt zu werden.“ Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre I,17
    • Wie steht es nun heute mit der Vernunft des „homo sapiens“?
  • Delphine – mit dem Kapitalismus konfrontiert.
    • Wenn Tiere zur Ware werden, werden Menschen zum Tier. Raubtiere töten ihre Beute jedoch meistens rasch und gezielt. Was im Video gezeigt wird, das brutale Abschlachten von Delphinen, ist Teil unserer Wirklichkeit. Schauen Sie es sich nur dann an, wenn Sie einiges abkönnen.
  • Osterbotschaft: „Wie hältst Du’s mit der Religion?“
    • Dem Gedankengut der Aufklärung verpflichtet, will ich daran erinnern, dass es mit dem historischen Jesus, seiner Auferstehung und dem leeren Grab so eine Sache ist.
  • Der Anschlag vom 11. September – ein Kunstwerk?
    • Der heutige Artikel des „Transatlantikblogs“ zum 11. September versteigt sich ernsthaft zu der These, die Terroranschläge von 9/11 sollten als „Kunstwerk“ betrachtet werden. Ein Interview des Komponisten Stockhausen wird zitiert, in dem dieser den Anschlag als „das größtmögliche Kunstwerk, was es je gegeben hat“ bezeichnete.
  • Kunst oder Leben, das ist hier die Frage
    • Nachdem der Verfasser des von mir kommentierten Artikels aus dem Transatlantikblog seine Aussagen ergänzt und überarbeitet hat, habe ich ihm einen weiteren Kommentar gesandt: „Sie machen in Ihrem Artikel durchgängig einen Denkfehler – denselben wie seinerzeit Stockhausen. Sie verlieren einen entscheidenden kategorialen Unterschied aus dem Blick: den zwischen einem Kunstwerk als einem Produkt menschlicher Phantasie, das auf einer Zeichenebene, einer symbolischen Ebene, zum Ausdruck gebracht wird, und der tatsächlichen Umsetzung von Phantasien im wirklichen Leben.
  • Joseph Stiglitz: Das war’s, Neoliberalismus
    • In dichter, überzeugender Argumentation entzaubert Stiglitz, der vor allem durch sein Buch „Die Schatten der Globalisierung“ als Globalisierungskritiker bekannt wurde, den Neoliberalismus als ökonomische Irrlehre und legt deren verheerende Folgen für zentrale Wirtschaftsbereiche dar.
  • Absturzgefahr: Ikarus und der fragile Kapitalismus
    • Banken verlieren mal eben das Vertrauen in ihre gegenseitige Kreditwürdigkeit, hören einfach auf, sich untereinander Geld zu leihen, und schon droht das ganze System zu kollabieren. Die Brisanz der Lage, die Größenordnung des drohenden Problems, das sich da im Stillen aufgebaut hat, haben wir massiv unterschätzt. Einige wenige Bankpleiten und -schieflagen können eine fatale Kettenreaktion auslösen und das gesamte Finanzsystem zur Implosion führen. Und der entscheidende Transmissionsriemen ist das fehlende Vertrauen der Banker in ihre eigene Branche.
  • Nobelpreisträger Stiglitz: „Schlimmer als die Große Depression“
    • Die Aufgabe der Banken ist es, Kapital zu sammeln, es aufzuteilen und die Risiken zu beherrschen. Dafür werden sie belohnt. Mehr als 30 Prozent aller Unternehmensgewinne in den USA sind in die Finanzbranche geflossen. Aber sie haben ihre Aufgabe nicht erfüllt. Sie haben das Risiko nicht beherrscht, sie haben es erst geschaffen.
  • „Steinbrück, Du hast keine Wahl“: Schreiben von Bundesbank und BaFin an den Finanzminister
    • In einem Schreiben vom 29. September 2008 erläutern Bundesbank und die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) dem Finanzminister, warum es zu einer Rettung der Hypo Real Estate Bank keine Alternative gibt, und warum der Staat sich mit einer Milliardenbürgschaft daran beteiligen muss. Wer sich aus erster Hand einen Eindruck verschaffen möchte, an welchem Abgrund unser Finanzsystem stand, und warum Regierungen sich in dieser Situation ohnmächtig mit dem Rücken zur Wand vorfinden, dem sei die Lektüre des sechsseitigen, von Bundesbankpräsident Weber und BaFin-Chef Sanio unterzeichneten Schreibens wärmstens empfohlen.
  • Wie es zur Finanzkrise kam – die ultimative Erklärung
    • In einem fiktiven Interview eines Fernsehjournalisten mit einem Investmentbanker liefern zwei englische Komiker, John Bird und John Fortune, die ultimative Erklärung, wie es zur Finanzkrise kam. Herausragend! Satire vom Feinsten. British humor at its best!
  • „Die Welt ist aus den Fugen“: von der Macht der Finanzwirtschaft und der Ohnmacht der Politik
    • „The time is out of joint“ („die Zeit ist aus den Fugen“), so lautet das Resumé des Dänenprinzen Hamlet, nachdem der Geist seines ermordeten Vaters ihm die Augen geöffnet hat für die verkommenen Verhältnisse im mittelalterlichen Staate Dänemark. In der Welt von Shakespeares Tragödien sind es regelmäßig einzelne Personen, die mit ihren oft monströsen Charakterschwächen Unheil über Land und Leute bringen.
    • Das Monster, das unsere heutige Welt im Griff hat wie ein Riesenkrake, ist ein gesellschaftliches Subsystem, die Finanzwirtschaft. Mit gigantischen Kapitalbeträgen agiert sie an kaum regulierten Märkten und stellt zunehmend eine Parallelgesellschaft dar. Die Funktionsmechanismen dieses in den letzten Jahrzehnten einerseits immer komplexer und andererseits immer mächtiger gewordenen ökonomischen Teilsystems sowie die Wirkungen und Sekundärfolgen dieser Mechanismen sind kaum noch zu durchschauen. In seiner heutigen, globalisierten Form ist das Finanzmarktsystem praktisch unkontrollierbar geworden.
  • Rechtsextreme Mentalität
    • Grundlage rechtsextremer Mentalität ist ein komplexes psychisches Regulationsgeschehen, ein dynamisches Zusammenspiel von psychischen Motiven, Emotionen, Abwehrmechanismen, Werthaltungen und Einstellungen vor dem Hintergrund von Defiziten in der Persönlichkeitsentwicklung. Rechtsextreme Mentalität entsteht nicht aus Einstellungen und Werturteilen der Betroffenen als Ergebnis mehr oder weniger rationaler Überlegungen. Die Ansichten und Werturteile, die eine „rechtsextreme Gesinnung“ ausmachen, sind Folge tiefergehender psychischer Motive, und die vermeintlich rationalen Begründungen dieser Ansichten sind lediglich Rationalisierungen.
  • Breivik – schuldfähig oder schuldunfähig?
    • Es scheint mir eindeutig, dass bei Anders Behring Breivik eine schwere kombinierte Persönlichkeitsstörung mit narzisstischer, antisozialer und paranoider Akzentuierung vorliegt. Daher stellt sich die Frage, ob er das Unrechtmäßige seines Handelns erkennen und nach dieser Einsicht handeln konnte, oder ob seine verzerrte Realitätswahrnehmung im Rahmen seines ideologischen Denksystems diese Erkenntnis bzw. ein Handeln danach verhindert hat.
  • So ähnlich fing es auch 1968 an…
    • … damals aber noch ohne „social media“. Nicht auszudenken, was heute mit Hilfe von Facebook, Twitter etc. daraus werden kann!
    • Endlich, endlich wachen die jungen Leute wieder auf, wie wir vor 40 Jahren. Wir hatten damals die Nase voll von sozialer Ungerechtigkeit, von unverdienten Privilegien einiger weniger und von Traditionen, die der Unterdrückung unserer Lebensfreude dienten. In ein politisches System, das seine Wurzeln in der Kaiserzeit hatte, das in Spießigkeit erstarrt war und in dem allerorten noch faschistoide Dumpfbackigkeit angesiedelt war, wollten wir frischen Wind bringen. Das ist uns auch gelungen.
  • Von der scheinrationalen Volkswirtschaftslehre zum absurden Finanzkapitalismus
    • Die scheinbare Rationalität der vorherrschenden ökonomischen Theorien beruht auf irrationalen Hypothesen über den Menschen als Wirtschaftssubjekt (ähnlich wie im Fall des Marxismus, nur sind die Irrtümer andere). Falsche Grundannahmen haben zu einem bizarren Theoriegebäude und in der Folge zu einem absurden finanzgesteuerten Kapitalismus geführt. Diese sich mehr und mehr durchsetzende Erkenntnis erläutert der französische Ökonom André Orléan in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk.
  • Zapfenstreich, Mob und Zivilgesellschaft
    • Es war nicht das wesentliche Problem, was im Garten von Schloss Bellevue feierlich zelebriert wurde, sondern das, was draußen geschah. Da lärmte, aufgewiegelt durch einen Tsunami von Skandaljournalismus, der unser Land drei Monate lang überflutete, der moderne Mob.
    • Noch während der gesamten Dauer eines Strafverfahrens ist jeder Verdächtigte oder Beschuldigte als unschuldig zu behandeln. Falls es zu einer Verurteilung kommt, endet die Unschuldsvermutung erst mit deren Rechtskraft. Zudem hat nicht der Beschuldigte seine Unschuld, sondern die Strafverfolgungsbehörde seine Schuld zu beweisen. Das sind wohlerwogene Prinzipien unseres Rechtssystems, die vor ungerechtfertigter Verfolgung, falscher Verdächtigung, Verleumdung oder übler Nachrede – allesamt Straftatbestände – schützen sollen.
    • Der Mob sieht dies von Grund auf anders. Der hält sich mit derlei Feinheiten nicht auf, sondern hat – in seiner Empörungsbereitschaft von den Skandalisierungsmedien hinreichend angestachelt – sein Schuldurteil längst gefällt. Weder berücksichtigt er die genauen Umstände des Verhaltens des Verdächtigten noch dessen Motive. An entlastenden Gesichtspunkten ist er erst gar nicht interessiert. In der Hingabe an seine Gefühlswallungen ist ihm das Prinzip der Verhältnismäßigkeit völlig abhanden gekommen. Entrüstung, Häme und Schadenfreude erfüllen die medienseitig aufgewiegelten Wutbürger und führen zu einer hochgradigen Trübung ihres Erkenntnis- und Urteilsvermögens. Das gilt für die justitiablen Aspekte der Angelegenheit ebenso wie für die nicht-justitiablen, in der Sphäre von Stilfragen angesiedelten.
    • Unsere teilweise Jahrhunderte alten kulturellen Errungenschaften haben gestern versagt. Eine offizielle Verabschiedung eines Bundespräsidenten, mit welchem Zeremoniell auch immer, und mag man von dem Mann halten, was man will, durch massiven Einsatz lärmender Tröten nachhaltig zu stören, zeigt nicht nur eine überaus verrohte Intoleranz, Mitleidlosigkeit und menschliche Kälte, es ist auch eine Form von Gewalt.
  • Das Grass-Gedicht: Was wirklich gesagt wird
    • Die Debatte um das Grass-Gedicht ist vollkommen aus den Fugen geraten. Zahllose Kritiker erheben Vorwürfe, die jedes vernünftige Maß übersteigen. Als Leser steht man oft unter dem Eindruck, es ist nicht der Grass-Text, der kommentiert wird, sondern die durch das Gedicht angeregte ausschweifende Phantasie des Kommentators. Viele Kritiker lassen ihrem Ärger und Zorn über das provokante Werk des Nobelpreisträgers freien Lauf, ohne zu realisieren, wie sie damit einer nachträglichen Rechtfertigung Grass’scher Aussagen nur in die Hände spielen. Für nachdenkliche Zeitgenossen sind solcherart Kritiken, die ihre pauschale Verurteilung des Gedichts und seines Autors häufig noch mit der Keule des Antisemitismus-Vorwurfs anreichern, eine Zumutung.
    • Der Sache angemessen ist allein eine am realen Grass-Text mit seinen zahlreichen Thesen, Behauptungen und Argumenten und an den sonstigen Fakten orientierte differenzierte Interpretation und Beurteilung des Gedichts. Grundlage einer kritischen Analyse muss zunächst der Textgehalt sein – das, was in „Was gesagt werden muss“ tatsächlich gesagt wird. Um dem näher zu kommen und die mühsam verschachtelte (Prosa-) Gedichtform des Literaturnobelpreisträgers lesbarer zu machen, wird der Text hier in einem ersten Schritt zu einer erläuternden und bewertenden Kommentierung zunächst in Prosaform wiedergegeben.
  • „Paradigm Lost“: Ökonomen erkennen Holzweg – zu spät für Europa?
    • Die zunehmenden Warnungen, mit der derzeitigen Euro-Krisenstrategie sei man auf dem Holzweg, sind eingebettet in eine umfassendere Entwicklung mit äußerst weitreichenden Konsequenzen für die weltweite Wirtschafts- und Finanzpolitik: eine sich abzeichnende grundlegende Neuorientierung der Wirtschaftswissenschaften. Angesichts der immensen Bedeutung dieses beginnenden und derzeit aus dem akademischen Raum in den politischen Raum vordringenden Paradigmenwechsels der ökonomischen Wissenschaften wird der Denkraum sich diesem Thema demnächst vorrangig widmen.
    • Als Einführung in die Thematik hier ein kürzlicher Leitartikel von Stephan Kaufmann für die Frankfurter Rundschau, in dem unter dem Titel „Das gescheiterte Weltbild der Wirtschaft“ über eine viel beachtete internationale Konferenz des Institute for New Economic Thinking (INET) mit dem Thema “Paradigm Lost: Rethinking Economics and Politics“ berichtet wird, die im April in Berlin stattfand.
  • Wie halten Sie’s mit der Religion?
    • Gewiss macht es für christlich erzogene Menschen einen wesentlichen Unterschied, ob sie auch als Erwachsene noch gläubig sind, sich also mit den christlichen Glaubensinhalten identifizieren, oder nicht. Wer in der einen oder der anderen Richtung eine klare, eindeutige Position gefunden hat, sei es als gläubiger Christ oder als ungläubiger Atheist, hat diese Haltung vermutlich in sein geistiges und seelisches Leben integriert und ist in diesem Punkt mit sich im Reinen.
    • Wie steht es aber mit der großen Gruppe derjenigen, die nicht so recht wissen, was Sie von Gott und der Religion halten sollen? Die zahlreichen Zeitgenossen, die am christlichen Glauben zwar elementare Zweifel hegen, ihm aber niemals wirklich Lebewohl gesagt haben und die Frage nach ihrem Verhältnis zur Religion am liebsten unbeantwortet in der Schwebe belassen würden? Die vielen Schwankenden, die in ihrer Kindheit und Jugend ganz selbstverständlich in eine christliche Glaubenswelt hineingewachsen sind, sich im Laufe ihrer späteren Entwicklung aber ein rational geprägtes Weltbild angeeignet haben, in dem Jesus Christus und der liebe Gott nur noch schwer einen Platz finden.
    • Für viele Menschen ist es eine selbstverständliche, vertraute Gewohnheit, sich auch dann noch als Christen zu verstehen, wenn ihr Glaube mit ihrer erwachsenen, rational denkenden Persönlichkeit nicht mehr übereinstimmt. Falls auch Sie zu denjenigen gehören, die sich aus alter Gewohnheit als Christ betrachten, die Glaubensinhalte der christlichen Religion jedoch genau genommen nicht mehr für wahr halten, weil ihr Verstand ihnen recht eindeutig sagt, „ein Schmarren, das Ganze“: Würden Sie offen und ehrlich dazu stehen, sich selbst und anderen gegenüber?
  • „Kalter Friede“ in Europa – und die Welt im Griff der Finanzoligarchie
    • Die Bedrohungslage der Zeit des Kalten Krieges wird mit dem heutigen Gefahrenszenario verglichen. Das Klima des Unfriedens ist in Europa heute größer als während des Kalten Krieges. Heute geht die Bedrohung vom Kapitalismus aus. Wir leben in einem Wirtschaftssystem, das außerordentlich fragil geworden ist. Die gegenwärtige Form des finanzmarktdominierten Kapitalismus droht sich selbst zu zerlegen. Das Szenario eines globalen Finanzcrashs ist in gewissem Sinne brisanter als das des Kalten Krieges, in dem zwei verfeindete Weltmächte die Gefahr durch ein „Gleichgewicht des Schreckens“ im Zaum hielten. Heute erwächst die Gefahr aus der Funktionsweise des Systems selbst. Die in die Hände der heutigen Finanzoligarchie geratene globalisierte Wirtschaft ist zu einem Tanz auf dem Vulkan geworden.
  • „Es gibt keine Euro-Krise“ – Der unglaublich naive Euro-Kommentar des DIW-Präsidenten (2)
    • Unter dem Titel „Es liegt nicht am Euro!“ veröffentlichte die „Zeit“ am 9. April 2013 einen Kommentar des seit Februar 2013 amtierenden Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher (42), zur gegenwärtigen Krise Europas. Im ersten Teil meines Artikels „’Es gibt keine Euro-Krise‘ – Der unglaublich naive Euro-Kommentar des DIW-Präsidenten“ habe ich dessen beruflichen Werdegang und die Umstände seiner Wahl geschildert sowie einige frühere Äußerungen des Ökonomen kommentiert. In diesem Teil nehme ich zu der zentralen These seines „Zeit“ – Artikels Stellung.
  • Der Snowden-Coup – die ganze Tragweite in Kurzform
    • Edward Snowden hat die Welt über die Abgründe der bislang unvorstellbaren Ausspähungspraktiken der Geheimdienste aufgeklärt. Dafür gebührt ihm der alternative Nobelpreis. Fassungslos macht einen indes nicht nur das Orwellsche Szenario, in dem wir alle inzwischen leben, sondern auch die abgrundtiefe Dummheit der Geheimdienstorganisatoren, zu glauben, man könnte diese menschenrechtsverachtenden Praktiken angesichts von mehr als 850.000 (nach anderen Quellen 1,4 Millionen) Mitarbeitern von NSA und Co. geheimhalten, die Zugang zur Geheimhaltungsstufe Top Secret haben (nach amerikanischen Medienberichten ein Drittel davon Mitarbeiter von Privatunternehmen).
  • Moderne Lyrik
    • Ein Mensch, modern, kulturerpicht, denkt, „heut schreib ich mal ein Gedicht. Worüber, weiß ich noch nicht recht, doch jedenfalls wird es nicht schlecht.“
    • Denn nach den Plänen dieses Herrn steht eines fest: „ich schreib’s ‚modern‘! Klar, das verlangt Inspiration, doch keine Angst, ich mach‘ das schon.“

