Parallelen 1919 – 2019

Die heutzutage allmorgendlich von zahlreichen Medien via Mail versandten „Morning Briefings“ sind in aller Regel allein für den jeweiligen Tag geschrieben. Zumeist präsentieren sie aktuelle politische Ereignisse in Kurzform und weisen auf eingehendere Beiträge dazu in der jeweiligen Publikation hin. „Morning Briefings“ sollen nicht zuletzt unterhalten, daher fügen die Autoren zumeist ihre eigenen möglichst originellen Kommentare hinzu.

Als ungekrönter König dieses Genres kann gewiss der ehemalige Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart gelten, der sein tägliches Morning Briefing mit seinen scharfsinnigen, eloquent formulierten Anmerkungen zu einer Form journalistischer Kleinkunst entwickelte und damit zur Popularisierung dieses Formats wesentlich beitrug. Mit einem allzu bissigen, vielerseits als niederträchtig empfundenen Kommentar zum damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Schulz im Februar letzten Jahres vergaloppierte Steingart sich jedoch total und wurde von Handelsblatt-Verleger Holtzbrinck daraufhin unverzüglich gefeuert. Inzwischen hat Steingart seine tägliche Morgengabe noch um Podcasts erweitert und darum herum ein eigenes Medienunternehmen aufgebaut.

Eine ganz andere Variante dieses Genres konnte man am Sylvestertag im täglichen Morning Briefing des Spiegel („Zur Lage“) lesen. Der stellvertretende Chefredakteur des Blattes, Dirk Kurbjuweit, erteilte eine niveauvolle Geschichtsstunde, interessant und lehrreich über den Tag hinaus.

Zum bevorstehenden Jahreswechsel verglich er die gegenwärtige weltpolitische Lage mit dem Jahr 1919, dem ersten nach Ende des I. Weltkriegs, und einem, wie Kurbjuweit zurecht feststellt, „der großen, wichtigen Jahre der Weltgeschichte“. Der Autor erkennt verblüffende Parallelen zur heutigen weltpolitischen Situation und denkt darüber nach, welche Lehren aus den vor hundert Jahren erfolgten unheilvollen Weichenstellungen heute zu ziehen wären. Damals habe „die Welt ihre große Chance“ gehabt, sie aber nicht zu nutzen verstanden, mit weitreichenden, katastrophalen Folgen.

Ergänzt durch Verweise zu einschlägigen Hintergrundinformationen dokumentiert der „Denkraum“ wesentliche Teile der klugen, geschichtskundigen Gedanken des Spiegel-Journalisten.

„Eben wurde der Erste Weltkrieg beendet, die Weltordnung brach zusammen. Vier große Reiche gingen zugrunde, das Deutsche Kaiserreich, Österreich-Ungarn, das Zarenreich, das Osmanische Reich. Die alte Welt lag in Trümmern, und gleichzeitig keimten gewaltige Hoffnungen.

Die russischen Bolschewisten hatten ein neues Zauberwort in die Welt gerufen: Selbstbestimmungsrecht. Die Völker sollten selbst entscheiden, in was für einem Staat sie leben wollten. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson machte es sich zu eigen und wurde zum Superstar der damaligen Politik, ähnlich wie Barack Obama zu Beginn seiner Amtszeit. Neue Staaten entstanden, und viele wurden Demokratien.

Auch Emanzipation war ein großes Thema. Die Kolonien von Frankreich und Großbritannien hatten Soldaten nach Europa geschickt, hatten einen hohen Blutzoll gezahlt, nun wollten sie mit Freiheiten belohnt werden. Schwarze in den USA drängten auf Gleichberechtigung. Weil die Männer im Krieg waren, mussten die Frauen daheim andere Rollen übernehmen. Auch die feministischen Anführerinnen drängten mit neuem Selbstbewusstsein auf gleiche Rechte.

All diese Hoffnungen richteten sich auf Paris. Dort begann am 18. Januar 1919 die große Friedenskonferenz. Als Wilson anreiste, strömten die Massen auf die Straßen und jubelten. Wilson wollte einen Völkerbund etablieren, einen neuen Mechanismus für einen ewigen Frieden. Die Freiheits- und Emanzipationsbewegungen schickten Delegationen. Die Welt hatte Anfang 1919 ihre ganz große Chance.

