Die anmaßenden Promi-Mahnungen an Olaf Scholz

Da schreiben 28 Prominente – „Intellektuelle und KünstlerInnen“ – einen Offenen Brief an den sehr geehrten, später gar „sehr verehrten“ Herrn Bundeskanzler. Einen Brief, in dem sie ihn für seine Besonnenheit loben, mit der er in der Vergangenheit die Risiken bedacht habe, die der Ukraine-Krieg mit sich bringt: die Risiken einer Ausweitung auf ganz Europa, auch eines 3. Weltkrieges, ja sogar „das Risiko der Ausbreitung des Krieges innerhalb der Ukraine“ selbst. Man hoffe nun – offenbar angesichts der jüngst zugesagten Lieferung von Gepard-Panzern – der Kanzler werde sich wieder „auf seine ursprüngliche Position besinnen und nicht, weder direkt noch indirekt, weitere schwere Waffen an die Ukraine liefern“. Man bitte ihn „im Gegenteil dringlich, alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können“.

Schon hier wird die bemerkenswerte Naivität der besorgten Promis deutlich: Es wird ein Gegensatz konstruiert zwischen den Waffenlieferungen und den Bemühungen um einen Waffenstillstand. Dieser Gegensatz existiert nicht. Dass eine militärisch gestärkte Ukraine den Tyrannen im Kreml eher kompromissbereit macht als eine schwache, das vermögen sich die Autoren offensichtlich nicht vorzustellen.

Zwar konzedieren sie „eine prinzipielle politisch-moralische Pflicht (…), vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen“. Das habe aber „Grenzen in anderen Geboten der politischen Ethik“ (man merkt, hier formulieren Intellektuelle), und zwei dieser Grenzen seien jetzt erreicht. Zum einen „das kategorische Verbot, ein manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen. Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen könnte (…) Deutschland selbst zur Kriegspartei machen“. Daraufhin könnte „ein möglicher russischer Gegenschlag (…) den Beistandsfall nach dem NATO-Vertrag und damit die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs auslösen“.

Unabhängig davon, ob der Kremlchef die völkerrechtliche Zulässigkeit von Waffenlieferungen an die Ukraine respektiert, wird dieses Szenario nicht eintreten. Warum sollten Putin, seine Freunde und Komplizen – der smarte Herr Medwedjew zum Beispiel oder die Oligarchen, die Milliardäre und Yachtbesitzer, all die Reichtumstreber und Lebemänner, warum sollte diese russische Führungsclique herbeiführen, ihr Leben unter den Bedingungen eines Weltkriegs fortzusetzen? Das ist absurd.

Natürlich drohen sie mit ihren Atomraketen, denn derartige Drohungen sind eine einfach zu handhabende, zudem kostenlose Waffe, die im Westen als scharfes Schwert wahrgenommen wird. Diese Wirkung entfaltet sie aber nur dann, wenn sie bei uns verfängt. In dem Moment, in dem wir die Andeutung eines atomaren Weltkriegs als leere Drohung wahrnehmen und uns davon nicht in Angst und Schrecken versetzen lassen, wird das Schwert stumpf.

Sodann begeben sich die Prominenten in ihrem Appell in die Untiefen der Moralphilosophie. Die zweite jetzt erreichte Grenzlinie, so erklären sie, sei „das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung“. Irgendwann stehe „der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor (…) dazu in einem unerträglichen Missverhältnis.“

Und es sei eben ein Irrtum, „dass die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren ‚Kosten‘ an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit (der ukrainischen) Regierung“ falle, denn: „Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur“, also allgemeingültig. Will heißen: Auch der deutsche Bundeskanzler steht dafür mit in der Verantwortung.

Im Klartext: „Scholz, es ist Deine moralische Pflicht, dem Selensky klar zu machen, in diesem Krieg gibt es einfach zu viel zivile Tote! Die wiegen schwerer als das Interesse der Ukrainer, ihr Land zu verteidigen.“

Es sind aber nicht Betroffene aus der ukrainischen Zivilbevölkerung, die ihrer Regierung dies zu bedenken geben – hier appellieren deutsche Intellektuelle, nur aus dem Fernsehen mit dem Geschehen vertraut, an den deutschen Bundeskanzler, in diesem Sinne zu intervenieren. Welch eine Anmaßung!

Die Begründung und Geltung moralischer Normen wird von den Ethikern durchaus unterschiedlich gesehen, was Gegenstand tiefgehender Debatten innerhalb der betreffenden Fachdisziplin ist, der Metaethik. Ob die von den 28 Prominenten postulierte moralische Norm im Fall des Ukrainekriegs einschlägig wäre und handlungsleitend sein sollte, dürfte auch unter Experten strittig sein. Darauf aber auch unseren Bundeskanzler moralisch verpflichten zu wollen, das fällt gewiss nur deutschen Intellektuellen ein.

Außerdem:

  • Inzwischen gibt es einen zweiten Offenen Brief an den Bundeskanzler. Intellektuelle um den Publizisten Ralf Fücks plädieren für die kontinuierliche Lieferung von Waffen an die Ukraine..
  • Der Offene Brief der 28 Prominenten löste ein breites, überwiegend sehr kritisches Echo aus.
  • Der wohl eindrucksvollste Kommentar stammt von dem Hamburger Musiker und Autor Wolfgang Müller. Unter der Überschrift „Ukraine: Der offene Brief in der “Emma” und warum “Aufrüstung ja oder nein” die falsche Frage ist“ veröffentlichte er ihn zunächst in seinem eigenen Blog, bevor er von anderen Medien verbreitet wurde, u.a. von Spiegel Online.
  • Genau genommen ist es weit mehr als ein Kommentar, vielmehr eine sehr persönliche, authentische, differenzierte und kluge Reflexion über die innere Haltung, die wir zum Krieg Putins gegen die Ukraine einnehmen sollten. Mit einer Verneigung vor dem Verfasser dokumentiert der Denkraum die wichtigsten Auszüge aus dem Text.

„(…) Bei der Frage, ob wir aufrüsten müssen, oder Waffen an die Ukraine liefern, rückt die eigentliche Frage völlig in den Hintergrund – nämlich die, wer wir sein wollen. Wie wir leben wollen: In Angst oder in Würde.

Was mit der Ukraine passiert, ist das staatliche Äquivalent zu einer Vergewaltigung durch den Ex-Mann, mit angedrohter Vernichtung bei Gegenwehr. Dass ausgerechnet eine Feministin wie Alice Schwarzer vor diesem Hintergrund die Empfehlung ausspricht, lieber nicht zu arg zu helfen, um dem Gewalttäter keinen Vorwand für einen dritten Weltkrieg zu liefern, respektive das Vergewaltigungs-Opfer als mitverantwortlich für einen drohenden Massen-Mord durch seine provozierende Gegenwehr zu brandmarken, ist zumindest bemerkenswert. Insbesondere, da es eine bedeutende Zahl tatsächlicher Vergewaltigungen in diesem Krieg gibt.