(Wird fortgesetzt)

Der mit den coolsten Sprüchen – Führungskultur bei Axel Springer

Mathias Döpfner ist ohne Zweifel ein hochintelligenter Mann. Man erkennt dies mühelos, wenn man sich einige seiner zahlreichen Interviews und Reden auf YouTube anschaut, in denen er sachkundig und höchst eloquent über die Herausforderungen spricht, denen die Medienbranche im Zeitalter der Digitalisierung gegenübersteht.

Und doch hat er, wie die „Zeit“ aufdeckte, in zahlreichen Chatmitteilungen an führende Mitarbeiter politische Überzeugungen offenbart, die einfach unsäglich sind. In drastischer Stammtischmanier verkündet er dort reaktionäre Ansichten voller Pauschalurteile, Entwertungen und Ressentiments, formuliert in einer vulgären, verrohten Sprache.

Einige seiner Äußerungen im Originaltext (nach einer Zusammenstellung der Süddeutschen Zeitung):

  • „…über Ostdeutsche: ‚Meine Mutter hat es schon immer gesagt. Die ossis werden nie Demokraten. Vielleicht sollte man aus der ehemaligen ddr eine Agrar und Produktions Zone mit Einheitslohn machen.‘ Und: ‚Die ossis sind entweder Kommunisten oder faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig.'“
  • „…über ‚M‘, mutmaßlich Angela Merkel, als diese gerade zornig nach Thüringen telefoniert hatte, nachdem dort die CDU mit Hilfe der AfD den FDP-Menschen Kemmerich zum Ministerpräsidenten gewählt hatte: ‚Das Land hat jeden Kompass verloren. Und M den Verstand. Sie ist ein sargnagel der Demokratie. Bald hat die afd die absolute Mehrheit.'“
  • „…über die westliche Welt: ‚free west, fuck the intolerant muslims und all das andere Gesochs.'“
  • „…über seine Kompassnadel und – ja, davon muss man ausgehen – Friedrich den Großen: ‚Mein Kompass geht so: Menschenrechte – keine Kompromisse. Rechtsstaat – zero tolerance … Lebensstil (( was Ficken und solche Sachen betrifft – Fritz zwo: jeder soll nach seiner Fasson (oder facon)…))'“.
  • „…über die Erderwärmung: ‚ich bin sehr für den Klimawandel. Zivilisationsphasen der Wärme waren immer erfolgreicher als solche der Kälte. Wir sollten den Klimawandel nicht bekämpfen, sondern uns darauf einstellen.'“

Wie lässt sich verstehen, dass dieser zweifellos gebildete, promovierte Musik- und Theaterwissenschaftler, der in einer beispiellosen Karriere vom Musikkritiker zum Vorstandsvorsitzenden eines der bedeutendsten Verlagskonzerne Europas aufstieg, den er seit mehr als 20 Jahren überaus erfolgreich führt, der die Firmenerbin Friede Springer derart begeisterte, dass sie ihm ein Aktienpaket im Wert von ca. einer Milliarde Euro schenkte (von der Süddeutschen Zeitung als „größter Enkeltrick der Geschichte“ bezeichnet), wie kann es sein, dass dieser smarte Überflieger gegenüber Führungskräften seines Konzerns derart niveaulose, törichte Überzeugungen vertritt?

Friede Springer, Mathias Döpfner, Kai Diekmann, Julian Reichelt

In seiner in der Bildzeitung veröffentlichten Entschuldigung erklärt Döpfner, es gelinge ihm nicht immer, private Nachrichten im korrekten Ton zu schreiben: „Wenn ich wütend oder sehr froh bin, wird mein Handy zum Blitzableiter. Ich schicke dann manchmal Menschen, denen ich sehr vertraue, Worte, die ‚ins Unreine‘ gesagt oder getippt sind. Weil ich davon ausgehe, dass der Empfänger weiß, wie es gemeint ist.“

Aber auch „ins Unreine getippt“ bleiben es seine Überzeugungen. Und eleganter formuliert wären sie genauso empörend. Herr Döpfner möge uns doch bitte nicht weismachen wollen, die Mitteilungen an seine Buddies im Springer-Führungszirkel entsprächen nicht seinem wirklichen Denken. Eher sind es doch seine an die Öffentlichkeit gerichteten Äußerungen, die „political correct“ angepasst, gefiltert und aufpoliert werden.

Chatmitteilungen des Springer-Chefs an seine leitenden Mitarbeiter, die an Meinungsstärke wahrlich nichts zu wünschen übrig lassen, sind mitnichten rein private Äußerungen. Sie sind Teil der Führungskommunikation mit Ausstrahlung auf die gesamte Führungskultur des Unternehmens. Wenn Döpfner in vertrautem Kreis seine Einstellung zu grundlegenden politischen Vorgängen kundtut, dann lässt er keinen Zweifel daran, wie der Chef denkt. In einem Medienkonzern wie Springer, der seit vielen Jahrzehnten höchst engagiert öffentliche Meinungsbildung betreibt, ist dies von besonderer Brisanz. Die übliche verlegerseitige Zurückhaltung, den Redaktionen keine Vorgaben zu machen, übrigens auch in den Compliance-Regeln des Springer Verlags verankert, wird dadurch konterkariert.

Indes hat sich Mathias Döpfner derlei Zurückhaltung oft gar nicht erst auferlegt. Im letzten Wahlkampf forderte er beispielsweise den damaligen Bild-Chefredakteur Reichelt, angeblich ein Ziehsohn von ihm, in aller Deutlichkeit zur Unterstützung der FDP auf. Sieben Wochen vor der Wahl schrieb Döpfner ihm (laut „Zeit“): „Unsere letzte Hoffnung ist die FDP. Nur wenn die sehr stark wird – und das kann sein – wird das grün rote Desaster vermieden. Können wir für die nicht mehr tun. Die einzigen die Konsequenz gegen den Corona Massnahmen Wahnsinn positioniert sind. It’s a patriotic duty.“ Eine Woche später setzte er nach: „Kann man noch mehr für die FDP machen? Die sollten 16 Prozent mindestens kriegen.“ Und zwei Tage vor der Wahl: „Please Stärke die FDP.“

Wie soll man die Diskrepanz zwischen dem kultivierten öffentlichen Döpfner, Kunstliebhaber und zuweilen Schöngeist, wie man hört, und dem groben, unkultivierten, ordinären Schreiber primitiver, dumpfbackiger Chatmitteilungen an Mitarbeiter interpretieren?

Mich erinnert das Ganze nicht zuletzt an eine Gruppe männlicher Jugendlicher, in denen derjenige die Alpha-Position einnimmt, der die größte Klappe hat und mit den krassesten, coolsten Sprüchen imponiert. Der selbstbewusst gegen das üblicherweise Gebotene verstößt und sich traut, die Regeln von Anstand und geltender Moral zu brechen, was die anderen so nicht wagen. Dieser Anführer prägt aber nun die Kultur der Gruppe.

Vielleicht hat der erfolgsverwöhnte, durch die überaus spendable Schenkung der Gründerwitwe zum Milliardär gewordene Medienmanager, der mit einer Körpergröße von gut zwei Metern den überwiegenden Teil seiner Mitmenschen deutlich überragt, das Gefühl eingebüßt, sich rechtfertigen zu müssen, sei es gegenüber den Mitarbeitern oder dem handverlesenen Aufsichtsrat.

