Die scheinbare Rationalität der vorherrschenden ökonomischen Theorien beruht auf irrationalen Hypothesen über den Menschen als Wirtschaftssubjekt (ähnlich wie im Fall des Marxismus, nur sind die Irrtümer andere). Falsche Grundannahmen haben zu einem bizarren Theoriegebäude und in der Folge zu einem absurden finanzgesteuerten Kapitalismus geführt. Diese sich mehr und mehr durchsetzende Erkenntnis erläutert der französische Ökonom André Orléan in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk.
Auf die ausgezeichnete Sendereihe „Wirtschaftsweise ratlos“ des Deutschlandfunks zu den „Versäumnissen der Nationalökonomie und deren politische Folgen“ hatte ich bereits hingewiesen.
„Als im Herbst 2008 die größte Weltwirtschaftskrise seit 1929 hereinbrach, stand die überwältigende Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler nackt da. Kaum einer hatte die Katastrophe kommen sehen. Die moderne Volkswirtschaftslehre mit ihrem unbeirrbaren Glauben an die Rationalität der Wirtschaftssubjekte wurde zum ersten Opfer der Krise.“
Nach der ersten Sendung mit einem Interview von Stefan Fuchs mit Financial-Times-Chefkommentator Martin Wolf, in dem dieser den weitreichenden Einfluss der vorherrschenden makroökonomischen Schulrichtungen auf den politischen Umgang mit den Finanzkrisen der letzten Jahre kritisch erläuterte, wurde nun das zweite Interview mit dem französischen Ökonomen André Orléan ausgestrahlt.
André Orléan, Mitverfasser der vor allem in Frankreich vielbeachteten Streitschrift „Manifest der bestürzten Ökonomen“, kritisiert die derzeit vorherrschenden neoklassischen Wirtschaftstheorien noch erheblich grundsätzlicher und weitgehender als Martin Wolf.
Hier zwei Auszüge aus dem hochinteressanten Gespräch (der Anfang und das Ende – Hervorhebungen von mir):
Stefan Fuchs: Herr Orléan, die schweren Turbulenzen, das Auf und Ab von Ängsten und Hoffnungen, mit denen die Finanzmärkte nun schon seit gut drei Jahren die Menschen in Atem halten. Das Rätselraten, das fortgesetzte Stochern im Nebel, ob die Krise überwunden ist oder ob uns das Schlimmste vielleicht erst noch bevorsteht. Die Dauerkrise des Euro schließlich, die Ohnmacht oder Unfähigkeit der Politik. Zeigt all das nicht überdeutlich, dass die Wissenschaft, die sich um die Analyse des Wirtschaftsgeschehens bemüht, auch dreihundert Jahre nach ihrer Gründung noch in den Kinderschuhen steckt?
André Orléan: Ganz sicher stellt diese Krise drängende Fragen an die Wirtschaftswissenschaftler. Umso mehr als die Disziplin sie nicht hat kommen sehen. Die Theorie hat vor der globalen Dominanz der Finanzmärkte nicht gewarnt. Ganz im Gegenteil: Noch kurz vor der Krise schwelgen die Berichte des Internationalen Währungsfonds in Optimismus. Man glaubte, die Weltwirtschaft durchlaufe eine Periode großer Stabilität. Man hatte die Krise nicht nur nicht vorhergesehen, man hatte selbst die Möglichkeit von systemischen Krisen verdrängt.
Heute ist der Abgrund zwischen den theoretischen Modellen, den daraus resultierenden politischen Rezepten und dem, was tatsächlich passiert, unüberbrückbar. Die Disziplin hat die Vorherrschaft der Kapitalmärkte aktiv unterstützt. Dass auf diese Weise optimale Effizienz erreicht werden könne, war ihre ureigenste Vorstellung.
Ich denke, die meisten Volkswirtschaftler sind heute bereit, das Versagen ihrer Disziplin anzuerkennen. Uneinigkeit gibt es über die Frage: Wie muss sich die Theorie ändern? Da gibt es unterschiedliche Haltungen. Viele Wissenschaftler an den Universitäten und in der Forschung wollen am bestehenden Theoriegebäude der Neoklassik festhalten. Sie sind überzeugt, dass es auch innerhalb dieses Rahmens die Möglichkeit gibt, das Versagen der Märkte und das Entstehen von Spekulationsblasen zu erklären. Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz ist der prominenteste Vertreter dieser Fraktion. Man versteht, dass eine Mehrheit der Wirtschaftswissenschaftler dieser Denkrichtung folgt, erspart sie ihnen doch die Revision ihrer Grundannahmen. In Frankreich, in Deutschland in den USA glaubt eine Mehrheit der Forscher, dass man im Prinzip das neoklassische Standardmodell retten kann.