Auch wenn in diesem offenen Brief auf das Leid der ukrainischen Zivilgesellschaft referenziert wird, das enden sollte (als ob es das nach einer Kapitulation tun würde), scheint die Hauptangst die um das eigene Wohlergehen zu sein. Salopp formuliert: Schatz, mach lieber die Beine breit, sonst schlachtet er dich und unsere ganze Familie ab.

Der wohl perfideste Satz in diesem Brief ist die Warnung vor dem “Irrtum, dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern.” Das ist Täter-Opfer-Umkehr in Reinkultur.

Dazu kommt: Die Idee, dass durch angstvolles Agieren diese Bedrohung abgewendet werden könnte, ist völlig absurd. In russischen Medien, und auch von russischen Offiziellen wird schon seit einiger Zeit Deutschland als Nazi-regiert dargestellt, angefangen von angeblichen Biowaffen Laboren vom Bernhard-Nocht-Institut in der Ukraine bis hin zu der Behauptung, der 2. Weltkrieg hätte nie aufgehört und Deutschland wäre nach wie vor ein faschistisches Land. Es liegt also offen auf der Hand, dass wir als legitimes Angriffsziel markiert werden, völlig unabhängig davon, wie wir uns verhalten oder nicht. Und zwar einzig und alleine aus dem Grund, weil wir als demokratisches und wirtschaftlich mächtigstes Land der EU das größte Hindernis für eine russische Dominanz auf dem eurasischen Kontinent darstellen. Wir könnten uns gar nicht so sehr verzwergen, um nicht aus dem Weg geräumt werden zu müssen für russische Großmachtsfantasien.

Von Anfang an war der Krieg in der Ukraine von Russland in mehreren Aussagen der russischen Führung als Auftakt zu einem Krieg gegen den Westen definiert. Dieses Ziel wird nicht verschwinden, wenn wir hundert Mal erklären, dass wir wirklich keine Bedrohung sein wollen und auf gar keinen Fall einen Atomkrieg möchten. Und ganz sicher nicht, wenn wir uns auf den Boden legen, unseren Bauch zeigen und klar signalisieren, dass wir uns nicht wehren werden, egal was passiert.

Die brennende Angst, dass man selber Opfer werden könnte, muss umgewandelt werden in die klare, aber ruhige Erkenntnis, dass man längst ein markiertes Ziel ist und diese Markierung auch durch noch so viel Appeasement nicht abwaschen kann. Die Frage, ob die Unterzeichner dieses offenen Briefs auch dann noch unterschreiben würden, wenn nicht Kiew sondern Berlin bombardiert werden würde, und die reale Gefahr der Vergewaltigung und Auslöschung der eigenen Familie, der eigenen Kinder besteht, sei mal dahin gestellt. Ich habe meine Zweifel, dass Juli Zeh dann einen Brandbrief an die Amerikaner schreiben würde, lieber nicht einzugreifen, weil sonst alles nur viel schlimmer werden würde. (…)

Wer die Lieferung schwerer Waffen zur reinen Landesverteidigung für Leib und Leben gegen einen übermächtigen Aggressor als Eskalation brandmarkt, hat jeden moralischen Kompass verloren. Man darf sagen, dass man eine Heidenangst vor der eigenen Courage hat, ja. Man darf auch sagen, dass man lieber feige und lebendig als mutig und tot wäre, auch das ist nachvollziehbar und menschlich. Man sollte es aber nicht als friedliebenden Pazifismus verkaufen, denn de facto wäre das in diesem Fall ein Kotau vor dem Recht des Stärkeren, oder wie Desmond Tutu sagte: “Wenn du in Situationen der Ungerechtigkeit neutral bist, hast du die Seite des Unterdrückers gewählt.” Das kann realpolitisch manchmal notwendig sein, aber sollte ganz sicher nicht zur Handlungsmaxime erhoben werden.

Darüber hinaus: Wer sich hinstellt und sagt, dass der Krieg mit Waffenlieferungen nur verlängert werden würde, verkennt, dass es sich vermutlich genau umgekehrt verhält: Wer zu erkennen gibt, dass er sich niemals wehren wird, ist ein attraktives Ziel.

Ich habe große Angst, dass der Krieg sich ausbreitet, und wir wirklich einen dritten Weltkrieg erleben. Aber noch größere Angst habe ich davor in einer Welt zu leben, in der Demokratien aus Angst vor Faschisten die Segel streichen. Die Drohung mit Atomwaffen ist so entsetzlich, dass sie gleichzeitig irrelevant wird. Wie der Tweet, den Sascha Lobo schon in seinem hervorragenden Essay zum Lumpenpazifismus zitierte, ausdrückt: “Weil wir nicht genau wissen, was Russland alles als Kriegserklärung verstehen könnte, habe ich mich entschieden die Spülmaschine heute nicht auszuräumen.” Wenn Russlands Drohung, Atomwaffen einzusetzen, einmal Wirkung zeigt, wird sie immer wieder ausgesprochen werden, und früher oder später wird der Punkt kommen, an dem man es drauf ankommen lassen muss, will man nicht alles verlieren. Dann besser jetzt. Es ist meiner Meinung nach keine Alternative, zurückzuweichen, denn das Endziel ist erklärtermaßen die Vernichtung der freien Welt.

Womit wir wieder bei der Ursprungsfrage wären: Wie wollen wir leben? Und im Zweifel – wie wollen wir sterben? Für alle in Westdeutschland aufgewachsenen Menschen erschien diese Frage lange Zeit reserviert für billige Filmplots, aber tatsächlich stellt sich diese Frage für sehr viele Menschen auf der Welt jeden Tag. Israel wird seit seiner Gründung durchgehend mit Vernichtung gedroht. Warum sollten wir davon ausgenommen sein? Warum sollte es uns besser ergehen als den Ukrainern? Wir haben uns daran gewöhnt, dass die quälendste Frage lautet, wohin wir wohl dieses Jahr in den Urlaub fliegen und ob wir 2 oder 4 Prozent Wirtschaftswachstum haben. Dass der Tag kommen könnte, an denen man tatsächlich etwas für seine Ideale opfern müsste, für Freiheit, für Selbstbestimmung, kommt uns völlig fremd vor. Fast schon peinlich möchtegern-heroisch.