Es ist jedenfalls absolut inakzeptabel, wenn der Vorstandvorsitzende eines bedeutenden Medienhauses seinen leitenden Mitarbeitern und Redakteuren Denkweisen und Wertmaßstäbe vorlebt, wie sie eher für rechtspopulistische Kreise charakteristisch sind: Einstellungen, mit denen ganze Menschengruppen pauschal entwertet und gesellschaftliche Feindbilder geschürt werden.

Derartige Gesinnungen werden in der Soziologie als „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ bezeichnet. Zu deren Symptomen zählt übrigens nicht zuletzt Sexismus.

Ergänzungen am 21.04.2023

Man mache sich bewusst, in welch sensiblen Feld sich diese Affäre bewegt. Mathias Döpfner kontrolliert und führt ein Medienunternehmen, das mit großer Reichweite und großem Einfluss öffentliche Meinungsbildung betreibt. Der von den Presseorganen des Springer Verlags, allen voran der Bildzeitung, ausgeübten gesellschaftlichen Meinungsmacht sollte auf Seiten der Journalisten, vor allem aber auch des Verlegers, eine an den Grundsätzen der Medienethik orientierte Verantwortungshaltung entsprechen. Der Springer-Chef wäre gut beraten, bei seinen führenden Mitarbeitern und Chefredakteuren ein Bewusstsein für die ethische Dimension journalistischen Handelns zu wecken. Stattdessen flüstert er ihnen, seiner offenkundigen Lust am Tabubruch frönend, als Scharfmacher Parolen ein, die den beklagenswerten gesellschaftlichen Trend einer regressiven Entzivilisierung befeuern.

Am Ende seiner „Entschuldigung“ in der Bildzeitung spricht Mathias Döpfner die Lehren an, die er aus der Tatsache zieht, dass die an Personen seines Vertrauens „ins Unreine getippten“ Worte weitergegeben wurden. Eine dieser Lehren bleibe „die Idee von der ‚Gedankenfreiheit‘“.

Dieser Einfall Döpfners zeigt einmal mehr, wie schräg, wie exzentrisch der Springer-Chef denkt. Der Verweis auf die Idee von der „Gedankenfreiheit“ passt in seinem Fall doch gar nicht. Selbstredend kann Herr Döpfner jederzeit denken, was er will, doch hier geht es um seine Kommunikation mit ihm unterstellten Führungskräften, denen er mitteilt, wie und was er denkt. Dass dies in einer auf Vertraulichkeit angelegten Kommunikation geschieht, macht deren Einfluss auf die Adressaten nur umso wirkungsvoller.

Um deutlich zu machen, wie verstiegen der Verweis auf „Gedankenfreiheit“ im Fall Döpfner ist, zitiere ich zwei Beispiele, die Wikipedia zur historischen und politischen Bedeutung des Liedes „Die Gedanken sind frei“ anführt.

„Immer wieder war das Lied in Zeiten politischer Unterdrückung oder Gefährdung Ausdruck für die Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit.
Der Vater Sophie Scholls, Robert Scholl, wurde Anfang August 1942 wegen hitlerkritischer Äußerungen inhaftiert. Sophie Scholl stellte sich abends an die Gefängnismauer und spielte ihrem dort einsitzenden Vater auf der Blockflöte die Melodie vor.
Auch in der tagespolitischen Auseinandersetzung gegen staatliche Überwachung und Restriktion wird das Lied häufig gesungen. 1989 wurde während der friedlichen Revolution in der DDR das Lied von Mitgliedern der Dresdner Staatskapelle auf dem Theaterplatz in Dresden gespielt und von tausenden Demonstranten mitgesungen. Es war ein ergreifender Höhepunkt der damaligen historischen Ereignisse.“

Das sind die Kontexte, in die der Begriff Gedanken- oder Meinungsfreiheit gehört.

Mathias Döpfner sei die zweite Strophe des Liedes ans Herz gelegt:

Ich denke, was ich will,
und was mich beglücket,
doch alles in der Still,
und wie es sich schicket.

Mein Wunsch und Begehren
kann niemand verwehren,
es bleibet dabei:
die Gedanken sind frei.

Außerdem:
  • Kommentare der Spiegel-Journalisten Markus Feldenkirchen und Sabine Rennefanz – Der Spiegel, 14.04.2023
  • Der allerschönste GrößenwahnLaura Hertreiter und Willi Winkler – Süddeutsche Zeitung, 14.04.2023
    • „Es gehörte immer zum Geschäftsmodell des Medienimperiums Springer, die Würde des Menschen anzutasten. Aber mit seinen internen Botschaften hat Mathias Döpfner die Abgründe jetzt noch einmal klar sichtbar gemacht.“
  • Die «Zeit» wollte Mathias Döpfner blossstellen und hat sich blamiert Marc Felix Serrao – Neue Zürcher Zeitung, 17.04.2023
    • „Der viel zitierte Bericht der Hamburger Wochenzeitung über den CEO von Axel Springer illustriert, wie ein Medium durch einen Mangel an Distanz und Differenziertheit zum Spielball von Informanten werden kann. Das Ergebnis ist schlechter, unfairer Journalismus.“
    • Denkraum-Kommentar: Der Deutschland-Chef der NZZ bemüht sich wacker, dem Springer-Chef zur Seite zu eilen. Im Wesentlichen bezweifelt er, dass Döpfners Chatmitteilungen dessen tatsächliches Denken wiedergeben, da der Kontext des Dialogs unbekannt ist, in dem die Äußerungen stattgefunden haben. Jeder mag selbst entscheiden, für wie stichhaltig er diese Begründung hält. Die weiteren Argumente des Schweizer Journalisten sind derart weit hergeholt, dass sie keinesfalls überzeugen können.
  • Der Fairness und Vollständigkeit halber soll hier auch ein Beispiel für den „anderen Döpfner“, den erfolgreichen, weitsichtigen Medienmanager verlinkt werden.

Agitation mit verdeckter Strategie: das „Friedensmanifest“ Alice Schwarzers und Sahra Wagenknechts

Schulter an Schulter stehen sie da, die beiden Ikonen des Feminismus und der bundesdeutschen Linken, um ihren Widerstand gegen einen (männlich geprägten?) Mainstream in der Debatte um den richtigen Weg Deutschlands im Ukrainekrieg zu artikulieren.

Politische Krisen sind die Zeit der Manifeste. Intellektuelle und Prominente aller Couleur melden sich mit Thesen, Appellen und offenen Briefen zu Wort, um den gesellschaftlichen Diskurs im Kampf um die öffentliche Meinung in ihrem Sinn zu beeinflussen. Das ist grundsätzlich zu begrüßen: Wenn alternative Sichtweisen und Argumente vorgetragen werden und beispielsweise auf Aspekte aufmerksam gemacht wird, die im öffentlichen Diskurs unterbelichtet sind, wird das Problembewusstsein der Bevölkerung erweitert, und es können tiefergehende Reflexionsprozesse angeregt werden. Der gesellschaftliche Meinungsbildungsprozess kann so wertvolle Impulse erhalten.

In manchen Fällen arbeiten die Deklarationen prominenter Mitbürger allerdings mit den Mitteln der Agitation und Demagogie. Ein bedauerliches, aber treffendes Beispiel dieser Art der Einflussnahme ist das „Manifest für Frieden von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht. Die beiden Friedensaktivistinnen setzen auf Polarisierung, Emotionalisierung, Vereinfachung und Suggestion. Sachliche Abwägungen oder gar die Berücksichtigung anderer Sichtweisen und Argumente fehlen. Es geht allein darum, Verunsicherung zu verbreiten und die reichlich vorhandenen Ängste der Bevölkerung nach Kräften zu schüren.

Schauen wir uns den Verlauf der Argumentation näher an. Zu Beginn ihres Statements führen die beiden Friedensstreiterinnen den ganzen Schrecken dieses Krieges noch einmal vor Augen und weisen auf die Ängste der Menschen in ganz Europa hin, er könne sich ausweiten. Andererseits lassen sie keinen Zweifel daran, dass „die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung“ unsere Solidarität braucht. Aber, so fragen sie im gleichen Zuge, „was wäre denn jetzt solidarisch?“ Sie öffnen unseren Blick dafür, dass es grundsätzlich eine offene Frage ist, auf welche Weise wir unsere Solidarität zeigen wollen und worin sie bestehen soll. Soweit, so gut. Oder verfolgen die Damen mit dieser Frage noch eine andere, verdeckte Agenda? Wir werden sehen.

Sie stellen sodann noch zwei weitere Fragen in den Raum: „Wie lange noch soll auf dem Schlachtfeld Ukraine gekämpft und gestorben werden?“ Und vor diesem Hintergrund: Was ist jetzt eigentlich das Ziel des Krieges, ein Jahr nach dessen Beginn? Präsident Selenskij jedenfalls mache aus seinem Ziel kein Geheimnis: Er fordere jetzt Kampfjets, Langstreckenraketen und Kriegsschiffe – „um Russland auf ganzer Linie zu besiegen?“ So wird es, wenn auch mit einem Fragezeichen versehen, nahegelegt. Dann aber wäre nicht nur Putin, sondern auch Selenskij der Kriegstreiber!

Nun fahren die beiden Aktivistinnen beim Ängsteschüren ein schweres Geschütz auf: Spätestens bei einem Angriff auf die Krim, so sei zu befürchten, werde Putin „zu einem maximalen Gegenschlag“ ausholen. Dieser Einfall ist merkwürdig, denn tatsächlich steht ein Angriff auf die Krim weder bevor noch überhaupt zur Debatte. Allen einigermaßen realpolitisch denkenden Beobachtern, Herrn Selenskij eingeschlossen, ist klar, dass die Ukraine die Krim eben wohl nicht zurückerhalten wird.

Die Befürchtung der beiden Putinversteherinnen sollte denn auch lediglich dazu dienen, einen weiteren Teufel an die Wand zu malen: Unaufhaltsam könnten wir so „auf einer Rutschbahn“ in einen Weltkrieg und Atomkrieg schlittern. Schließlich wäre es „nicht der erste große Krieg, der so begonnen hat“. Aber, dieser Hinweis darf nicht fehlen, „es wäre vielleicht der Letzte“.

In ihrer grundsätzlichen militärischen Lagebeurteilung sind sich beide Damen sicher: Zwar könne die Ukraine, unterstützt durch den Westen, einzelne Schlachten gewinnen, nicht aber einen Krieg gegen die größte Atommacht der Welt. Auch General Milley, der höchste militärische Befehlshaber der USA, spreche „von einer Pattsituation, in der keine Seite militärisch siegen und der Krieg nur am Verhandlungstisch beendet werden kann“. „Warum dann nicht jetzt, sofort!“ beeilen sich Schwarzer und Wagenknecht zu fordern – und blenden aus, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinerlei Bereitschaft zu Verhandlungen besteht, auf beiden Seiten.

Aber sie hatten ja ausdrücklich offen gelassen, was denn jetzt solidarisch wäre, worin zum gegenwärtigen Zeitpunkt unsere Solidarität mit der Ukraine bestehen sollte. Hier kommt nun die verdeckte Argumentationsstrategie der beiden Friedensstifterinnen ins Spiel. Wenn die Ukrainer nicht verhandeln wollen, weil es das Ziel von Präsident Selenskij ist, „Russland auf ganzer Linie zu besiegen“, dann müssen eben die Waffenlieferungen des Westens gestoppt werden. Die unausgesprochene Schlussfolgerung: Dann wird die Ukraine gezwungen sein zu verhandeln.

„Verhandeln“, wird Selenskij ins Stammbuch geschrieben, bedeute ja nicht „Kapitulieren“, sondern Kompromisse schließen, auf beiden Seiten. Mit dem ehrenwerten Ziel, weitere Hunderttausende Tote und Schlimmeres zu verhindern. So definieren die beiden Damen den rechten Weg für die Ukraine, und so denke auch die Hälfte der deutschen Bevölkerung. Daher sei der Kanzler jetzt in die Pflicht zu nehmen und an seinen Schwur zu erinnern, Schaden vom deutschen Volk zu wenden. „Jetzt“, unverzüglich, müsse er die Eskalation der Waffenlieferungen stoppen.

Denn darin, das ist die gemeinsame Botschaft der Linken und der Feministin, besteht die wahre Solidarität mit der Ukraine. Wenn man die empfohlene Strategie zuende denkt, kann man es nur als perfide empfinden, sie als Solidarität mit der Ukraine verkaufen zu wollen. Und übrigens: so denkt die Hälfte der deutschen Bevölkerung mitnichten!