In einem Buch des schwedischen Schriftstellers Per Olov Enquist las ich vor vielen Jahren einen Satz, den ich nicht vergessen habe, an den ich manchmal denken muss, bei privaten, aber auch bei politischen Ereignissen. Er lautet: „Wenn alles so gut angefangen hatte, wie konnte es so schlimm enden.“ Das ist auch ein Satz für das Jahr 1919 und die Zeit danach.

Das erste wichtige Ergebnis der Pariser Konferenz war der Versailler Vertrag, der am 28. Juni 1919 zähneknirschend von der deutschen Delegation unterzeichnet wurde. Es waren Bedingungen, die der blutjungen deutschen Demokratie das Leben schwer machten, wirtschaftlich, aber vor allem psychologisch – viele Deutsche fühlten sich gegängelt und gedemütigt. Auch von Versailles führte ein Weg zu Hitler, aber natürlich nicht der einzige.

Der amerikanische Kongress ratifizierte den Vertrag nicht, die USA traten dem Völkerbund nicht bei. Es folgte keine Phase der Isolation, aber doch der Zurückhaltung. Europa blieb weitgehend sich selbst überlassen. Bis Ende der Dreißigerjahre hatten sich viele Demokratien in autoritäre Staaten verwandelt. Auch von der Emanzipation blieb nicht viel übrig, nicht für die Kolonien, nicht für die schwarzen Amerikaner.

Die Hoffnungen der Araber auf einen großen eigenen Staat wurden ebenfalls enttäuscht. Briten und Franzosen teilten den Nahen Osten in Einflusszonen auf, mit Folgen bis heute. (…)

Das alles wussten die Menschen zu Silvester 1918/19 nicht. Sie betrauerten ihre Toten, litten Hunger, kämpften gegen die Spanische Grippe, dachten vielleicht, dass es nur besser werden kann. Die Deutschen hofften auf einen „Wilson-Frieden“, wie sie damals sagten, einen gnädigen Frieden, aber wie fast alle Heilsbringer in der Politik war Wilson eine Enttäuschung (Obama in anderen Verhältnissen ebenfalls).

Kurbjuweit ist überzeugt, dass wir „hundert Jahre später noch immer in einer Welt (leben)“, die von den damals erfolgten weltpolitischen Weichenstellungen, „von Paris und den anderen Konferenzen nach dem Ersten Weltkrieg“, stark geprägt ist. Es gehe uns zwar heute weit besser als den Menschen damals, aber vielleicht hätten wir gerade deshalb heute weniger Hoffnung, dass es besser wird, sondern eher Angst, es werde schlechter kommen.

Aus den Auswirkungen des Jahres 1919 und der Zeit danach leitet der Spiegel-Journalist auch seine „politischen Wünsche für das neue Jahr (…) her“ – Empfehlungen, in denen Kurbjuweit aus der Geschichte Lehren für die heutige Weltpolitik abzuleiten versucht. Die darin zum Ausdruck kommenden politischen Denkmuster sind zum Teil gewiss diskussionsbedürftig, aber immerhin diskussionswürdig (s. Kommentare).

„Erstens: Junge Demokratien brauchen Hilfe, brauchen Anleitung, man kann sie nicht sich selbst überlassen. In Europa ist das nicht mehr Sache der US-Amerikaner, sondern der Europäischen Union. Sie nimmt diese Aufgabe gegenüber Polen oder Ungarn an, aber nicht entschlossen genug, zum Teil aus parteipolitischen Interessen. Das muss sich ändern.

Zweitens: Der Flirt mit autoritären Gedanken ist gefährlich. Man sollte immer bedenken: Ein autoritäres System hat nach den Erfahrungen der Geschichte eine weit höhere Affinität zum Krieg, gerade zum großen Krieg, als eine liberale Demokratie.

Drittens: Amerika wird gebraucht. Es gab vielleicht schon 1919 die Chance, einen großen Westen zu etablieren, mit Deutschland, mit den anderen jungen Demokratien, unter amerikanischer Führung. Die Geschichte wäre anders verlaufen. In unseren Zeiten ist der Westen stark von autoritären Regimen herausgefordert, von China, von Russland. Der Westen braucht Geschlossenheit und ein starkes, an Europa interessiertes Amerika, um bestehen zu können.

„Wenn diese Wünsche erfüllt würden“, so schließt Kurbjuweit, anknüpfend an dem zitierten Gedanken des Schriftstellers Per Olov Enquist, seine Überlegungen, dann „müsste das, was gut angefangen hat, nicht schlimm enden“.