Wir sind den Umgang mit Fanatikern nicht mehr gewohnt, und das macht die Situation so gefährlich. Viele denken, mit einem guten Gespräch und einem dicken Scheckbuch lässt sich eigentlich jedes Problem lösen, mit ausreichend gutem Willen, und können sich nicht mehr vorstellen, dass es Menschen gibt, die tatsächlich weder an Schecks noch an Gesprächen interessiert sind, sondern ausschliesslich an Ideologie, Dominanz und Gewalt. Die keinen Ausgleich wollen, sondern einen totalen Sieg. Mit jemandem, dessen erklärtes Ziel die Vernichtung der Gegenseite ist, lässt sich schwerlich verhandeln. Und der kann auch nicht mit Zurückhaltung besänftigt werden. (…)

“Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren.” Und wenn man das einmal wirklich in letzter Konsequenz begriffen hat, fällt die Entscheidung, was man tun sollte, nicht mehr schwer.“

Von der „blutigen Mathematik, die über uns herrscht“ (Albert Camus)

Einer der schönsten Texte von Kurt Tucholsky ist der über die „fünfte Jahreszeit“:

„Wenn der Sommer vorbei ist und die Ernte in die Scheuern gebracht ist, wenn sich die Natur niederlegt, wie ein ganz altes Pferd, das sich im Stall hinlegt, so müde ist es – wenn der späte Nachsommer im Verklingen ist und der frühe Herbst noch nicht angefangen hat –: dann ist die fünfte Jahreszeit.

Nun ruht es. Die Natur hält den Atem an; an andern Tagen atmet sie unmerklich aus leise wogender Brust. Nun ist alles vorüber: geboren ist, gereift ist, gewachsen ist, gelaicht ist, geerntet ist – nun ist es vorüber. Nun sind da noch die Blätter und die Gräser und die Sträucher, aber im Augenblick dient das zu gar nichts; wenn überhaupt in der Natur ein Zweck verborgen ist: im Augenblick steht das Räderwerk still. Es ruht. Mücken spielen im schwarz-goldenen Licht, im Licht sind wirklich schwarze Töne, tiefes Altgold liegt unter den Buchen, Pflaumenblau auf den Höhen … kein Blatt bewegt sich, es ist ganz still. Blank sind die Farben, der See liegt wie gemalt, es ist ganz still. Boot, das flußab gleitet, Aufgespartes wird dahingegeben – es ruht. So vier, so acht Tage – und dann geht etwas vor.

Eines Morgens riechst du den Herbst. Es ist noch nicht kalt; es ist nicht windig; es hat sich eigentlich gar nichts geändert – und doch alles. Es geht wie ein Knack durch die Luft – es ist etwas geschehen: so lange hat sich der Kubus noch gehalten, er hat geschwankt…, na … na…, und nun ist er auf die andere Seite gefallen. Noch ist alles wie gestern: die Blätter, die Bäume, die Sträucher… aber nun ist alles anders. Das Licht ist hell, Spinnenfäden schwimmen durch die Luft, alles hat sich einen Ruck gegeben, dahin der Zauber, der Bann ist gebrochen – nun geht es in einen klaren Herbst. Wie viele hast du? Dies ist einer davon. Das Wunder hat vielleicht vier Tage gedauert oder fünf, und du hast gewünscht, es solle nie, nie aufhören.

Es ist die Zeit, in der ältere Herren sehr sentimental werden – es ist nicht der Johannistrieb, es ist etwas andres. Es ist: optimistische Todesahnung, eine fröhliche Erkenntnis des Endes.

Spätsommer, Frühherbst und das, was zwischen ihnen beiden liegt. Eine ganz kurze Spanne Zeit im Jahre. Es ist die fünfte und schönste Jahreszeit.“

Etwas in dieser Art gibt es auch im Menschenleben: aus dem gewöhnlichen Fluss der Zeit herausgehobene Übergänge von einem Lebensalter zum nächsten. Die Psychologen, die oft das sagen, was wir alle längst wissen, nur in Worten, die wir nicht verstehen, sprechen von „Initiationserlebnissen“ und „Schwellensituationen“: Das Kleinkind, das mit einem Mal stehen und die ersten Schritte laufen kann; das Schulkind, das eine erste Ahnung von dem auch ihm irgendwann bevorstehenden Leben in der Welt der Erwachsenen bekommt; das beginnende Aufblühen erotischer Liebesgefühle; dann, meist irgendwann im dritten Lebensjahrzehnt, das Gewahrwerden, für sich und sein eigenes Leben selbst verantwortlich zu sein, was gleichzeitig bedeutet, jetzt zur Erwachsenenwelt zu gehören und deren Regeln und Bedingungen anerkennen zu müssen.

In diesem Bewusstsein lebt man nun drei, vielleicht vier Jahrzehnte, möglicherweise mal von einer „midlife crisis“ heimgesucht, bis der berufliche Ruhestand einen gravierenden Einschnitt im täglichen Lebensablauf mit sich bringt. Aber eben zumeist nur dies: der Alltag ist neu zu organisieren, die Zeit mit neuen Aktivitäten zu füllen. Indes, mit dem Gefühl des Altwerdens hat das zumeist wenig zu tun. Viele Menschen gehen heutzutage mit noch gut erhaltener Lebenskraft in den Ruhestand.

Dann aber, vielleicht mit Ende sechzig oder Anfang der Siebziger, empfindest Du das Altwerden plötzlich auch körperlich. Mit einem Mal spürst Du den Lastcharakter des Lebens in den Knochen. Deine physischen Kräfte lassen nach, vielleicht auch die geistigen. Namen, die Dir bestens vertraut sind, fallen Dir plötzlich nicht mehr ein. Sie liegen Dir auf der Zunge, aber Dein Geist will sie partout nicht freigeben.

Und plötzlich ist die Frage da, laut und unüberhörbar: Wie viele Frühlinge hast Du noch? Wie viele Spätsommer wirst Du noch erleben? Zwanzig, wenn Du Glück hast? Eine lange Zeit – aber so lang nun auch wieder nicht. Vielleicht sind es aber auch nur zehn, oder fünf. Und Du wirst gebrechlicher werden. Anders als bei Tucholsky bist Du in diesem Augenblick keineswegs sentimental, Dir wird unbehaglich. Du weißt nun nicht nur um Deine Vergänglichkeit, mit einem Mal spürst Du sie. Und anders als bei Tucholsky ist diese so deutlich empfundene „Erkenntnis des Endes“ keineswegs fröhlich, die Todesahnung mitnichten optimistisch.