Außerdem:

ChatGPT, schreibe einen passenden Text für „Denkraum“

„Der Blog Denkraum auf WordPress.com bietet eine Plattform für tiefgründige Gedanken und Analysen. Hier finden Leser Artikel zu einer Vielzahl von Themen, die dazu anregen, über den Tellerrand hinauszublicken und neue Perspektiven zu entwickeln. Ob es um gesellschaftliche Themen, politische Analyse oder um persönliche Reflektionen geht, der Blog „Denkraum“ regt zum Nachdenken an und lädt seine Leser ein, Teil einer Community zu werden, die sich für Tiefe und Verständnis einsetzt.“

Viel besser hätte ich es auch nicht sagen können…

Außerdem:

Die anmaßenden Promi-Mahnungen an Olaf Scholz

Da schreiben 28 Prominente – „Intellektuelle und KünstlerInnen“ – einen Offenen Brief an den sehr geehrten, später gar „sehr verehrten“ Herrn Bundeskanzler. Einen Brief, in dem sie ihn für seine Besonnenheit loben, mit der er in der Vergangenheit die Risiken bedacht habe, die der Ukraine-Krieg mit sich bringt: die Risiken einer Ausweitung auf ganz Europa, auch eines 3. Weltkrieges, ja sogar „das Risiko der Ausbreitung des Krieges innerhalb der Ukraine“ selbst. Man hoffe nun – offenbar angesichts der jüngst zugesagten Lieferung von Gepard-Panzern – der Kanzler werde sich wieder „auf seine ursprüngliche Position besinnen und nicht, weder direkt noch indirekt, weitere schwere Waffen an die Ukraine liefern“. Man bitte ihn „im Gegenteil dringlich, alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können“.

Schon hier wird die bemerkenswerte Naivität der besorgten Promis deutlich: Es wird ein Gegensatz konstruiert zwischen den Waffenlieferungen und den Bemühungen um einen Waffenstillstand. Dieser Gegensatz existiert nicht. Dass eine militärisch gestärkte Ukraine den Tyrannen im Kreml eher kompromissbereit macht als eine schwache, das vermögen sich die Autoren offensichtlich nicht vorzustellen.

Zwar konzedieren sie „eine prinzipielle politisch-moralische Pflicht (…), vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen“. Das habe aber „Grenzen in anderen Geboten der politischen Ethik“ (man merkt, hier formulieren Intellektuelle), und zwei dieser Grenzen seien jetzt erreicht. Zum einen „das kategorische Verbot, ein manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen. Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen könnte (…) Deutschland selbst zur Kriegspartei machen“. Daraufhin könnte „ein möglicher russischer Gegenschlag (…) den Beistandsfall nach dem NATO-Vertrag und damit die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs auslösen“.

Unabhängig davon, ob der Kremlchef die völkerrechtliche Zulässigkeit von Waffenlieferungen an die Ukraine respektiert, wird dieses Szenario nicht eintreten. Warum sollten Putin, seine Freunde und Komplizen – der smarte Herr Medwedjew zum Beispiel oder die Oligarchen, die Milliardäre und Yachtbesitzer, all die Reichtumstreber und Lebemänner, warum sollte diese russische Führungsclique herbeiführen, ihr Leben unter den Bedingungen eines Weltkriegs fortzusetzen? Das ist absurd.

Natürlich drohen sie mit ihren Atomraketen, denn derartige Drohungen sind eine einfach zu handhabende, zudem kostenlose Waffe, die im Westen als scharfes Schwert wahrgenommen wird. Diese Wirkung entfaltet sie aber nur dann, wenn sie bei uns verfängt. In dem Moment, in dem wir die Andeutung eines atomaren Weltkriegs als leere Drohung wahrnehmen und uns davon nicht in Angst und Schrecken versetzen lassen, wird das Schwert stumpf.

Sodann begeben sich die Prominenten in ihrem Appell in die Untiefen der Moralphilosophie. Die zweite jetzt erreichte Grenzlinie, so erklären sie, sei „das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung“. Irgendwann stehe „der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor (…) dazu in einem unerträglichen Missverhältnis.“

Und es sei eben ein Irrtum, „dass die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren ‚Kosten‘ an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit (der ukrainischen) Regierung“ falle, denn: „Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur“, also allgemeingültig. Will heißen: Auch der deutsche Bundeskanzler steht dafür mit in der Verantwortung.

Im Klartext: „Scholz, es ist Deine moralische Pflicht, dem Selensky klar zu machen, in diesem Krieg gibt es einfach zu viel zivile Tote! Die wiegen schwerer als das Interesse der Ukrainer, ihr Land zu verteidigen.“

Es sind aber nicht Betroffene aus der ukrainischen Zivilbevölkerung, die ihrer Regierung dies zu bedenken geben – hier appellieren deutsche Intellektuelle, nur aus dem Fernsehen mit dem Geschehen vertraut, an den deutschen Bundeskanzler, in diesem Sinne zu intervenieren. Welch eine Anmaßung!

Die Begründung und Geltung moralischer Normen wird von den Ethikern durchaus unterschiedlich gesehen, was Gegenstand tiefgehender Debatten innerhalb der betreffenden Fachdisziplin ist, der Metaethik. Ob die von den 28 Prominenten postulierte moralische Norm im Fall des Ukrainekriegs einschlägig wäre und handlungsleitend sein sollte, dürfte auch unter Experten strittig sein. Darauf aber auch unseren Bundeskanzler moralisch verpflichten zu wollen, das fällt gewiss nur deutschen Intellektuellen ein.

Außerdem:

  • Inzwischen gibt es einen zweiten Offenen Brief an den Bundeskanzler. Intellektuelle um den Publizisten Ralf Fücks plädieren für die kontinuierliche Lieferung von Waffen an die Ukraine..
  • Der Offene Brief der 28 Prominenten löste ein breites, überwiegend sehr kritisches Echo aus.
  • Der wohl eindrucksvollste Kommentar stammt von dem Hamburger Musiker und Autor Wolfgang Müller. Unter der Überschrift „Ukraine: Der offene Brief in der “Emma” und warum “Aufrüstung ja oder nein” die falsche Frage ist“ veröffentlichte er ihn zunächst in seinem eigenen Blog, bevor er von anderen Medien verbreitet wurde, u.a. von Spiegel Online.
  • Genau genommen ist es weit mehr als ein Kommentar, vielmehr eine sehr persönliche, authentische, differenzierte und kluge Reflexion über die innere Haltung, die wir zum Krieg Putins gegen die Ukraine einnehmen sollten. Mit einer Verneigung vor dem Verfasser dokumentiert der Denkraum die wichtigsten Auszüge aus dem Text.

„(…) Bei der Frage, ob wir aufrüsten müssen, oder Waffen an die Ukraine liefern, rückt die eigentliche Frage völlig in den Hintergrund – nämlich die, wer wir sein wollen. Wie wir leben wollen: In Angst oder in Würde.

Was mit der Ukraine passiert, ist das staatliche Äquivalent zu einer Vergewaltigung durch den Ex-Mann, mit angedrohter Vernichtung bei Gegenwehr. Dass ausgerechnet eine Feministin wie Alice Schwarzer vor diesem Hintergrund die Empfehlung ausspricht, lieber nicht zu arg zu helfen, um dem Gewalttäter keinen Vorwand für einen dritten Weltkrieg zu liefern, respektive das Vergewaltigungs-Opfer als mitverantwortlich für einen drohenden Massen-Mord durch seine provozierende Gegenwehr zu brandmarken, ist zumindest bemerkenswert. Insbesondere, da es eine bedeutende Zahl tatsächlicher Vergewaltigungen in diesem Krieg gibt.

Auch wenn in diesem offenen Brief auf das Leid der ukrainischen Zivilgesellschaft referenziert wird, das enden sollte (als ob es das nach einer Kapitulation tun würde), scheint die Hauptangst die um das eigene Wohlergehen zu sein. Salopp formuliert: Schatz, mach lieber die Beine breit, sonst schlachtet er dich und unsere ganze Familie ab.

Der wohl perfideste Satz in diesem Brief ist die Warnung vor dem “Irrtum, dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern.” Das ist Täter-Opfer-Umkehr in Reinkultur.

Dazu kommt: Die Idee, dass durch angstvolles Agieren diese Bedrohung abgewendet werden könnte, ist völlig absurd. In russischen Medien, und auch von russischen Offiziellen wird schon seit einiger Zeit Deutschland als Nazi-regiert dargestellt, angefangen von angeblichen Biowaffen Laboren vom Bernhard-Nocht-Institut in der Ukraine bis hin zu der Behauptung, der 2. Weltkrieg hätte nie aufgehört und Deutschland wäre nach wie vor ein faschistisches Land. Es liegt also offen auf der Hand, dass wir als legitimes Angriffsziel markiert werden, völlig unabhängig davon, wie wir uns verhalten oder nicht. Und zwar einzig und alleine aus dem Grund, weil wir als demokratisches und wirtschaftlich mächtigstes Land der EU das größte Hindernis für eine russische Dominanz auf dem eurasischen Kontinent darstellen. Wir könnten uns gar nicht so sehr verzwergen, um nicht aus dem Weg geräumt werden zu müssen für russische Großmachtsfantasien.

Von Anfang an war der Krieg in der Ukraine von Russland in mehreren Aussagen der russischen Führung als Auftakt zu einem Krieg gegen den Westen definiert. Dieses Ziel wird nicht verschwinden, wenn wir hundert Mal erklären, dass wir wirklich keine Bedrohung sein wollen und auf gar keinen Fall einen Atomkrieg möchten. Und ganz sicher nicht, wenn wir uns auf den Boden legen, unseren Bauch zeigen und klar signalisieren, dass wir uns nicht wehren werden, egal was passiert.

Die brennende Angst, dass man selber Opfer werden könnte, muss umgewandelt werden in die klare, aber ruhige Erkenntnis, dass man längst ein markiertes Ziel ist und diese Markierung auch durch noch so viel Appeasement nicht abwaschen kann. Die Frage, ob die Unterzeichner dieses offenen Briefs auch dann noch unterschreiben würden, wenn nicht Kiew sondern Berlin bombardiert werden würde, und die reale Gefahr der Vergewaltigung und Auslöschung der eigenen Familie, der eigenen Kinder besteht, sei mal dahin gestellt. Ich habe meine Zweifel, dass Juli Zeh dann einen Brandbrief an die Amerikaner schreiben würde, lieber nicht einzugreifen, weil sonst alles nur viel schlimmer werden würde. (…)

Wer die Lieferung schwerer Waffen zur reinen Landesverteidigung für Leib und Leben gegen einen übermächtigen Aggressor als Eskalation brandmarkt, hat jeden moralischen Kompass verloren. Man darf sagen, dass man eine Heidenangst vor der eigenen Courage hat, ja. Man darf auch sagen, dass man lieber feige und lebendig als mutig und tot wäre, auch das ist nachvollziehbar und menschlich. Man sollte es aber nicht als friedliebenden Pazifismus verkaufen, denn de facto wäre das in diesem Fall ein Kotau vor dem Recht des Stärkeren, oder wie Desmond Tutu sagte: “Wenn du in Situationen der Ungerechtigkeit neutral bist, hast du die Seite des Unterdrückers gewählt.” Das kann realpolitisch manchmal notwendig sein, aber sollte ganz sicher nicht zur Handlungsmaxime erhoben werden.

Darüber hinaus: Wer sich hinstellt und sagt, dass der Krieg mit Waffenlieferungen nur verlängert werden würde, verkennt, dass es sich vermutlich genau umgekehrt verhält: Wer zu erkennen gibt, dass er sich niemals wehren wird, ist ein attraktives Ziel.

Ich habe große Angst, dass der Krieg sich ausbreitet, und wir wirklich einen dritten Weltkrieg erleben. Aber noch größere Angst habe ich davor in einer Welt zu leben, in der Demokratien aus Angst vor Faschisten die Segel streichen. Die Drohung mit Atomwaffen ist so entsetzlich, dass sie gleichzeitig irrelevant wird. Wie der Tweet, den Sascha Lobo schon in seinem hervorragenden Essay zum Lumpenpazifismus zitierte, ausdrückt: “Weil wir nicht genau wissen, was Russland alles als Kriegserklärung verstehen könnte, habe ich mich entschieden die Spülmaschine heute nicht auszuräumen.” Wenn Russlands Drohung, Atomwaffen einzusetzen, einmal Wirkung zeigt, wird sie immer wieder ausgesprochen werden, und früher oder später wird der Punkt kommen, an dem man es drauf ankommen lassen muss, will man nicht alles verlieren. Dann besser jetzt. Es ist meiner Meinung nach keine Alternative, zurückzuweichen, denn das Endziel ist erklärtermaßen die Vernichtung der freien Welt.

Womit wir wieder bei der Ursprungsfrage wären: Wie wollen wir leben? Und im Zweifel – wie wollen wir sterben? Für alle in Westdeutschland aufgewachsenen Menschen erschien diese Frage lange Zeit reserviert für billige Filmplots, aber tatsächlich stellt sich diese Frage für sehr viele Menschen auf der Welt jeden Tag. Israel wird seit seiner Gründung durchgehend mit Vernichtung gedroht. Warum sollten wir davon ausgenommen sein? Warum sollte es uns besser ergehen als den Ukrainern? Wir haben uns daran gewöhnt, dass die quälendste Frage lautet, wohin wir wohl dieses Jahr in den Urlaub fliegen und ob wir 2 oder 4 Prozent Wirtschaftswachstum haben. Dass der Tag kommen könnte, an denen man tatsächlich etwas für seine Ideale opfern müsste, für Freiheit, für Selbstbestimmung, kommt uns völlig fremd vor. Fast schon peinlich möchtegern-heroisch.

Wir sind den Umgang mit Fanatikern nicht mehr gewohnt, und das macht die Situation so gefährlich. Viele denken, mit einem guten Gespräch und einem dicken Scheckbuch lässt sich eigentlich jedes Problem lösen, mit ausreichend gutem Willen, und können sich nicht mehr vorstellen, dass es Menschen gibt, die tatsächlich weder an Schecks noch an Gesprächen interessiert sind, sondern ausschliesslich an Ideologie, Dominanz und Gewalt. Die keinen Ausgleich wollen, sondern einen totalen Sieg. Mit jemandem, dessen erklärtes Ziel die Vernichtung der Gegenseite ist, lässt sich schwerlich verhandeln. Und der kann auch nicht mit Zurückhaltung besänftigt werden. (…)

“Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren.” Und wenn man das einmal wirklich in letzter Konsequenz begriffen hat, fällt die Entscheidung, was man tun sollte, nicht mehr schwer.“

„Die Fehler des Westens“ – Panorama-Beitrag zum Ukraine-Konflikt

Aus Anlass der gegenwärtigen Zuspitzung des Konflikts zwischen Russland und dem Westen um die Ukraine hier noch einmal ein äußerst aufschlussreicher Panorama-Beitrag aus dem Januar 2015,

„Wer umzingelt hier eigentlich wen?“ war die Ausgangsfrage von Moderatorin Anja Reschke, und neben den früheren Außenministern James Baker (USA) und Alexander Bessmertnych (Russland) konnten sich so vernünftige Leute dazu äußern wie der ehemalige Genscher-Mitarbeiter und Spitzendiplomat Wolfgang Ischinger, Kohl-Berater Horst Teltschik („Wir haben viele Chancen verschlafen“) und – mit bemerkenswerter Offenheit – der frühere Nato-General Harald Kujat. Sehenswert!

Außerdem:

… mal wieder ein wenig Lyrik

Mein Phänomen

Wir Menschen lieben klare Sachen,
wir streben nach Eindeutigkeit.
Ein sich’res Bild will man sich machen,
das einfach, nützlich und gescheit.

Dem keine Zweifel innewohnen,
das wahr von falsch trennt, gut von schlecht,
sich fügt in unsere Denkschablonen
und ist stets völlig sachgerecht.

Wie anders nun mein Phänomen…

Es lässt sich kaum beschreiben –
ach, könntest Du ’s doch einmal sehen
in seinem bunten Treiben.

Das Phänomen bewegt sich viel,
leicht wie ein Schwalbenschwanz.
Oft wechselt es dabei sein Ziel –
ein Schmetterling im Tanz.

Es hat dies jugendliche Flair,
irgendwie alterslos.
Kommt meistens eher leger daher,
bisweilen burschikos.

Ein zarter Hauch von Anarchie
umweht den bunten Falter,
beflügelt sanft die Phantasie
in jedem Blütenalter.

Wenn, sollte sich das so ergeben,
es mal in Deine Nähe schwebt,
wie würde es Dich gleich beleben –
auf’s Feinste wärst Du angeregt.

Gefühle, die Du längst vergraben,
sie blühten plötzlich wieder auf.
Ein Jungbrunnen für ält’re Knaben?
Vielleicht. Du wärst verdammt gut drauf…

Ihr habt nun manches schon verstanden
von mir und meinem Phänomen.
Ich hoff‘, es kommt mir nicht abhanden,
ich möcht‘ es gern bald wiedersehen.

Doch lebt es schrecklich weit entfernt
von dort, wo ich jetzt wohne.
Falls Ihr es einmal kennenlernt,
in Köln, grüßt mir _ _ _.

M.W.

Nachtrag 2023

Leider ging die Sache nicht gut aus. Sie bewegte sich in einem emotionalen Feld, in dem sich schließlich auch Dritte von ihr affiziert fühlten. Nun kamen Wettbewerb, Macht und Schuldzuweisung ins Spiel. Dem waren die Protagonisten nicht gewachsen. Sie wünschten sich viel Glück und sagten sich adé…

Klimakatastrophe unabwendbar, allenfalls zu verlangsamen

Es ist die Inventur der Klimaforschung, und ihr Ergebnis fällt erschütternd aus: Alle sechs Jahre werten Forscherinnen und Forscher aus der ganzen Welt die wissenschaftlich relevanten Studien zum Klimawandel aus. In dem an diesem Montag veröffentlichten ersten Teil des sechsten Sachstandsberichts hat der Uno-Weltklimarat erneut eine Prognose für die Zukunft abgegeben – sie ist präziser als die vorherige und hält schlechte Nachrichten parat.

Demnach könnte der Anstieg der globalen Mitteltemperatur von 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau bereits früher erreicht werden als bisher angenommen. Mit einer hohen Wahrscheinlichkeit wird damit das im Pariser Klimaabkommen festgehaltene Erwärmungslimit bereits in den frühen Dreißigerjahren erreicht, heißt es in dem ersten Teilbericht. In dem Uno-Abkommen haben sich die Staaten verpflichtet, die weltweite Erwärmung gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter auf deutlich unter zwei Grad, »möglichst« sogar unter 1,5-Grad zu halten. Je nach Szenario werden die 1,5-Grad aber bis allerspätestens 2040 überschritten.

Allein für den ersten Teilbericht des aktuellen IPCC-Reports werteten die Forscher Tausende Klimastudien aus. Die Datenmenge ist so hoch, dass der Uno-Weltklimarat den Stand der Klimaforschung in drei Arbeitsgruppen abhandelt.

Im IPCC-Sonderbericht von 2018 hieß es noch, dass die 1,5 Grad zwischen 2030 und 2052 eintreten würden, wenn der Ausstoß von Treibhausgasen nicht drastisch reduziert werde – die Zeitspanne war also noch deutlich größer.

aus Spiegel Online, 09.08.2021

Sie wussten es alle – und führten uns sehenden Auges in die Katastrophe.

Wen wählen? Natürlich diejenigen, die nicht die Augen verschlossen, sondern die Zeichen seit langem erkannt und unermüdlich gewarnt haben. Auch wenn die Journaille sie jetzt wg. Petitessen madig zu machen versucht.

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„Die Küche brennt, aber den Rest des Hauses könnten wir durchaus noch retten – wenn wir endlich handeln. Gegen das, was bevorsteht, wenn wir nichts tun, ist die Pandemie, in all ihrer Schrecklichkeit, ein Hickser der Menschheitsgeschichte. (…)

Um es mit Uno-Generalsekretär António Guterres zu sagen: »Der Bericht muss die Totenglocke für Kohle und andere fossile Brennstoffe sein, bevor sie unseren Planeten zerstören.« Die derzeitige Bundesregierung möchte gern noch 17 weitere Jahre lang Kohle verfeuern lassen. Also über den Zeitpunkt hinaus, zu dem wir dem IPCC zufolge bereits 1,5 Grad Erderhitzung überschritten haben werden.

Die Küche brennt, der Flur ist voller Qualm, er erreicht bald die Kinderzimmer. Die Bundesregierung kippt noch ein bisschen Sprit in den Flur.

Die Eltern sind noch längst nicht wütend genug.“

Spiegel Online, 15.08.21

Katholische Kirche: Endlich ein Paukenschlag!

In einem Schreiben vom 21. Mai 2021 hat Reinhard Kardinal Marx, Erzbischof von München und Freising, Papst Franziskus gebeten, seinen Rücktritt vom Amt des Erzbischofs anzunehmen. Er wolle mit diesem Schritt Mitverantwortung übernehmen „für die Katastrophe des sexuellen Missbrauchs durch Amtsträger der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten“.

Seinem Eindruck nach sei die Kirche an einem „toten Punkt“. Die Krise sei auch „durch unser eigenes Versagen, durch unsere Schuld“ verursacht. „Durch Schweigen, Versäumnisse und zu starke Konzentration auf das Ansehen der Institution“ empfinde er persönliche Schuld und Mitverantwortung.

Es habe jedoch „auch institutionelles oder ’systemisches‘ Versagen“ gegeben. Manche in der Kirche wollten „gerade dieses Element der Mitverantwortung und damit auch Mitschuld der Institution nicht wahrhaben“ und stünden deshalb „jedem Reform- und Erneuerungsdialog im Zusammenhang mit der Missbrauchskrise ablehnend gegenüber“. Mit seinem Amtsverzicht wolle er „ein persönliches Zeichen“ setzen „für neue Anfänge, für einen neuen Aufbruch der Kirche“.

In einer persönlichen Erklärung anlässlich der vom Papst genehmigten Veröffentlichung seines Rücktrittsschreibens fügt der Kardinal hinzu, als Bischof trage er „eine institutionelle Verantwortung für das Handeln der Kirche insgesamt, auch für ihre institutionellen Probleme und ihr Versagen in der Vergangenheit“. Mit Sorge sehe er in den letzten Monaten eine Tendenz, „die systemischen Ursachen (…) auszuklammern und die Aufarbeitung auf eine Verbesserung der Verwaltung zu reduzieren“. Es gehe jedoch „mehr noch um die Frage nach einer erneuerten Gestalt der Kirche und eine neue Weise, heute den Glauben zu leben und zu verkünden“.

Nach dem unwürdigen Schauspiel, das der Kölner Kardinal Woelki seit Wochen der Öffentlichkeit darbietet, ist dieser mutige Schritt von Kardinal Marx, der weit über die katholische Kirche hinaus hohes Ansehen genießt, ein Paukenschlag! Mit seinem Rücktrittsgesuch lenkt der Kardinal die Aufmerksamkeit auf die kollektive Verantwortung der Kirche als Institution und somit auch der Amtsträger, die diese Institution in den vergangenen Jahrzehnten geführt haben, ohne die Katastrophe des Missbrauchs zu verhindern oder zumindest umfassend aufzuarbeiten. Marx‘ Rücktritt könnte das Potenzial haben, endlich die überfälligen, grundlegenden Reformen dieser unzeitgemäßen und hochproblematischen Institution Katholische Kirche anzustoßen.

Die ganze Krux dieser Kirche erkennt man indes an der von Marx verwendeten Grußformel seines Schreibens an „Seine Heiligkeit“: „Oboedientia et Pax und oremus pro invicem“, also „Gehorsam und Friede und beten wir für einander“, und dann abschließend noch einmal „Ihr gehorsamer…“

Wie in allen Institutionen, in denen Gehorsam oberstes Gebot ist, in diesem Fall Gehorsam gegenüber einem lebensfremden, bigotten Regelwerk, gestützt durch eine streng hierarchische Ordnung, blüht auch in der Katholischen Kirche unter der Decke der Ungehorsam, bricht sich das Unterdrückte Bahn. Das schadet dem Ansehen, daher wird es vertuscht. Man schaut weg und schweigt. Wenn er dem Heiligen Vater gegenüber auch die Form wahrt – dabei will Kardinal Marx immerhin nicht mehr mitmachen.

Zu Weihnachten Bergamo in Deutschland?

Bergamo – das ist diese wunderschöne Stadt in Norditalien, die im Frühjahr von einer Katastrophe heimgesucht wurde. Man hatte die Kontrolle über die Ausbreitung des Corona-Virus verloren, und die Intensivstationen der Stadt waren mit Covid-Patienten derart überfüllt, dass die Ärzte entscheiden mussten, wen man noch fachgerecht behandeln könnte und wer wegen seiner schlechteren Prognose aufgegeben werden musste. Wir lernten damals den wohlklingenden französischen Begriff „Triage“ für dieses Ausleseverfahren kennen, mit dem Ärzte die medizinischen Ressourcen, wenn sie nicht für alle Kranken ausreichen, denjenigen mit den besten Überlebenschancen zuteilen. Großzügig übernahmen deutsche Krankenhäuser damals einige Schwerkranke aus Norditalien. In jenen Wochen starben in Bergamo so viele Menschen an der Seuche, dass Lastwagen der italienischen Armee ihre Särge auf Krematorien in ganz Nord- und Mittelitalien verteilen mussten.

Und nun, ein halbes Jahr später, in der von Fachleuten einhellig vorhergesagten zweiten Pandemie-Welle, stehen einige deutsche Regionen am gleichen Punkt wie Bergamo im Frühjahr. Wer hätte sich das damals vorstellen können? Uns Deutschen, in der ganzen Welt bekannt für unsere disziplinierte Vernunft, unseren nüchternen Realismus, unser kluges, weitsichtiges Vorausplanen, uns läuft jetzt, zwei Wochen vor Weihnachten, die Seuche komplett aus dem Ruder. Obwohl es möglich ist, eine Pandemie erfolgreich zu bekämpfen, haben auch wir die Kontrolle nun weitgehend verloren. Genauer gesagt, haben wir sie sehenden Auges aus der Hand gegeben,

Eine Pandemie ist ein klassischer Fall für die Notwendigkeit staatlicher Gesundheitsvor- und fürsorge. Das Risiko jedes Einzelnen von uns, sich anzustecken, ist umso größer, je weiter der Virus in der Bevölkerung verbreitet ist. Also teilen wir alle das Interesse, seine Verbreitung einzudämmen und zu verringern. Dies gelingt jedoch nur, wenn alle kooperieren.

Die winzigen, unsichtbaren Schädlinge werden mit der Atemluft der Virusträger an die nähere Umgebung abgegeben. Zwar verdünnt sich die Viruswolke mit wachsender Distanz, unschädlich wird sie aber erst in einer Entfernung, die unserem üblichen räumlichen Abstand voneinander im Lebensalltag nicht entspricht. Unter Pandemiebedingungen bedarf es in unserem alltäglichen Umgang miteinander also einer ungewohnt weiten räumlichen Distanzierung. Diese und weitere Schutzmaßnahmen erfordern ein regelgeleitetes, koordiniertes Handeln der gesamten Bevölkerung, und das kann allein der Staat veranlassen und organisieren.

Es liegt in der Natur der Sache, dass die hoheitlich verordneten Restriktionen mit der Einschränkung einiger unserer individuellen Freiheitsrechte verbunden sind, und das mögen wir bekanntlich überhaupt nicht. Die Freizügigkeit soll uns beschnitten werden, also das Recht, uns innerhalb unseres Landes frei zu bewegen und unseren Aufenthaltsort zu bestimmen; wir dürfen uns nicht mehr nach Belieben versammeln, und sogar in die eigentlich unverletzliche Privatspäre unserer Wohnung, von Artikel 13 unseres Grundgesetzes besonders geschützt, greift der Staat ein und maßt sich an zu bestimmen, wieviel Gäste wir dort allenfalls empfangen dürfen.

All diese staatlichen Eingriffe in unsere Freiheitsrechte haben verhältnismäßig zu sein – sie müssen also einen legitimen öffentlichen Zweck verfolgen und zudem geeignet, erforderlich und angemessen sein. Aber welche Maßnahmen sind erforderlich und angemessen, wenn sich 30.000 Menschen pro Tag neu mit dem Virus infizieren und 600 im gleichen Zeitraum daran sterben? Diese lawinenartige Ausbreitung der Seuche bekommen wir in diesem Stadium nur noch in den Griff, sagen uns die Wissenschaftler, wenn wir unser soziales Leben weitestgehend einschränken und alle nicht unbedingt notwendigen Kontakte und Begegnungen unterlassen.

Dies kollidiert natürlich gravierend mit wesentlichen Bedürfnissen und Interessen aller gesellschaftlichen Bereiche und jedes Einzelnen von uns. Daher bedarf es einer Güterabwägung: Weiterhin täglich 30.000 Neuerkrankungen und einen Zusammenbruch unseres Gesundheitssystems akzeptieren, von den 600 Toten pro Tag nicht zu reden, oder das private Leben drastisch einschränken und das öffentliche Leben fast zum Erliegen bringen? Zwei Wochen vor Weihnachten, womöglich bis weit in den Januar hinein. Das ist die Alternative, vor der wir stehen. Wir wissen, setzen wir den Mittelweg der halbherzigen Restriktionen fort, führt dies weiterhin zu Tausenden um Luft ringende Schwerkranke, von denen viele nicht überleben und viele andere schwere, langwierige gesundheitliche Beeinträchtigungen davontragen werden. Andererseits: Ein harter Lockdown, vielleicht vier bis sechs Wochen lang, würde neben erheblichen anderen Misslichkeiten große finanzielle Verluste mit sich bringen und den Steuerzahler auf Jahre hinaus zusätzlich belasten.

Aber schon immer haben die Menschen Seuchen mit allen jeweils verfügbaren Mitteln bekämpft. Und heute ist nur der sofortige Shutdown ein wirksames Mittel gegen das weitere Wüten der außer Kontrolle geratenen Pandemie. Halbherzige Maßnahmen haben sich als unwirksam erwiesen. Sie kommen also nicht in Betracht.

Bergamo übrigens hat verstanden, Länder wie Irland und Neuseeland auch. Während bei uns diskutiert und rumgeeiert wird, hat man dort die gefährliche Entwicklung in den Griff bekommen. Es geht also – wenn auch nur mit drastischen Maßnahmen. Hätten unsere Politiker diese schon früher eingeleitet, mutig und beherzt, wären wir in die jetzige Lage gar nicht gekommen.

Wenn nicht sofort konsequent gehandelt und das öffentliche und soziale Leben weitgehend heruntergefahren wird, dann haben wir bei uns zu Weihnachten die gleichen Verhältnisse wie Bergamo im Frühjahr. Das möge man unter allen Umständen verhindern.

Außerdem:

Wie eine COVID-19-Erkrankung das Leben eines berühmten Virologen veränderte“Denkraum, 19. Mai 2020

Philosophie der Pandemie Warum wir die Coronakrise noch immer nicht begreifen – Spiegel, 18.01.2021
Die Coronakrise ist eine Naturkatastrophe – leider verstehen das noch immer viele nicht. Warum? Es liegt in der Natur des Menschen, sagt Philosophieprofessor Albert Newen.

Wie Deutschland schon im März fast coronafrei werden kannCaroline Ring – Tagesspiegel, 04.02.2021

Mitte Februar könnte die Inzidenz unter die 50er-Marke sinken. Dennoch fordern Wissenschaftler eine Verlängerung der harten Maßnahmen. Sie haben gute Gründe.

Null-Fälle-Strategie soll Deutschland aus der Corona-Krise führenFlorian Schumann und Sven Stockrahm – Zeit, 18.01.2021

Infektionen auf null bringen und konsequent eindämmen: Führende Forscher schlagen der Kanzlerin einen No-Covid-Plan vor.

„Wie eine COVID-19-Erkrankung das Leben eines berühmten Virologen veränderte“

Medscape ist eine internationale medizinische Webseite, die sich primär an Fachkreise richtet. In der Ausgabe vom 19. Mai 2020 findet sich ein eindrucksvoller Bericht des renommierten belgischen Virologen Prof. Peter Piot über seine eigene COVID-19-Erkrankung.

„Ärzte kennen Prof. Dr. Dr. Peter Piot (Vitavor allem als Mit-Entdecker des Ebolavirus in Zaire im Jahr 1976 und als Initiator früher HIV/AIDS-Hilfsprogramme in den 1980er-Jahren. Der Forscher lebt in England und ist Leiter der London School of Hygiene and Tropical Medicine. Der Virologe erkrankte vor einigen Wochen an COVID-19. Im Gespräch mit der belgischen Zeitschrift Knack berichtet er über seine Erfahrungen – und über Lehren, die man aus der Pandemie ziehen sollte. (…)

Eineinhalb Stunden lang erzählt er – zunächst zögernd, weil es eine emotionale Erfahrung war und er kein emotionaler Mensch ist, wie er sagt. Er berichtet, wie ihn die Krankheit beeinflusst hat und äußert seine Sorge darüber, dass viele Menschen die Auswirkungen des Coronavirus auf unsere Gesellschaft unterschätzen.“

Angesichts der „Pandemie“ der im Netz verbreiteten Falschinformationen zu COVID-19 und der Welle von Demonstrationen gegen die staatlichen Infektionsschutzmaßnahmen wird die Lektüre dieser sehr persönlichen Schilderung des 71-jährigen Arztes über seine Erfahrungen während seines Krankheitsverlaufs wärmstens empfohlen.

Da der betreffende Medscape-Artikel jedoch nur Angehörigen der Heilberufe zugänglich ist, hier einige wesentliche Auszüge:

Lies den vollständigen Beitrag »

Donald Trump: Herzinfarkt in Jerusalem… (Satire!)

Bei einem Besuch in Jerusalem erleidet Donald Trump einen Herzinfarkt und stirbt. Der Bestatter erklärt den begleitenden US-Diplomaten: „Sie können ihn für 50.000 Dollar nach Hause überführen lassen, oder Sie lassen ihn für 100 Dollar gleich hier im Heiligen Land begraben.“
Die amerikanischen Diplomaten gehen in eine Ecke und diskutieren. Schließlich entscheiden sie, Trump soll nach Hause geschickt werden.
Der Bestatter fragt verwundert: „Warum wollen Sie 50.000 Dollar ausgeben, um ihn nach Hause zu schicken, wenn wir ihn hier wunderbar für nur 100 Dollar begraben könnten?“
Darauf die Diplomaten: „Vor langer Zeit ist hier auch ein Mann gestorben und begraben worden. Drei Tage später ist er von den Toten wieder auferstanden. Das können wir auf keinen Fall riskieren!“

Offener Brief an Jens Spahn

In meiner Familie gibt es unter anderem zwei Zahnärzte. Es sind zwei von der anständigen Sorte, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Sie gehören nicht zu denen, die in den 1990er Jahren für ihre dreisten Forderungen an die Politik berüchtigt waren, und über die Seehofer, damals noch Gesundheitsminister, im Fernsehen nur sagen brauchte, „die wollen bloß Geld“, und ein ganzes Volk nickte mit dem Kopf.

Heute, drei Jahrzehnte später, ist das Pendel zur anderen Seite ausgeschlagen. In der Coronakrise sind die Zahnärzte zurecht sauer, weil sie nicht über die erforderliche Schutzausrüstung verfügen, wenn sie – hochgradig infektionsgefährdet – in intimer Distanz zum Mund des Patienten den Bohrer ansetzen. Während die ärztlichen Standesvertreter gegen den Mangel an virensicheren Schutzmasken gegenwärtig Sturm laufen, sind die obersten Vertreter der Zahnärzte in dieser Situation derart brav und harmlos, dass man den Eindruck gewinnt, sie stellen sich im Wettlauf um die wenigen verfügbaren Masken gleich klaglos hinten an.

Außerdem wurden die Zahnärzte aus dem Kreis der durch das Covid-19-Entlastungsgesetz unterstützten Ärzte und Psychotherapeuten ausgeschlossen. Daher bekam Jens Spahn gestern Post vom Denkraum.

Es geht um Recht und Gerechtigkeit. Mit dem Ausschluss der Zahnärzte aus seinem Corona-Entlastungsgesetz hat der Minister einen gravierenden Fehler gemacht und sich verfassungsrechtlich in arge Bredouille begeben. Dies wurde ihm vor Augen geführt – sachlich, aber bestimmt.

 

„Alle, die im Gesundheitswesen arbeiten, brauchen gerade jetzt unsere volle Unterstützung.“
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn

So steht es, sehr geehrter Herr Minister Spahn, groß und unübersehbar auf der Internet­seite Ihres Ministeriums, direkt neben einem Foto von Ihnen, das Sie in energischer Pose und dynamischer Aktion zeigt. Aber befolgen Sie selbst Ihre vorbildliche Maxime gegenüber allen wesentlichen Berufsgruppen im Gesundheitswesen, die täglich die medizinische Versorgung in unserem Land sicherstellen? In Ihrem soeben verabschiedeten „Covid-19 Krankenhausentlastungsgesetz“ ist jedenfalls eine große Gruppe „ausgespart“, was wohl im Wortsinne zu verstehen ist: Ärzte, nicht einmal mit einer geeigneten Schutzausrüstung ausgestattet, die täglich mit hohem eigenen gesundheitlichen Risiko ihre Patienten von Schmerzen befreien und die erforderlichen Behandlungen bei ihnen vornehmen.

Mit großer Bestürzung mussten Deutschlands Zahnärzte erkennen, dass sie – anders als Ärzte und Psychotherapeuten – in dem von Ihrem Ministerium erarbeiteten „Gesetz zum Ausgleich Covid-19 bedingter finanzieller Belastungen der Krankenhäuser und weiterer Gesundheitseinrichtungen“ nicht berücksichtigt werden. In einer Presseerklärung Ihres Hauses vom 23. März 2020 heißt es, mit diesem Gesetz sollen „die wirtschaftlichen Folgen für Krankenhäuser und Vertragsärzte aufgefangen“ und „Honorareinbußen der niedergelas­senen Ärzte abgefedert werden.“ Daher würden „niedergelassene Ärzte sowie Psycho­therapeuten (…) bei einer zu hohen Umsatzminderung aufgrund einer geringeren Inan­spruchnahme durch Patienten mit Ausgleichszahlungen sowie mit zeitnahen Anpassungen der Honorarverteilung geschützt.“

Anfänglich glaubte man auf Seiten der Zahnärzte an ein bloßes Versehen Ihres Ministe­riums, das der Eile geschuldet war, mit der das Gesetz zustande kam. Doch man musste erkennen, dass die Berufsgruppe der Zahnärzte ganz bewusst und voller Absicht von den Unterstützungsmaßnahmen ausgenommen wurde. Dies, obwohl allgemein bekannt ist, dass dieser Beruf einer der am meisten gefährdeten Gesundheitsberufe ist, wenn Zahnärzte nicht sogar dem höchsten Infektionsrisiko innerhalb der gesamten Ärzteschaft ausgesetzt sind.

Zahnärzte sind tagtäglich sogenannten Aerosolen ausgesetzt, einer Sprühnebelwolke, die bei der Behandlung mit rotierenden Instrumenten im Mund ihrer Patienten unter Zufuhr von Wasser unvermeidlich entsteht. Wir wissen zudem, dass ein Vielfaches der identifizierten Covid-19-Erkrankten unerkannt infiziert ist und sich daher in dieser Hinsicht völlig ahnungslos in zahnärztliche Behandlung begibt. Nach Untersuchungen des US-Arbeitsministeriums sind Zahnärzte daher am stärksten gefährdet, an Covid-19 zu erkranken.

Überdies müssen sie als mögliche Infektionsmultiplikatoren gelten, was der Bevölkerung nur allzu bewusst ist. Dies führt derzeit dazu, dass die Patienten einen Großteil der vereinbarten Behandlungstermine absagen, aus Sorge vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus. Die Praxisumsätze gehen daher um bis zu 80 % zurück. Da die Kosten weiterlaufen, gehen derzeit auch die niedergelassenen Zahnärzte einem finanziellen Desaster entgegen.

In dieser Situation ist der Ausschluss dieser Berufsgruppe aus den neuen gesetzlichen Regelungen nicht nur in hohem Maße ungerecht, er ist juristisch betrachtet auch absolut ungerechtfertigt. Die Nichtberücksichtigung der Zahnärzte in diesem Gesetz stellt eine gravierende, vollkommen illegitime und mit nichts zu rechtfertigende Diskriminierung dieses Berufsstandes dar.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bindet der allgemeine Gleichheitssatz in Artikel 3 Abs. 1 unseres Grundgesetzes nicht nur die Verwaltung und Rechtsprechung, sondern auch den Gesetzgeber (Rechtssetzungsgleichheit). Auch für ihn gilt, dass wesentlich Gleiches nicht willkürlich ungleich behandelt werden darf. „Gleiche Fälle sollen gleiche Regeln treffen“, so hat es ein renommierter Rechtswissenschaftler aus­gedrückt. Dies gilt insbesondere in Fällen von Ungleichbehandlung vergleichbarer Per­sonengruppen. Unser Grundgesetz verbietet es dem Gesetzgeber, Personengruppen in mit­einander vergleichbaren Fällen nach unterschiedlichen Grundsätzen zu behandeln.

Das Bundesverfassungsgericht hat dies in einem Urteil vom 7. Februar 2012 in juristischer Sprache so formuliert:

„Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. BVerfGE 98, 365 <385>). Er gilt sowohl für ungleiche Belastungen als auch für un­gleiche Begünstigungen (vgl. BVerfGE 79, 1 <17>; 126, 400 <416> m.w.N.; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 21. Juni 2011 – 1 BvR 2035/07 -, juris Rn. 76). Dabei verwehrt Art. 3 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung. Differ­enzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind (vgl. BVerfGE 124, 199 <220>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 21. Juni 2011 – 1 BvR 2035/07 -, juris Rn. 77). Der Gleichheitssatz ist dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behand­lung rechtfertigen können.“

Es ist schwer vorstellbar, dass sich mit Blick auf das Regelungsziel des neuen Gesetzes Unterschiede zwischen Vertragsärzten und Vertragszahnärzten von solcher Art und solchem Gewicht konstruieren lassen, dass sie die unterschiedliche Behandlung recht­fertigen könnten. Nicht zu reden von den im Gesetz berücksichtigten Psychotherapeuten, bei denen die Einhaltung einer gewissen körperlichen Distanz zu ihren Klienten bereits zum Berufsethos gehört, und deren Hilfeleistung auch in Corona-Zeiten weiterhin gut nach­gefragt sein dürfte.

Nach allem wird sich kein sachgerechter Differenzierungsgrund zwischen Ärzten und Psychotherapeuten einerseits und Zahnärzten andererseits finden lassen, der rechtfertigen würde, Vertragszahnärzte nicht an den Unterstützungsmaßnahmen des neuen Gesetzes teilhaben zu lassen, zumal in diesem Fall strenge Anforderungen an eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines Ausschlusses der Zahnärzte zu stellen wären.

Aber muss es in dieser Situation zu einem verfassungsrechtlichen Rechtsstreit zwischen den Zahnärzten und der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch Ihr Ministerium, wirklich kommen? Wäre es nicht möglich, sehr geehrter Herr Minister Spahn, dass Sie sich dieser Berufsgruppe ebenso ver­pflichtet fühlen würden wie den anderen Gesundheitsberufen? In diesem Sinn kann man nur an Sie appellieren, zu einer sachgerechten und gerechten Gleichbehandlung zurückzu­kehren und den Zahnärzten die Unterstützung des Covid-19-Entlastungsgesetzes nicht vor­zuenthalten.

Außerdem:

  • Zahnärzte in der Corona-Krise: „Wir fühlen uns allein gelassen“ – Meike Hickmann – ZDF, 24.03.2020
    • Zahnärzte sind einem hohen Ansteckungsrisiko mit Covid-19 ausgesetzt. Es fehlt an Schutzausrüstung. Zudem gibt es für sie bisher keinen Rettungsschirm bei immer weniger Patienten.
  • Höchste Infektionsgefahr, keine Hilfe vom StaatSabine Menkens –  Welt, 27.03.2020
    • Zahnärzte sind in der Corona-Krise besonders gefährdet sich anzustecken. Schutzausrüstung ist Mangelware, im Entlastungsgesetz von Gesundheitsminister Spahn werden sie aber nicht berücksichtigt. Die Opposition spricht von „nicht verantwortbaren“ Zuständen.
  • Eine Katastrophe für unsere 350.000 Mitarbeiter – Siegfried Marquardt – The European, 30.03.2020
    • Die deutschen Zahnarztpraxen schlagen Alarm. Sie bekommen keine Schutzausrüstungen, ihre Mitarbeiter sind aber besonders ansteckungsgefährdet. Sie erhalten keine staatlichen Hilfen und keine Unterstützung durch die Politik. Sollen alle jetzt zwangsschließen? Man bekommt dieser Tage besser keine Zahnschmerzen.
  • Keine Hilfe für Zahnärzte (Video ca. 3 Min.) – Abendschau ∙ rbb Fernsehen – 04.04.2020 
    • In vielen Zahnarztpraxen herrscht gerade gähnende Leere: Die Patienten haben Angst vor Ansteckung. Trotz eines Umsatzrückgangs von bis zu 80 Prozent sind Zahnärzte vom Rettungsschirm für niedergelassene Ärzte ausgeschlossen. Ein Beitrag von Jörn Kersten

Parallelen 1919 – 2019

Die heutzutage allmorgendlich von zahlreichen Medien via Mail versandten „Morning Briefings“ sind in aller Regel allein für den jeweiligen Tag geschrieben. Zumeist präsentieren sie aktuelle politische Ereignisse in Kurzform und weisen auf eingehendere Beiträge dazu in der jeweiligen Publikation hin. „Morning Briefings“ sollen nicht zuletzt unterhalten, daher fügen die Autoren zumeist ihre eigenen möglichst originellen Kommentare hinzu.

Als ungekrönter König dieses Genres kann gewiss der ehemalige Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart gelten, der sein tägliches Morning Briefing mit seinen scharfsinnigen, eloquent formulierten Anmerkungen zu einer Form journalistischer Kleinkunst entwickelte und damit zur Popularisierung dieses Formats wesentlich beitrug. Mit einem allzu bissigen, vielerseits als niederträchtig empfundenen Kommentar zum damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Schulz im Februar letzten Jahres vergaloppierte Steingart sich jedoch total und wurde von Handelsblatt-Verleger Holtzbrinck daraufhin unverzüglich gefeuert. Inzwischen hat Steingart seine tägliche Morgengabe noch um Podcasts erweitert und darum herum ein eigenes Medienunternehmen aufgebaut.

Eine ganz andere Variante dieses Genres konnte man am Sylvestertag im täglichen Morning Briefing des Spiegel („Zur Lage“) lesen. Der stellvertretende Chefredakteur des Blattes, Dirk Kurbjuweit, erteilte eine niveauvolle Geschichtsstunde, interessant und lehrreich über den Tag hinaus.

Zum bevorstehenden Jahreswechsel verglich er die gegenwärtige weltpolitische Lage mit dem Jahr 1919, dem ersten nach Ende des I. Weltkriegs, und einem, wie Kurbjuweit zurecht feststellt, „der großen, wichtigen Jahre der Weltgeschichte“. Der Autor erkennt verblüffende Parallelen zur heutigen weltpolitischen Situation und denkt darüber nach, welche Lehren aus den vor hundert Jahren erfolgten unheilvollen Weichenstellungen heute zu ziehen wären. Damals habe „die Welt ihre große Chance“ gehabt, sie aber nicht zu nutzen verstanden, mit weitreichenden, katastrophalen Folgen.

Ergänzt durch Verweise zu einschlägigen Hintergrundinformationen dokumentiert der „Denkraum“ wesentliche Teile der klugen, geschichtskundigen Gedanken des Spiegel-Journalisten.

„Eben wurde der Erste Weltkrieg beendet, die Weltordnung brach zusammen. Vier große Reiche gingen zugrunde, das Deutsche Kaiserreich, Österreich-Ungarn, das Zarenreich, das Osmanische Reich. Die alte Welt lag in Trümmern, und gleichzeitig keimten gewaltige Hoffnungen.

Die russischen Bolschewisten hatten ein neues Zauberwort in die Welt gerufen: Selbstbestimmungsrecht. Die Völker sollten selbst entscheiden, in was für einem Staat sie leben wollten. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson machte es sich zu eigen und wurde zum Superstar der damaligen Politik, ähnlich wie Barack Obama zu Beginn seiner Amtszeit. Neue Staaten entstanden, und viele wurden Demokratien.

Auch Emanzipation war ein großes Thema. Die Kolonien von Frankreich und Großbritannien hatten Soldaten nach Europa geschickt, hatten einen hohen Blutzoll gezahlt, nun wollten sie mit Freiheiten belohnt werden. Schwarze in den USA drängten auf Gleichberechtigung. Weil die Männer im Krieg waren, mussten die Frauen daheim andere Rollen übernehmen. Auch die feministischen Anführerinnen drängten mit neuem Selbstbewusstsein auf gleiche Rechte.

All diese Hoffnungen richteten sich auf Paris. Dort begann am 18. Januar 1919 die große Friedenskonferenz. Als Wilson anreiste, strömten die Massen auf die Straßen und jubelten. Wilson wollte einen Völkerbund etablieren, einen neuen Mechanismus für einen ewigen Frieden. Die Freiheits- und Emanzipationsbewegungen schickten Delegationen. Die Welt hatte Anfang 1919 ihre ganz große Chance.

In einem Buch des schwedischen Schriftstellers Per Olov Enquist las ich vor vielen Jahren einen Satz, den ich nicht vergessen habe, an den ich manchmal denken muss, bei privaten, aber auch bei politischen Ereignissen. Er lautet: „Wenn alles so gut angefangen hatte, wie konnte es so schlimm enden.“ Das ist auch ein Satz für das Jahr 1919 und die Zeit danach.

Das erste wichtige Ergebnis der Pariser Konferenz war der Versailler Vertrag, der am 28. Juni 1919 zähneknirschend von der deutschen Delegation unterzeichnet wurde. Es waren Bedingungen, die der blutjungen deutschen Demokratie das Leben schwer machten, wirtschaftlich, aber vor allem psychologisch – viele Deutsche fühlten sich gegängelt und gedemütigt. Auch von Versailles führte ein Weg zu Hitler, aber natürlich nicht der einzige.

Der amerikanische Kongress ratifizierte den Vertrag nicht, die USA traten dem Völkerbund nicht bei. Es folgte keine Phase der Isolation, aber doch der Zurückhaltung. Europa blieb weitgehend sich selbst überlassen. Bis Ende der Dreißigerjahre hatten sich viele Demokratien in autoritäre Staaten verwandelt. Auch von der Emanzipation blieb nicht viel übrig, nicht für die Kolonien, nicht für die schwarzen Amerikaner.

Die Hoffnungen der Araber auf einen großen eigenen Staat wurden ebenfalls enttäuscht. Briten und Franzosen teilten den Nahen Osten in Einflusszonen auf, mit Folgen bis heute. (…)

Das alles wussten die Menschen zu Silvester 1918/19 nicht. Sie betrauerten ihre Toten, litten Hunger, kämpften gegen die Spanische Grippe, dachten vielleicht, dass es nur besser werden kann. Die Deutschen hofften auf einen „Wilson-Frieden“, wie sie damals sagten, einen gnädigen Frieden, aber wie fast alle Heilsbringer in der Politik war Wilson eine Enttäuschung (Obama in anderen Verhältnissen ebenfalls).

Kurbjuweit ist überzeugt, dass wir „hundert Jahre später noch immer in einer Welt (leben)“, die von den damals erfolgten weltpolitischen Weichenstellungen, „von Paris und den anderen Konferenzen nach dem Ersten Weltkrieg“, stark geprägt ist. Es gehe uns zwar heute weit besser als den Menschen damals, aber vielleicht hätten wir gerade deshalb heute weniger Hoffnung, dass es besser wird, sondern eher Angst, es werde schlechter kommen.

Aus den Auswirkungen des Jahres 1919 und der Zeit danach leitet der Spiegel-Journalist auch seine „politischen Wünsche für das neue Jahr (…) her“ – Empfehlungen, in denen Kurbjuweit aus der Geschichte Lehren für die heutige Weltpolitik abzuleiten versucht. Die darin zum Ausdruck kommenden politischen Denkmuster sind zum Teil gewiss diskussionsbedürftig, aber immerhin diskussionswürdig (s. Kommentare).

„Erstens: Junge Demokratien brauchen Hilfe, brauchen Anleitung, man kann sie nicht sich selbst überlassen. In Europa ist das nicht mehr Sache der US-Amerikaner, sondern der Europäischen Union. Sie nimmt diese Aufgabe gegenüber Polen oder Ungarn an, aber nicht entschlossen genug, zum Teil aus parteipolitischen Interessen. Das muss sich ändern.

Zweitens: Der Flirt mit autoritären Gedanken ist gefährlich. Man sollte immer bedenken: Ein autoritäres System hat nach den Erfahrungen der Geschichte eine weit höhere Affinität zum Krieg, gerade zum großen Krieg, als eine liberale Demokratie.

Drittens: Amerika wird gebraucht. Es gab vielleicht schon 1919 die Chance, einen großen Westen zu etablieren, mit Deutschland, mit den anderen jungen Demokratien, unter amerikanischer Führung. Die Geschichte wäre anders verlaufen. In unseren Zeiten ist der Westen stark von autoritären Regimen herausgefordert, von China, von Russland. Der Westen braucht Geschlossenheit und ein starkes, an Europa interessiertes Amerika, um bestehen zu können.

„Wenn diese Wünsche erfüllt würden“, so schließt Kurbjuweit, anknüpfend an dem zitierten Gedanken des Schriftstellers Per Olov Enquist, seine Überlegungen, dann „müsste das, was gut angefangen hat, nicht schlimm enden“.

„Geheimakte Finanzkrise“ – Augenöffner im ZDF

Gestern am späten Abend sendete das ZDF eine exzellente Dokumentation über die Finanzkrise 2008, über deren Ursachen, Mechanismen und Abläufe, vor allem auch über die bislang nur Insidern bekannte desaströse Rolle der Deutschen Bank in dieser Krise, die das Weltfinanzsystem damals beinahe zum Einsturz gebracht hätte:

Geheimakte Finanzkrise – Droht der nächste Jahrhundert-Crash? – Ein Film von Dirk Laabs   (Video verfügbar bis zum 10. Oktober 2019)

Der „Denkraum“ kommentierte die nunmehr 10 Jahre zurückliegende Finanzkrise seinerzeit ausführlich. Unter anderem wurde im Beitrag „Finanzsystemkrise“ die für Nicht-Investmentbanker schwer durchschaubare Funktionsweise der hoch riskanten Bankgeschäfte erläutert, die letztlich zum Zusammenbruch der amerikanischen Großbank Lehman Brothers führten. Dieser Beitrag ist bis heute der meistgelesene des Blogs.

Aus der Ankündigung des ZDF zur Doku „Geheimakte Finanzkrise“:

Die Insolvenz der Lehman-Bank am 15. September 2008 führte die Welt an den Abgrund. Doch wie kam es zu der Krise? Und welche Rolle spielte die Deutsche Bank?

Die „ZDFzoom“-Doku zeigt erstmals, dass Deutschlands größte Bank nicht nur die Krise wesentlich mit ausgelöst hat, sondern selbst auch um ihr Überleben kämpfte – während sie sich öffentlich rühmte, als einziges europäisches Finanzinstitut stabil dazustehen.

Es stellen sich zehn Jahre nach der Krise gleich mehrere Fragen: Ist die Deutsche Bank heute so schwach, weil sie schon in der Krise das Ausmaß ihrer Probleme vertuscht hatte? Und welche Folgen hat die Rettungspolitik der Länder? Um Banken wie das Institut aus Deutschland und die Weltwirtschaft vor dem Absturz zu retten, mussten sich die Staaten weltweit verschulden. Die öffentliche Verschuldung ist auch deshalb seit 2008 rasant gestiegen (…).

Die Null-Zins-Politik der EZB erlaubte es zudem nationalen Banken und bankrotten Unternehmen, sich über Wasser zu halten. Darum gibt es in Europa mittlerweile Hunderte von untoten Firmen, sogenannte „Zombie“-Unternehmen, die gerade in Italien eine wirkliche Abkehr von zu viel Schulden unmöglich zu machen scheinen.

Die beängstigende Prognose: Den wahren Preis für die Finanzkrise hat Europa noch immer nicht gezahlt.

Autor Dirk Laabs, der für das ZDF bereits mehrere preisgekrönte Dokumentationen über die Deutsche Bank gedreht hat, spricht auch mit den ehemaligen Finanzministern Hans Eichel und Wolfgang Schäuble. Sie warnen, „die nächste Krise kommt bestimmt“. Nach Auffassung von Jürgen Stark, ehemals Mitglied des EZB-Präsidiums, könnte sie schlimmer werden als die letzte.

Wolfgang Schäuble ist überzeugt: „Das Niveau an Verschuldung weltweit (…) ist höher als am Ende des zweiten Weltkriegs. Und es legt natürlich die Gefahr und die Vermutung nahe, dass wir bei in der nächsten Krise weniger Spielraum haben, um zu reagieren.“

Über den einstigen Branchenprimus meint Schäuble: „Wenn Sie sich die aktuelle Situation der Deutschen Bank anschauen, ganz übern Berg, um es höflich zu sagen, sind sie immer noch nicht. Deswegen hätten sie früher mit ein bisschen mehr Demut vielleicht ein bisschen von den großen Schäden, die eingetreten sind, vermeiden können.“

Was war im Hintergrund passiert? Die Deutsche Bank hat Kreditbündel in aller Welt geschnürt – auch in Deutschland – obwohl man wusste, dass viele faule Hypotheken darunter waren. Bis in den Juli 2007 verkaufte man die Papiere auch an die deutsche IKB – bis die insolvent wurde. Als die IKB in jenem Sommer finanzielle Hilfe brauchte, strich die Deutsche Bank die Kreditlinie.

Welche Rolle spielte Josef Ackermann? Ingrid Matthäus-Maier, damals die Chefin der Staatsbank KfW – Anteilseignern der IKB – spricht im Interview mit dem ZDF erstmals offen über diese Zeit und Deutsche Bank Chef Josef Ackermann:

„Er hat diese Krise erst selber ausgelöst, um dann die anderen Beteiligten zu treiben, dass sie die Krise lösen, und zwar ohne dass die Privaten bluten. Wir fühlten uns erpresst als KfW-Vorstand insbesondere von Ackermann. Er war mit Sicherheit der Brandstifter, der war weder integer noch war er anständig. Er war skrupellos und hat sich das Problem vom Hals gehalten.“

Auch aus der Deutschen Bank kommt scharfe Kritik. Erstmals gibt der aktuelle Chefökonom David Folkerts-Landau ein ausführliches Fernsehinterview. Die Strategie Ackermanns, um jeden Preis den Umsatz zu steigern, eine Eigenkapitalrendite von 25 Prozent zu fordern, sei „töricht“ gewesen: „Die Expansion der Deutschen Bank ab 2003, insbesondere in den Handelsbereichen, konnte die Bank mit ihrer Infrastruktur nicht bewältigen. So voraus zu stürmen, war also ein großes Risiko“.

Geheime Unterlagen der Bank belegen, wieviel Risiko die Bank auf sich geladen hatte und wie schlecht es ihr schon im Oktober 2008 ging. Doch Vorstandschef Josef Ackermann sagte damals: „Es wäre eine Schande, wenn wir einräumen müssten, dass wir Geld vom Steuerzahler brauchen.“ (…) Folkerts-Landau dazu:

„Ich war bei dieser Telefonkonferenz dabei, als Joe [Ackermann] diesen Satz sagte. Es war eine der egozentrischsten politischen Entscheidungen, die ich je von einem leitenden Banker gesehen habe. Wenn wir das Geld genommen hätten, wäre Joe [Ackermann] seinen Job wohl losgeworden. Aber das hatte er offenbar so nicht vorgesehen.“

So sei verhindert worden, dass die Bank rechtzeitig aufgeräumt wurde, ist Folkerts-Landau sicher:

„Das war so ein schwerer politischer Fehler. Es ist einfach völlig unverständlich, wie ein hochrangiges Mitglied der Finanzindustrie diese Entscheidung treffen konnte.“

Der Wettbewerbsvorteil der Bank (…) sei hauptsächlich gewesen, dass der Markt wusste: Am Ende stehe der Staat für die Deutsche Bank ein. 

Die damals führenden Manager der Deutschen Bank erfreuen sich heute allesamt wieder gut dotierter Positionen. Chefökonom Folkerts-Landau:

„Wenn jemand vom Mars hier her käme, wäre er erstaunt: Es gibt also Banker, nicht nur die von der Deutschen Bank, die gewaltige Verluste gemacht haben, die dabei offensichtlich Entscheidungen getroffen haben, die absolut falsch waren. Doch der Markt bestraft das nicht genug. Die Banker suchen sich einfach neue Jobs, und das Leben geht weiter. Das finde ich sehr enttäuschend.“

Außerdem:
  • Markus Lanz vom 12. September 2018 – ZDF Mediathek
    • Dirk Laabs, Journalist – In der Sendung ergänzt Laabs interessante Details aus der Recherche zu seinem Film und äußert sich zum aktuellen Zustand der Finanzwelt.
  • Finanzsystemkrise – Denkraum, Oktober 2008
    • „Die gravierenden Probleme, die das globale Finanzsystem in seiner derzeitigen Struktur generiert, halte ich für den größten Krisenherd, der uns gegenwärtig bedroht. Es handelt sich um eine Systemkrise des globalen Finanzsystems in seiner heutigen, auch als Finanzkapitalismus bezeichneten Form. Sie ist nicht zuletzt deshalb so gefährlich, weil ihre Wirkmechanismen so schwer durchschaubar sind.“
  • „Wie es zur Finanzkrise kam – die ultimative Erklärung“
    • In einem fiktiven Interview eines Fernsehjournalisten mit einem Investmentbanker erklären John Bird und John Fortune, zwei englische Komiker, durchaus korrekt, wie es zur Finanzkrise kam. Satire vom Feinsten. (engl.)
  • „Es ist ein Horror“ – Saskia Sassen über die Finanzkrise – taz, 22.09.2008
    • „Mit einem Floh, der von einem Wirt zum nächsten hüpft, vergleicht Saskia Sassen die Urheber der Finanzkrise. Die Stadtsoziologin und Globalisierungstheoretikerin erklärt, wie es dazu kommen konnte.“
  • Schreiben von Bundesbank und Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) an Bundesfinanzminister Steinbrück vom 29. Sept. 2008 zu den notwendigen Rettungsmaßnahmen für die Hypo Real Estate
  • Die drohende Weltherrschaft des internationalen Finanzkomplexes – Denkraum, 15.08.2011
    • „Vor der drohenden Weltherrschaft des internationalen Finanzkomplexes warnt zurecht Michael Spreng, profilierter Journalist, Politikberater und wahrlich kein Linker, in seinem Blog Sprengsatz in einem lesenswerten Beitrag, der das bedrängende Problem prägnant darlegt. Das Primat der Politik sei Anfang des 21. Jahrhunderts verloren gegangen. Die Politik habe mit ihrer Schuldensucht an ihrer eigenen Abdankung mitgewirkt. Jetzt drohe eine „Weltkrise der Demokratien“.„Die Politik hatte ein Dinosaurierei ausgebrütet und wunderte sich dann darüber, dass die Dinosaurier die Welt beherrschen wollten. (…) Vor 2008 wussten es viele Politiker nicht besser und ließen sich vom neoliberalen Zeitgeist treiben, nach 2008 aber versagte die Politik im vollen Wissen um die Ursachen des Desasters. (…) So übergab die Politik die Macht an demokratisch nicht legitimierte, von Gier und Habgier getriebene Finanzmanager, die noch nie einen Mehrwert geschaffen haben, die kein Brot backen, kein Auto herstellen und keine Maschine bauen können. Und die nicht für Hungerlöhne Demenzkranke pflegen.
  • Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken – Denkraum, 18.10.2011
  • „Banker – damals und heute“ – Gedicht, angeregt durch Erich Kästners „Hymnus auf die Bankiers“ – Denkraum, 27.11.2012
  • Jede Familie zahlt 3000 Euro für Finanzkrise – Cerstin Gammelin – Süddeutsche Zeitung, 12.09.2018
    • „Die Finanzkrise wird die deutschen Steuerzahler wohl mehr als 68 Milliarden Euro kosten. Das zeigen Zahlen, die die Bundesregierung erstmals herausgegeben hat. Die Folgen der Krise sind demnach auch nach zehn Jahren noch nicht bewältigt. Bund, Länder und Kommunen sind weiter damit beschäftigt, heimische Banken zu stützen.“
  • Abrechnung mit Ackermann im ZDF: „Er war mit Sicherheit der Brandstifter“ der Finanzkrise – Felix Holtermann – Handelsblatt, 12.09.2018
    • „Eine ZDF-Doku rechnet mit dem ehemaligen Deutsche-Bank-Chef ab. Ackermann erscheint darin als skrupelloser „Brandstifter“ der Finanzkrise.“