Ich dagegen bin überzeugt, dass wir einen Neuanfang brauchen. Ich bin mir der Tragweite dieses Vorsatzes durchaus bewusst. Wenn mir jemand sagen würde, wir müssen die Physik neu begründen, würde ich ihn für einen Illuminaten halten. Das Lehrgebäude der Physik ruht auf soliden Grundlagen. In den Wirtschaftswissenschaften aber gibt es diese Notwendigkeit einer Neugründung, weil die Grundannahmen unsicher sind. Und wenn wir diese nicht grundlegend ändern, können wir die Wirklichkeit nicht angemessen verstehen.
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Stefan Fuchs: Um das noch einmal ganz klar zu machen. Wenn man diesem Modell folgt, (…) muss man sich verabschieden von der Vorstellung, dass die Finanzmärkte eine optimale Verteilung der zur Verfügung stehenden Ressourcen darstellen können.
André Orléan:Man kann diesen autoreferenziellen Märkten nicht vertrauen. Sie täuschen sich ständig. Sie zur entscheidenden Instanz in der Wirtschaft zu machen, wie das im gegenwärtigen finanzgesteuerten Kapitalismus geschieht, ist völlig absurd.Die Finanzmärkte über die Verschuldungsraten der verschiedenen europäischen Staaten entscheiden zu lassen, ist schlicht abwegig. Sie mäandern von einer Übertreibung zur anderen. Vor 2007 haben die Finanzmärkte das Risiko der Staatsschulden systematisch falsch eingeschätzt. Sie haben allen Staaten der Eurozone die gleichen Zinsen berechnet. Portugal und Griechenland bewegten sich auf dem gleichen Zinsniveau wie Deutschland oder Frankreich. Heute täuschen sie sich wieder, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. Die Zinsen, die Italien heute berechnet werden, sind astronomisch.
Damit kommen wir zu Ausgangsfrage der Verantwortung der Wissenschaft zurück. Die Vorstellung, dass die Konkurrenz auf den Finanzmärkten zur Effizienz führe, dass sie so wie die Konkurrenz auf den Warenmärkten funktioniere, wie die Konkurrenz, die Adam Smith beschreibt, dieses moderne Konzept der effizienten Konkurrenz hat uns in diesen Finanzkapitalismus geführt. Das war die Kernbotschaft der Wirtschaftswissenschaftler in den letzten 20 Jahren, das ist der große Irrtum der wirtschafts- und finanzwissenschaftlichen Theorie.
Das Gespräch ist als Text nachzulesen oder als „Audio on Demand“ (MP3 oder Flash) nachzuhören.
Siehe auch:
- Manifest der bestürzten Ökonomen – Die Schuldenkrise in Europa: 10 offensichtliche Fehler und 22 Maßnahmen, um die Debatte aus der Sackgasse zu führen (deutsche Übersetzung des Manifests von Peter Rödler, Uni Koblenz)
- Zu den „Empörten“ kommen die „Bestürzten“ – Rolf Streckbei Telepolis, 14.08.2011
- „Mit den Turbulenzen an den Finanzmärkten, in die immer stärker auch Frankreich hineingezogen wird, ist ein kleines Büchlein beim Nachbarn zum Bestseller geworden. Im „Manifeste d’économistes atterrés“ machen „bestürzte Wirtschaftswissenschaftler“ (…) den Neoliberalismus für die Entwicklungen an den Finanzmärkten verantwortlich. Sie weisen darauf hin, dass hier lediglich Glaubenssätze als scheinbare wissenschaftliche Erkenntnisse verkauft werden.“
- Der Spiegelfechter präsentiert das Manifest der „économistes atterrés“ (der entsetzten, schockierten Ökonomen) in einer Reihe von Beiträgen, die in zahlreichen fachkundigen Kommentaren debattiert werden.
- „Frankreichs Ökonomen schimpfen auf die Märkte“ – Sabine Glaubitz, Financial Times Deutschland, 11.08.2011
- „Empörte Ökonomen“ – Verlagsankündigung pad-Verlag
- „Introducing economist André Orléan and his work on the efficient market hypothesis“ – The Other School of Economics, 09.02.2010
- André Orléan, Beyond Transparency– Eurozine, 18.12.2008
- „The current consensus is that the financial sector needs more regulation. This perspective sees markets as sound in principle, merely distorted by concealed risks. However transparency is no guarantee against bubbles and crashes. It is the rationale for the universal interconnection of capital that needs to be disputed.“
- André Orléan, „Knowledge in Finance: Objective Value versus Convention“, in Richard Arena and Agnès Festré (eds.), Handbook of Knowledge and Economics, Edward Elgar, 2008, sous presse
- André Orléan, „The Cognitive Turning Point in Economics: Social Beliefs and Conventions“, in R. Arena et A. Festré, Knowledge, Beliefs and Economics, Cheltenham (RU) et Northampton (MA, USA), Edward Elgar, 2006, chapitre 9, 181-202
- Ariane Szafarz, „How Did Financial-Crisis-Based Criticisms of Market Efficiency Get it so Wrong?“ – der Versuch, die Grundlagen des vorherrschenden ökonomischen Modells durch eine Theorie „multipler Preisdynamiken“ bzw. „multipler Lösungen“ zu retten, die mit der Effizienzmarkthypothese weiterhin kompatibel sein soll.