Das Bewusstsein, das sich Dir nun aufdrängt und nicht wieder vergehen will, hat Albert Camus, der Philosoph des Absurden und der Revolte dagegen, bewundernswert nüchtern und klarsichtig beschrieben (zitiert nach Rainer Thurnheer, „Albert Camus“, in: Thurnheer u.a., „Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts“, Band 3, Beck Verlag, S. 304):

„Einer blutigen Mathematik gemäß, die über uns herrscht, müssen wir erkennen, dass unser Leben jederzeit und unwiederbringlich zu Ende sein kann. Dem Aufbegehren des Fleisches steht der Tod gegenüber, angesichts dessen sich klar sehende Seelen, die keinen Trost brauchen, keiner Täuschung hingeben. Er ist eine zuschlagende Tür. Ich sage nicht: eine Schwelle, die es zu überschreiten gilt – er ist ein furchtbares und schmutziges Abenteuer, mit dem die Herrlichkeit dieser Welt für immer vorbei ist.“

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„Auszug aus dem Register der 927 ewigen Wahrheiten“ (Sheldon B. Kopp)

In den 1970er Jahren war das Buch „Triffst du Buddha unterwegs…“ des amerikanischen Psychotherapeuten Sheldon B. Kopp eine Art Kultbuch. (Ein anderes Kultbuch in jener Zeit war Pirsigs „Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten“.)

Im Anhang fand sich ein „Auszug aus dem Register der 927 (oder waren es 928?) ewigen Wahrheiten“, vom Verfasser auch als eschatologischer Waschzettel“ bezeichnet.

Ob es an dem Orkan liegt, der gerade über Deutschland hinwegfegt – jedenfalls kam mir das heute wieder in den Sinn. Obwohl es sich jenseits jeglicher Politik im engeren Sinn bewegt, nehme ich es hier mit auf, sozusagen in einer Rubrik „mal ganz was anderes…“ .

Falls Sie annehmen sollten, ich würde die folgenden Statements auch allesamt für „ewige Wahrheiten“ halten: dies ist nicht der Fall! Diejenigen Aussagen, denen ich persönlich zustimmen würde, habe ich kursiv gesetzt.

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Was ist Zeit?

„Was ist Zeit“ – darüber diskutierte Gert Scobel in seiner gestrigen Sendung informativ und anregend mit einem Psychologen und Neurowissenschaftler, einem Philosophen und Physiker sowie einem Soziologen.

Scobel in seiner Einführung:

„Die Frage, die der Sendung zugrunde liegt lautet: Kann man das existentielle Problem der Zeit besser verstehen, vielleicht sogar klären, wenn man weiß, was Zeit auf physikalischer und auf biologisch-neurologischer Ebene ist? Lassen sich diese beiden höchst unterschiedlichen Ebenen der Betrachtung von Zeit überhaupt zusammen bringen?“

Ich habe vor Jahren mal versucht, mich dem Thema auf ganz andere Weise zu nähern.

Sommerabend

Ich sitz auf einer Bank am See,
ein Schloss liegt gegenüber.
Der Wind lässt kleine Wellen ziehen. 
Die Zeit zieht auch vorüber.

Die Sonne senkt sich groß und rot,
der Tag neigt sich zur Nacht.
Ein Liebespaar spaziert und lacht
und denkt nicht an den Tod.

Ich schau und ahn‘ die Dunkelheit,
der’s uns entgegentreibt.
Vorüber zieht die Welt mit mir,
allein die Zeit, sie bleibt.

Markus Wichmann

Wie halten Sie’s mit der Religion?

Gewiss macht es für christlich erzogene Menschen einen wesentlichen Unterschied, ob sie auch als Erwachsene noch gläubig sind, sich also mit den christlichen Glaubensinhalten identifizieren, oder nicht. Wer in der einen oder der anderen Richtung eine klare, eindeutige Position gefunden hat, sei es als gläubiger Christ oder als ungläubiger Atheist, hat diese Haltung vermutlich in sein geistiges und seelisches Leben integriert und ist in diesem Punkt mit sich im Reinen.

Wie steht es aber mit der großen Gruppe derjenigen, die nicht so recht wissen, was Sie von Gott und der Religion halten sollen? Die zahlreichen Zeitgenossen, die am christlichen Glauben zwar elementare Zweifel hegen, ihm aber niemals wirklich Lebewohl gesagt haben und die Frage nach ihrem Verhältnis zur Religion am liebsten unbeantwortet in der Schwebe belassen würden? Die vielen Schwankenden, die in ihrer Kindheit und Jugend ganz selbstverständlich in eine christliche Glaubenswelt hineingewachsen sind, sich im Laufe ihrer späteren Entwicklung aber ein rational geprägtes Weltbild angeeignet haben, in dem Jesus Christus und der liebe Gott nur noch schwer einen Platz finden.

Für viele Menschen ist es eine selbstverständliche, vertraute Gewohnheit, sich auch dann noch als Christen zu verstehen, wenn ihr Glaube mit ihrer erwachsenen, rational denkenden Persönlichkeit nicht mehr übereinstimmt. Im Alltag wird dies Spannungsverhältnis vermutlich zumeist kaum wahrgenommen; oft bedarf es existenzieller Grenzsituationen, um den schlummernden geistig-seelischen Konflikt bewusst werden zu lassen.

Falls auch Sie zu denjenigen gehören, die sich aus alter Gewohnheit als Christ betrachten, die Glaubensinhalte der christlichen Religion jedoch genau genommen nicht mehr für wahr halten, weil ihr Verstand ihnen recht eindeutig sagt, „ein Schmarren, das Ganze“: Würden Sie offen und ehrlich dazu stehen, sich selbst und anderen gegenüber?

Stellen Sie sich vor, Sie geraten in einen Gottesdienst und die Gemeinde betet das Vaterunser oder spricht das Apostolische Glaubensbekenntnis  – wie verhalten Sie sich dann? Beten Sie mit, oder bleiben Sie stumm?

Gehen wir einmal spielerisch davon aus, es sticht Sie der Hafer und Sie sprechen das Glaubensbekenntnis laut mit, bringen Ihren rational vorhandenen Unglauben dabei aber deutlich vernehmbar zum Ausdruck:

Ich glaube nicht an Gott, den Vater,
einen allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erde.

Und nicht an Jesus Christus,
seinen angeblichen Sohn, mitnichten unser Herr,
nie und nimmer empfangen durch den Heiligen Geist, sondern auf die bekannte, ganz natürliche Weise,
geboren von Maria, der Frau Josephs,
gelitten unter Pontius Pilatus,
gekreuzigt, gestorben und begraben,
allenfalls im metaphorischen Sinn hinabgestiegen in das Reich des Todes,
am dritten Tage jedoch keinesfalls auferstanden von den Toten
geschweige denn aufgefahren in den Himmel;
wo nichts und niemand sitzt,
außer ein paar Raumfahrer in ihrer Kapsel,
weshalb er weder von dort noch von sonstwo kommen wird,
zu richten die Lebenden und die Toten.

Ich glaube weder an den Heiligen Geist,
noch an die heilige christliche Kirche,
oder die Gemeinschaft der Heiligen,
auch nicht an die Vergebung der Sünden,
schon gar nicht an die Auferstehung der Toten
oder gar das ewige Leben.

Amen

Die erstaunte Aufmerksamkeit der Umstehenden wäre Ihnen gewiss, und die Reaktionen würden sich vermutlich im Bereich von amüsiert über indigniert bis entrüstet bewegen. Sie selbst würden eine derart offene Bekundung Ihres Unglaubens in einem Gottesdienst indes vermutlich für allzu groben Schabernack halten und die Verneinungsvarianten allenfalls im Stillen einfügen.

Was aber, wenn Sie überzeugter Christ sind?

Nehmen wir aber einmal an, Sie halten sich auch heute noch durch und durch für einen waschechten, gläubigen Christen. Dann ist Ihnen ja bekannt, dass das Apostolische Glaubensbekenntnis – das in sämtlichen katholischen Gottesdiensten zur üblichen Liturgie gehört, auf evangelischer Seite jedoch nur in Taufgottesdiensten gesprochen wird – die Kernaussagen des christlichen Glaubens in Kurzform enthält.

Welche der Aussagen dieses Glaubensbekenntnisses können Sie aber wirklich ernsthaft und guten Gewissens unterschreiben? Dass Jesus Christus der „eingeborene Sohn“ Gottes ist – geboren von der Jungfrau Maria, nachdem sie ihn durch den Heiligen Geist empfangen hatte? Ganz ohne Mitwirkung von Joseph oder eines anderen männlichen Samenspenders? Dass er am dritten Tag nach seinem Tod von den Toten auferstanden und in den Himmel aufgefahren ist (was uns immerhin die Osterfeiertage beschert hat)? Dass er dort jetzt zur Rechten Gottes sitzt, „des allmächtigen Vaters“, und eines Tages von dort kommen wird, um „die Lebenden und die Toten (…) zu richten“?

Hand auf’s Herz: Könnten Sie auf Ihren Eid nehmen, dass Sie diese Aussagen tatsächlich vollen Ernstes glauben, also für wahr halten?

Falls Sie jetzt einwenden, ich würde das zu eng sehen, darum gehe es doch gar nicht beim christlichen Glauben, sondern mehr um Ihre ganz persönliche Entscheidung, sich auf Gott und Jesus Christus einzulassen, ihnen zu vertrauen (also um das, was die Philosophen einen fiduziellen Glauben nennen und die Engländer „faith“ im Gegensatz zu „belief“), so würde ich meinerseits zu bedenken geben, dass Ihr emotional geprägter Glaube an Gott die Variante des Für-Wahr-Haltens, den sogenannten doxastischen Glauben, jedoch voraussetzt: Gottvertrauen können Sie nur haben, wenn Sie erst einmal davon überzeugt sind, dass es einen Gott gibt, dem Sie vertrauen können; dass er – wo und wie auch immer, aber jedenfalls außerhalb Ihres Kopfes – tatsächlich existiert und nicht nur ein Produkt der Phantasie ist wie Frau Holle oder die „Herrn der Ringe“. (Ob man ihn indessen „der“ oder lieber geschlechtsneutral „das Gott“ nennt, wie unsere Familienministerin Schröder vorziehen würde, ist vergleichsweise unwichtig.)

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Offene Fragen, staunend gestellt

Unsere Welt ist in einen derart schlechten Zustand geraten, dass man sich nur über alle Maßen wundern kann – oder ungläubig staunen.

Ich frage mich, ob das an dieser Stelle nicht eine gute Haltung ist. Ein Staunen, das angesichts der Konfrontation mit bedeutenden, aber unverständlichen Ereignissen und Vorgängen entstehen kann, das jedoch der Versuchung widersteht, zu raschen Antworten aus dem Fundus der üblichen, vertrauten Denkmuster und Erklärungskategorien zu greifen. In dem die offene Frage zunächst die Weite des geistigen Horizonts suchen und sich dort umschauen darf – und so vielleicht auf Hinweise und Denkanstöße trifft, die eher an die Wurzeln der Probleme heranreichen als das Streben nach einer sofortigen, fertigen Antwort es vermag, das immer die Gefahr kurzschlüssigen Denkens mit sich bringt. Ein Sich-Wundern, das Zwiespältigkeit, Ambiguität und kognitive Dissonanz toleriert, auch wenn eine solche Toleranz zumeist als unangenehm empfunden wird. Offen bleibende Fragen mögen wir, wenn uns ihr Thema stark berührt, überhaupt nicht. (Denken Sie an die vielen Angehörigen von Verbrechensopfern, die überzeugt sind, ihr Leid wäre gelindert, wenn der Fall bis in alle Einzelheiten aufgeklärt ist.)

Dieses Sich-Wundern, das entsteht, wenn wir geistig einen Schritt zurücktreten und die vermeintliche Sicherheit vorgefertigter Erklärungsmuster vermeiden, entspricht vielleicht dem Staunen, von dem man sagt, die Philosophie sei daraus entstanden.

Hier einige Beispiele für Fragen aus unserer heutigen politischen Welt, die mir spontan einfallen, ohne dass ich eine wirklich an die Wurzeln des jeweiligen Problems gehende Antwort hätte:

  1. Wie konnte es geschehen, dass sich in Griechenland ein derart ineffektives, marodes Staatswesen entwickelt hat, ohne dass man dort gegensteuerte? Zumindest die griechischen Politiker mussten doch erkennen, dass ihr Staat auf diese Weise irgendwann gegen die Wand läuft. Heute erwähnte ein griechischer Journalist im Fernsehen, dass kürzlich weit über 200 Söhne, Töchter, Neffen und Nichten von Parlamentsabgeordneten von eben diesen zu Staatsbeamten berufen wurden, ohne dass sie dafür ausgebildet waren oder ein entsprechender Bedarf bestanden hätte. Warum sind griechische Politiker – offenbar mehr oder weniger durchgängig – nicht mit den Erfordernissen ihres Amtes identifiziert, sondern orientieren sich bei dessen Ausübung vorwiegend an ihrem persönlichen Wohl? (Ferrari-Chef und möglicher Berlusconi-Nachfolger di Montezemolo: „Wir brauchen Personen, die Politik betreiben, um etwas zu geben, und nicht, um zu nehmen.“) Wenngleich man diese Tendenz auch andernorts findet, so doch –  auch im südeuropäischen Raum – nicht in diesem schamlosen Umfang. Warum unterscheiden sich die Griechen in diesem Punkt z.B. von den Italienern, zumindest, was das Ausmaß angeht?
  2. Warum sind so viele Staaten nicht bereit, die Notwendigkeit ehrgeizigerer Klimaschutzziele anzuerkennen, sondern tun stattdessen so, als könne man sich weiteres Zuwarten leisten (vgl. die kürzliche Meldung weltweit stark gestiegender Kohlendioxyd-Emissionen)? Das Hemd ist ihnen in der Klimapolitik regelmäßig näher als der Rock, obwohl diese Länder (USA, China etc.) zunehmend von – aller Wahrscheinlichkeit nach wesentlich klimabedingten – Naturkatastrophen getroffen werden (Hurrikans, Überschwemmungen etc.).
  3. Warum ist es immer noch nicht gelungen, Israel von der Notwendigkeit zu überzeugen oder auf andere Weise dazu zu bewegen, endlich den Nahostkonflikt zu beenden und mit den Palästinensern einen halbwegs gerechten Frieden zu schließen, was das Spannungspotential im gesamten Nahen Osten beträchtlich verringern würde? Stattdessen bauen die Israelis in den besetzten Gebieten weiterhin munter eine Siedlung nach der anderen.
  4. Warum treffen politische Maßnahmen, die in vergleichbaren Ländern bereits eingeführt wurden und sich dort als unschädlich erwiesen haben (Mindestlohn, Vermögenssteuer u.a.) in anderen Staaten auf derart erbitterten Widerstand?

Diese Fragen mögen naiv erscheinen – Tatsache ist, dass die betreffenden Probleme bisher nicht gelöst werden konnten. Aus den bisher gegebenen Antworten konnten offenbar wirksame Lösungswege nicht abgeleitet werden.

Ein gemeinsamer Nenner aller vier Fragen scheint mir übrigens die Überlegenheit von Interessenlagen („Partialinteressen“) gegenüber einer Haltung der Vernunft zu sein, die sich an einem funktionierenden, gelingenden Gesamtsystem orientiert – auch in Fällen, in denen der Verzicht auf eine vernünftige Lösung schwerwiegende destruktive Folgen nach sich zieht.

Auf eine sehr grundlegende Weise äußerte sich Sigmund Freud in seiner kulturtheoretischen Schrift „Die Zukunft einer Illusion“ (1927) zu diesem Problem:

„Wir mögen noch so oft betonen, der menschliche Intellekt sei kraftlos im Vergleich zum menschlichen Triebleben, und recht damit haben. Aber es ist doch etwas Besonderes um diese Schwäche; die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat. Am Ende, nach unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch. Dies ist einer der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft der Menschheit optimistisch sein darf… („Die Zukunft einer Illusion“ Leipzig : IPV, 1927. Kapitel X, Seite 87)

Freud erkennt natürlich – wie vor ihm Schopenhauer und Nietzsche –  die tendenzielle Machtlosigkeit der Vernunft gegenüber dem menschlichen Triebleben. Doch im Jahr 1927 zeigt er sich noch optimistisch und glaubt, dass von den beiden möglichen Ausgängen dieses immerwährenden Kampfes zwischen Trieb und Vernunft die „leise Stimme des Intellekts“ am Ende Gehör findet, „nach unzählig oft wiederholten Abweisungen“.

Einige Jahre später, unter dem Eindruck der Ausbreitung des Faschismus, betont er indessen,

die am Realitätsprinzip und an den Erfordernissen des menschlichen Zusammenlebens orientierte Zivilisation  sei eine dünne, zerbrechliche Schicht, die der Sphäre des Trieblebens und des Lustprinzips abgerungen und täglich aufs Neue gesichert werden muss –

was zuweilen gelingt, häufig aber scheitert.

Dilemma und historische Bedeutung der Libyen-Intervention

„Gaddafi darf nicht gewinnen!“ – unter dieser Überschrift veröffentlicht SPIEGEL online heute eine interessante und wichtige Analyse von Spiegel-Autor Thomas Darnstädt. Die These des promovierten Staatsrechtlers:

„Die Intervention der Alliierten in Libyen markiert eine Zeitenwende. Denn die Mächte des Weltsicherheitsrats haben entschieden: Menschenrechte sind wichtiger als Frieden um jeden Preis. Die Doktrin der Unantastbarkeit souveräner Staaten ist am Ende.“

Darnstädts weitgehende, nach meinem Eindruck allerdings reichlich optimistische Schlussfolgerung beruht vor allem darauf, dass mit der UN-Resolution 1973 zur militärischen Intervention in Libyen erstmalig ein Beschluss der UNO-Generalversammlung aus dem Jahr 2005 umgesetzt wurde, den Darnstädt zurecht als „spektakulär“ bezeichnet: die Schutzverantwortung bzw. „Responsibility to protect“. Sie besagt:

Falls ein Staat nicht willens oder in der Lage ist, seiner „Verantwortung für den Schutz seiner Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nachzukommen, ist die UNO „bereit, im Einzelfall und in Zusammenarbeit mit den zuständigen regionalen Organisationen rechtzeitig und entschieden kollektive Maßnahmen über den Sicherheitsrat im Einklang mit der Charta, namentlich Kapitel VII, zu ergreifen, falls friedliche Mittel sich als unzureichend erweisen und die nationalen Behörden offenkundig dabei versagen, ihre Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen.“ (Der Hinweis auf Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen bezieht sich auf Artikel 42, nach dem der Einsatz von „Luft-, See- oder Landstreitkräften von Mitgliedern der Vereinten Nationen (…) zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“ möglich ist.)

In seiner Analyse beschreibt Thomas Darnstädt die historische Bedeutung

  • der Resolution 1973 des Sicherheitsrates und
  • der durch diesen Beschluss völkerrechtlich legalisierten Intervention in Libyen:

„Niemals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat die Gemeinschaft der friedliebenden Völker der Welt so schnell und so einmütig reagiert wie auf die Eskalation in Libyen – und noch nie seither so kriegerisch. Was der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschlossen hat – den Schutz der Menschenrechte in Libyen mit ‚allen‘, also auch mit kriegerischen Mitteln -, wird in die Geschichte des Völkerrechts eingehen: als Wendepunkt im Umgang mit Krieg und Frieden.

Am Fall Gaddafi hat der Weltsicherheitsrat ein Exempel statuiert, auf das Völkerrechtler in aller Welt seit Jahren gewartet haben. Im Angesicht eines angekündigten Massenmords entschied das mächtigste Gremium der Welt eine alte Streitfrage. Was ist wichtiger: Frieden oder Menschenrechte? Die Antwort in diesem Fall: Menschenrechte. Der Sicherheitsrat hat in seiner Resolution 1973 das Gewaltverbot ausgesetzt, das laut Uno-Charta zwischen Staaten gilt. Nun sollen Bomben und Raketen ausländischer Mächte die Libyer vor ihrem Despoten schützen.

Die Entscheidung ist zugleich eine spektakuläre Absage an die überkommene Völkerrechtslehre, wonach alle Staaten, ob gut oder böse, das gleiche Recht haben, ihre inneren Angelegenheiten allein zu lösen – also auch, wenn sie ihre Bevölkerung drangsalieren. Die Doktrin von der unantastbaren Souveränität der Staaten ist am Ende.

Der Autor zeichnet die Entwicklung nach, die zu dem Schutzverantwortungs-Beschluss der UNO geführt hat:

„Frieden, diese Doktrin hatte stets gegolten, hat Vorrang vor Menschenrechten: Es wird kein Krieg angefangen, um Blutvergießen zu verhindern. So musste 1999 die Nato ihren Bombeneinsatz gegen Serbiens Gewaltherrscher Slobodan Milosevic zum Schutz der Kosovaren ohne den Segen des Sicherheitsrats durchziehen – völkerrechtlich gesehen ein rechtswidriger Überfall auf einen fremden Staat.

Ruanda, Kongo, Bosnien, Darfur: Die Jahrtausendwende war geprägt von Massakern, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und die Uno sah zu: Nichts schien schlimm genug zu sein, um ein militärisches Eingreifen zu rechtfertigen. Viele Völkerrechtler forderten daraufhin, dass dieser Club der souveränen Staaten die Menschenrechte nicht nur mit internationalen Gerichten, sondern auch mit Panzern und Raketen schützen müsse. Daraus entstand schließlich ein spektakulärer Beschluss der Uno-Generalversammlung: 2005 formulierten die Staatenvertreter ganz, ganz vorsichtig, die Weltgemeinschaft habe eine ‚Responsibility to protect‘ (‚R2P‘). Diese könne unter Umständen und mit Billigung des Sicherheitsrats zum Schutze vor Völkerrechtsverbrechen auch mit ‚nicht friedlichen‘ Mitteln ausgeübt werden. Aber, schränkte das Gremium ein, nur ‚von Fall zu Fall‘. (…) Und so fragten sich die Experten: Würde das zaghafte R2P-Papier der Uno jemals einen militärischen Angriff auf Menschenquäler in Gang bringen können?

Sechs Jahre lang hielten Menschenrechts-Streiter den Atem an. Wann würde R2P erstmals auf die Probe gestellt? Gaddafi ist der Fall, auf den alle gewartet hatten. So ist nachvollziehbar, dass nach der Mehrheitsentscheidung in New York nicht nur bei den libyschen Rebellen Jubel ausbrach – sondern auch bei vielen Völkerrechtlern. Und dass Deutschland, das sich in dieser Schicksalsfrage der Stimme enthalten hat, als verantwortungslos kritisiert wurde.“

Es gibt jedoch ein Dilemma:

„Der Fall Gaddafi zeigt zugleich, wie problematisch die neue Lehre des Völkerrechts ist. Denn im Engagement der Koalition für Libyen überschneiden sich zwei Ziele, die kaum voneinander zu trennen sind: der Schutz der Zivilbevölkerung und die Beseitigung des Menschenquälers in Tripolis.

Gaddafi darf nicht gewinnen: Hinter diesem Satz steckt der unbedingte Wunsch, die Menschen zu retten, die er bedroht – und womöglich auch den Aufständischen zum Erfolg zu verhelfen, die ihn vertreiben wollen. Doch der zweite Teil des Plans – das Eingreifen in den Bürgerkrieg – steht der Uno nicht zu.“

Das völkerrechtliche Dilemma lässt sich noch exakter formulieren –  es besteht zwischen dem Gewaltmonopol der Regierung eines souveränen Staates hinsichtlich seiner inneren Angelegenheiten einerseits und dem Schutz der Zivilbevölkerung andererseits:

Bis zu welchem Punkt hält sich die Völkergemeinschaft heraus, wenn ein Staat militärisch gegen Aufständische vorgeht, und ab wann greift sie zum Schutz der Zivilbevölkerung ein – und setzt sich damit über das völkerrechtlich garantierte Gewaltmonopol des jeweiligen Staates hinweg? Stellen wir uns vor, in einigen Regionen Chinas kommt es zu Volksaufständen, denen die chinesischen Machthaber militärisch begegnen würden. Was dann? Wie soll die Völkergemeinschaft reagieren, wenn die arabische Demokratiebewegung auch im Iran zu breiten Aufständen führt? Und was ist mit Tschetschenien?

Am Ende seiner Analyse formuliert der Spiegel-Autor Befürchtungen hinsichtlich der Folgen der Intervention in Libyen (die ich nicht teile bzw. für übertrieben halte):

„Wer versucht, Gaddafi dauerhaft von der Macht zu vertreiben, könnte damit den edlen Plan zunichte machen, die Menschenrechte von Zivilisten zu schützen. Im schlimmsten Fall könnte das zu einem jener Kriege führen, die zu verhindern die Uno einst gegründet worden ist: einem puren Machtkampf um die Vorherrschaft am Mittelmeer.“

Man kann in einem Bürgerkrieg die Menschenrechte der Zivilisten nicht schützen, ohne in den Bürgerkrieg einzugreifen. Das ist schlechterdings unmöglich. Im libyschen Bürgerkrieg kämpft die Zivilbevölkerung gegen ein Terrorregime, um sich davon zu befreien. Gegen diese kämpfenden ebenso wie gegen die nicht-kämpfenden Zivilisten setzt Gaddafi – mehr oder weniger unterschiedslos – seine gesamte Militärmaschine ein. Die libysche Zivilbevölkerung ist nur zu schützen, indem nicht nur Gaddafis Flugzeuge, sondern auch seine anderen Vernichtungswaffen zerstört oder zumindest in Schach gehalten werden – und zwar solange, bis er den Kampf gegen seine revoltierende Bevölkerung einstellt.

01.04.2011:

Inzwischen habe ich gelernt, dass es – aus völkerrechtlicher Perspektive – so einfach nicht ist. In dem Augenblick, in dem die Zivilbevölkerung in einen bewaffneten Kampf gegen die Staatsgewalt eintritt, werden diese bewaffneten Kämpfer völkerrechtlich zu Kombattanten und hören auf, zur Zivilbevölkerung zu gehören. Auch in Libyen ist ein Schutz der bewaffneten Rebellen oder gar ein Eingreifen zu ihren Gunsten völkerrechtlich nicht legitim und auch durch die Sicherheitsratsresolution 1973 nicht gedeckt (s. unten der Hinweis auf Prof. Reinhard Merkel).

Die Frage ist nur, was geändert bzw. angepasst werden sollte: Das Handeln der Alliierten in Libyen an das Völkerrecht, oder das Völkerrecht an den gesunden menschlichen Moralverstand.

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Auszug aus dem Wikipedia-Artikel „Bürgerkrieg“:

„Die militärische Intervention zugunsten der Aufständischen verletzt das Gewaltverbot der UN-Charta und ist deshalb immer völkerrechtswidrig. Auch sonstige Unterstützung der Aufständischen stellt einen unzulässigen Eingriff in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates dar. Humanitäre Hilfe für die Opfer und technische sowie wirtschaftliche Hilfe dürfen geleistet werden, wenn letztere nicht dazu gedacht sind, den Ausgang des Bürgerkrieges zu beeinflussen. (…)

Die Einstufung eines bewaffneten Konflikts als Bürgerkrieg birgt für die Beteiligten, insbesondere für die Aufständischen, im Hinblick auf das humanitäre Verhalten der Gegenseite erhebliche Nachteile. Nach dem Völkerrecht gilt ein Bürgerkrieg eigentlich als innere Angelegenheit eines Staates. “

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Ein weiterer Spiegel-Artikel von heute (Autor: Carsten Volkery) greift das beschriebene Problem auf und denkt es weiter: „Was tun mit Gaddafi?“ „Der Westen steht vor einem Dilemma: Die Uno-Resolution deckt keinen militärisch erzwungenen Regimewechsel in Libyen – doch solange Gaddafi an der Macht bleibt, ist sein Volk in Gefahr. Wäre ein Volltreffer auf Gaddafis Residenz die Lösung?“

Eine andere völkerrechtliche Auffassung vertritt u.a. Prof. Reinhard Merkel, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg, in einer ausgezeichneten Hörfunksendung des Hessischen Rundfunks: Libyen – Die Bomben und das Völkerrecht

Kritisch äußert sich auch Ulrich Ladumer (Zeit): „Eine Intervention voller Widersprüche“ (29.03.2011)

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Vor dem Hintergrund des oben dargelegten Dilemmas gibt es unter Völkerrechtlern, Friedensforschern und  Menschenrechtsaktivisten eine umfangreiche, engagierte Debatte um die Bedeutung und Auslegung des UN-Beschlusses zur „Responsibility to Protect“ sowie der Resolution 1973 des Sicherheitsrates: daher hier Informationen und Links zu einigen wichtigen Diskussionsbeiträgen.

Der Mensch – ein „Gott der Erde“?

„Das Gewebe dieser Welt ist aus Notwendigkeit und Zufall gebildet; die Vernunft des Menschen stellt sich zwischen beide und weiß sie zu beherrschen; sie behandelt das Notwendige als den Grund ihres Daseins; das Zufällige weiß sie zu lenken, zu leiten und zu nutzen. Und nur, indem sie fest und unerschütterlich steht, verdient der Mensch, ein Gott der Erde genannt zu werden.“ Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre I,17

Hat er das nicht schön gesagt, unser großer Dichter und Denker? Wenn er wüsste, wie weit wir heute, gut 200 Jahre später, davon entfernt sind.

Das Gewebe unserer Welt wird vor allem von Menschen gemacht. Menschen, die sich in Lebensverhältnissen vorfinden, Bedürfnisse haben, außerdem gewisse Fähigkeiten, mit denen sie ihre Interessen verfolgen. Dabei sind sie oft alles andere als vernünftig.

Das mit der Vernunft, diesen Eindruck muss man haben, hat der Homo sapiens in seiner Gesamtheit inzwischen mehr oder weniger aufgegeben. Der von der Aufklärung inspirierte Gedanke, als vernunftbegabtes, mündiges Wesen ein „Gott der Erde“ zu werden, hat sich nicht durchsetzen können. Irgendwie läuft heute alles in eine andere Richtung. Zwar verfügen wir über eine grandiose „instrumentelle“ Intelligenz, die uns zu wissenschaftlich-technischen Leistungen befähigt, über die man nur staunen kann – aber Vernunft? Weisheit gar? Homo sapiens?

Der große Kant hatte uns vor 200 Jahren zum eigenen, autonomen Denken aufgefordert, zu einem Denken, das sich nicht an den gerade vorherrschenden Denksystemen, Glaubensrichtungen und Ideologien orientiert und sie mehr oder weniger kritiklos übernimmt, sondern die Dinge dieser Welt mittels des eigenen Verstandes beurteilt und bewertet.

Kant, Was ist Aufklärung?

Viele wollen diese persönliche Autonomie indes gar nicht, sie macht ihnen Angst. Anstatt sich ihres „eigenen Verstandes zu bedienen“, wie Kant empfahl, glauben sie lieber den uralten „heiligen Schriften“. Was davon abweicht, wird geleugnet, selbst wissenschaftlich erwiesene, rational nicht bestreitbare Tatsachen wie die Evolution. Sie brauchen das Gefühl, der allmächtige Gott, Schöpfer alles Bestehenden, den sie an den Himmel projizieren, wird es schon richten, und hoffen, es wird letztlich gut für sie ausgehen. Wenn nicht hier und jetzt, dann eben im Jenseits.

Religiöse Fundamentalisten glauben an Gott nicht im Sinne eines grundlegenden Vertrauens in die wesentlichen Inhalte ihrer Religion im Großen und Ganzen (engl. „faith“), sondern sie halten jede Einzelheit ihrer heiligen Texte für wahr, genau so, wie sie geschrieben sind, Wort für Wort (engl. „belief“). Der psychische Entwicklungsstand dieser Menschen lässt sie nach einer klaren und eindeutigen Leitlinie suchen, vorgegeben von einer absoluten Autorität, die als heilig verehrt und nicht in Frage gestellt wird. Nur dies vermittelt Fundamentalisten ein Gefühl der sicheren Orientierung.

Diese Menschen sind zwar unmündig im Kantschen Sinne, haben dies aber nicht selbst verschuldet. Denn es mangelt ihnen an der grundlegenden psychischen Fähigkeit der Ambiguitätstoleranz. Sie sind unfähig, Unklares, Mehrdeutiges zu ertragen und Orientierung in sich selbst zu finden. Die Leitlinie muss von außen kommen, von einer absoluten Autorität, die sie nicht in Frage stellen. Auslegungen, Deutungen, Interpretationen würden bedeuten, dass es Spielräume gibt, die man mangels klarer äußerer Vorgaben mit eigenen Urteilen und Bewertungen zu füllen hat. Dies ist den Betroffenen jedoch nicht möglich.

Warum gibt es heute so viele Menschen, die Religion nicht zum „Heil“ führt, sondern zu erschreckend pathologischem Denken und Handeln? Kann man etwas dagegen tun?

Papst Benedikt – man mag zu ihm stehen, wie man will – nennt an dieser Stelle die Dinge immerhin beim Namen und spricht von „Pathologien der Religion“.

Heute, wo wir die Pathologien, die lebensgefährlichen Erkrankungen der Religion und der Vernunft sehen, die Zerstörungen des Gottesbildes durch Hass und Fanatismus, ist es wichtig, klar zu sagen, welchem Gott wir glauben und zu diesem menschlichen Antlitz Gottes zu stehen. Papst Benedikt XVI. am 12. September 2006 in seinem Regensburger Vortrag

Tatsächlich handelt es sich indes kaum um Pathologien der Religion, sondern vielmehr um Pathologien von Menschen, die extreme religiöse oder ideologische Überzeugungen an passender Stelle in ihre bereits vorgängig gestörte mentale Struktur einbauen, da sie die Disposition haben, in extremen Glaubensvorstellungen persönliche Orientierung für sich zu suchen und zu finden.

Siehe auch: