„Die Welt ist aus den Fugen“: von der Macht der Finanzwirtschaft und der Ohnmacht der Politik

The time is out of joint“ („die Zeit ist aus den Fugen“), so lautet das Resumé des Dänenprinzen Hamlet, nachdem der Geist seines ermordeten Vaters ihm die Augen geöffnet hat für die verkommenen Verhältnisse im mittelalterlichen Staate Dänemark. Eine Tragödie Shakespeareschen Ausmaßes diagnostiziert auch Tissy Bruns, Chefkorrespondentin des Berliner Tagesspiegel, in einem brillanten politischen Essay, der die hoffnungslos verfahrenen Verhältnisse unserer heutigen Welt treffend beschreibt: „Die Welt ist aus den Fugen – Im Krisensommer 2011 offenbart sich der desaströse Zustand unserer Demokratien. Eine übermächtige Finanzwirtschaft führt Politik und Eliten vor.“

In der Welt von Shakespeares Tragödien sind es regelmäßig einzelne Personen, die mit ihren oft monströsen Charakterschwächen Unheil über Land und Leute bringen: im Hamlet ist es der hinterhältige, machtgierige Onkel des Protagonisten, der den alten Dänenkönig – seinen Bruder und Hamlets Vater – mittels Gift ins Jenseits befördert, um dessen Platz an der Spitze des Dänenreichs einzunehmen – und in seinem Ehebett.

Das Monster, das unsere heutige Welt im Griff hat wie ein Riesenkrake, ist ein gesellschaftliches Subsystem, die Finanzwirtschaft. Mit gigantischen Kapitalbeträgen agiert sie an kaum regulierten Märkten und stellt, so Bruns, „zunehmend eine Parallelgesellschaft“ dar. Die Funktionsmechanismen dieses in den letzten Jahrzehnten einerseits immer komplexer und andererseits immer mächtiger gewordenen ökonomischen Teilsystems sowie die Wirkungen dieser Mechanismen – inkl. Neben- und Wechselwirkungen sowie deren Sekundärfolgen – sind kaum noch zu durchschauen. In seiner heutigen, globalisierten Form ist das Finanzmarktsystem praktisch unkontrollierbar geworden.

Tissy Bruns, Alt-68erin, laut Wikipedia ehemals führendes Mitglied des Marxistischen Studentenbundes Spartakus und später Vorsitzende der Bundespressekonferenz, beschreibt das plastisch:

„Täglich schalten die Fernsehsender zu den Börsen, um die unausweichliche Frage zu stellen: Wie reagieren „die Märkte“ – jene nervösen und unruhigen Sensibelchen, auf die es vor allen anderen ankommt? Dabei müsste es Politikern und Bürgern doch darum gehen, deren Macht zu brechen. Seit dem Crash von 2008 wissen wir, dass nichts so irrational, gefährlich und unproduktiv ist wie das Meuteverhalten der Finanzakteure, die keinem anderen als dem eigenen Nutzen folgen.

Die Finanzwirtschaft durchdringt die Welt nun seit einem Vierteljahrhundert. Nicht finstere Diktaturen haben sie geschaffen. Sie ist ein originäres Kind der demokratischen, westlichen Nationen, die am Ende des letzten Jahrhunderts den ökonomisch Mächtigen die Fesseln ersparen wollten, die der Wohlstandskapitalismus ihnen auferlegt hatte. (…)

Dieser neue Kapitalismus hat die Ideale und Stärken der Demokratien in einem Maß untergraben, wie kein äußerer Feind es gekonnt hätte. Die „Märkte“ sind zur Parallelgesellschaft des 21. Jahrhunderts geworden. Sie können jenseits der für alle anderen gültigen Maßstäbe von Haftung und Verantwortung handeln. Sie sind im Vorteil, denn sie kennen die Regeln der Vielen und nutzen sie zu ihrem Zweck, während die Vielen die Mechanismen weder durchschauen noch beherrschen können, mit denen Ratingagenturen ganze Staaten abstufen oder Hedgefonds mit Leerverkäufen auf Verlust und Niedergang von Nationen wetten. Sie sind immer im Vorteil, denn sie verdienen nicht nur an konstruktiven Erfolgen, sondern auch an Niederlagen und Pleiten.“

Der Begriff der Parallelgesellschaft trifft das Problem und trifft es auch wieder nicht: die Finanzwirtschaft in ihrer heutigen Form hat sich vom Rest der Welt insofern losgelöst, als sie nach Regeln und Prinzipien handelt, deren Rationalität im wesentlichen auf die Partikularinteressen der Marktteilnehmer zugeschnitten ist und nicht am Funktionieren des gesamtgesellschaftlichen Systems orientiert ist. Andererseits existiert das globale Finanzsystem eben gerade nicht parallel zum ökonomischen Gesamtsystem, sondern durchdringt es wie der Blutkreislauf den menschlichen Körper. Und so, wie Störungen des Kreislaufsystems fatale Folgen für den ganzen Körper haben können, kann das hochsensible Finanzsystem derart dysfunktionale Zustände annehmen, dass es die Weltwirtschaft geradewegs in den Abgrund bzw. in die „Kernschmelze“ führen kann – im Herbst 2008 („Lehman“) standen wir kurz davor.

 „Die Krisen, die nach den Explosionen privater und öffentlicher Schulden heute auszubaden sind, bestimmen die Debatten Europas und der USA. Schlimmer aber als alle Handlungszwänge sind die Gedankengefängnisse, in denen Politik und Eliten stecken. Die Demokratien haben sich vom neuen Finanzkapitalismus ihr Selbstbewusstsein abkaufen lassen. Der Aufstieg der Demokratie war nicht möglich ohne die soziale und rechtliche Zivilisierung des Kapitalismus, ohne die Zurücksetzung der Macht der ökonomisch Stärkeren. Die alternden Demokratien kapitulieren vor ihr. (…)

Erst die Deregulierungseuphorie demokratischer Regierungen hat den sagenhaften Aufstieg der Finanzoligarchie möglich gemacht, und die Nebenwirkung trat sofort ein – die abrupt sinkende Fähigkeit zur politischen Selbstkorrektur. (…) Privatisierung und Deregulierung gewannen, pragmatisch getarnt, die Macht von Dogmen. „Gegen die Märkte kann man nicht“, befand Margaret Thatcher. Ihr Credo „there is no alternative“ wurde zum Schlachtruf des neoliberalen, aber parteiübergreifenden Mainstreams. (…)

Es war wirklich ein Urknall, der „Big Bang“, mit dem Margaret Thatcher vor 25 Jahren die regulierenden Fesseln gelöst hat, der die Londoner City zum größten Finanzplatz der Welt aufsteigen ließ. Die gediegenen britischen Geldhäuser wichen amerikanischen Banken und ihrer hektischen amerikanischen Finanzwelt. Die Citybanker verdienten bald das Zehnfache der früheren Gehälter. Der blendende Glanz aber wurde bezahlt mit dem Abstieg des ganzen Landes. Großbritannien hat der Finanzökonomie seine Realwirtschaft geopfert. Und seine Jugend.

Wie so viele Rechtskonservative lehnte Maggie Thatcher jegliches Denken in gesellschaftlichen bzw. soziologischen Kategorien ab. Für sie gab es – Shakespeare lässt grüßen – als treibende Kräfte ausschließlich Individuen und Familien:  „There is no such thing like society“.

„Aber als Staatsverachtung machte die Geringschätzung von ’society‘ überall Karriere – eine ideologische Wunderwaffe zur Rechtfertigung aller möglichen Einschränkungen öffentlicher Leistungen. (…)

Die westliche Welt, Politiker nicht weniger als Ökonomen oder Philosophen, hatte beim Übergang von der alten Systemkonkurrenz in die Globalisierung ‚die Märkte‘ mit dem höchsten Gütesiegel der Demokratie geadelt. Das Freiheitsbanner wurde an die siegreiche Marktwirtschaft übergeben. Denn die ‚Freiheit der Märkte‘ garantiere Erfolg und Chancen in der globalisierten Weltwirtschaft. Diese Art Freiheit lehrte die Menschen schnell das Fürchten. Sie nahmen die radikale Marktfreiheit als drastische Verschiebung der Kräftekonstellation zwischen Politik und Wirtschaft wahr, zu ihren Lasten. (…)

Der Finanzkapitalismus hat den Anspruch paralysiert, auf dem Primat der Politik zu bestehen. Wer glaubt noch daran, dass legitimierte Politik dem Gemeinwohl im Zweifel Vorrang verschaffen kann vor Partikularinteressen aller Art? (…) Den Medien ist nicht selten Schadenfreude anzumerken, wenn es wieder heißt: „Weltmärkte reagieren enttäuscht“. So wird die Politik immer wieder auch als der unpopuläre Hauptfeind präsentiert. (…)

Der Krisensommer 2011 legt den Blick frei auf einen desaströsen Zustand der westlichen Welt. Die Weltfinanzkrise ist als Schuldenkrise zurückgekehrt, die, wie es scheint, nur die Staaten und ihre begehrlichen Bürger zu verantworten haben. Mit einer erstaunlichen Neigung zur Selbsterniedrigung machen Politiker diese eindeutige Zuteilung der Verantwortung mit. Es ist nicht einmal mehr marktwirtschaftliche Selbstverständlichkeit, dass auch die Gläubiger haften und draufzahlen, wenn sie allzu locker Kredit gewährt haben. (…)

Die Politik wird eingeholt von ihrem Versagen nach 2008. Da war sie zwar gut genug, mit dem Geld der Steuerzahler die Banken zu retten. Aber zu feige, um den Stier bei den Hörnern zu packen. ‚Too big to fail‘? Das sind die großen Banken immer noch. Sie haben aus dem Krisenmanagement von 2008 die antimarktwirtschaftliche Lehre gezogen, dass sie im Zweifel eine Vollkaskoversicherung bei den Staaten haben.“

Eindrucksvoller noch als die Liste der Finanzcrashs sei die Unfähigkeit der Politik, daraus Konsequenzen zu ziehen. Denn an die Stelle der „demokratietypischen Kontroversen“ sei ein „seltsamer Konformismus des Diskurses um Markt und Staat“ getreten.

„Wenn dieser Krisensommer Anlass zu Hoffnungen gibt, dann sind es die Risse im Gewebe jenes Konformismus, der uns in seinen Bann geschlagen hat. In ihrer Not verbieten vier Staaten Aktienleerverkäufe, und niemand beklagt einen Anschlag auf die Freiheit. Die Finanztransaktionssteuer wird diskutabel. Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ macht das Bekenntnis des altgedienten britischen Thatcher-Biographen Charles Moore groß auf: „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“. Herausgeber Frank Schirrmacher parallelisiert den britischen Widerruf mit den aktuellen Wertediskussionen in der CDU. Durch die unverständlichen Tagesdebatten um Euro-Bonds, Rettungsmechanismen, Schuldenbremsen dringen neue Töne. „Tax me“ – „Besteuert mich“ rufen in Frankreich, den USA oder Deutschland die Reichen, die am Steueraufkommen ihrer Länder immer weniger beteiligt sind. (…)

Die Welt ist aus den Fugen geraten. Denn Marktwirtschaft ist nicht mehr Marktwirtschaft, wenn der erpresserische Druck der Finanzakteure groß genug ist, ihre Risiken immer wieder bei den Steuerzahlern abzusichern. Und Demokratie ist nicht mehr Demokratie, wenn sie nicht mehr hält, was sie verspricht, nämlich eine gesellschaftliche Ordnung, in der die ganz normalen Leute über ihr Leben mitbestimmen und mitreden können.“

Hamlet, der große Zauderer, war bekanntlich anfangs damit überfordert, den Mord an seinem Vater zu sühnen und am dänischen Hof wieder für Ordnung zu sorgen. Die ihm zugedachte Aufgabe überstieg seine psychischen Kräfte. Als er sie schließlich in Angriff nahm, waren am Ende alle tot.

Sind die politischen Akteure mit der Lösung der hochkomplexen Probleme, die sich in dem undurchschaubaren, hydragleichen Finanzsystem in den letzten Jahrzehnten zusammengebraut haben, nicht auch schlichtweg überfordert? Nicht aus psychischen Gründen, auch nicht aufgrund mangelnder Intelligenz, Zielstrebigkeit oder fehlender Prinzipien. Sondern wegen der verheerenden, demokratisch nicht legitimierten Macht, die die Akteure an den Finanzmärkten erlangt haben. Nur ihren Eigeninteressen verpflichtet sind sie in der Lage, dem Gesamtsystem „Weltwirtschaft“ immense Schäden zuzufügen – und ihr persönliches Hemd ist ihnen immer näher als der makroökonomische Rock. Auch aus diesem Grund wird die Finanzwirtschaft von der Politik nach wie vor mit Samthandschuhen angefasst. Die vollmundigen Versprechungen in den Monaten nach der Lehman-Pleite, das Finanzsystem nun endlich umfassender zu regulieren und die dort wirkenden Hazardeure enger an die Kandarre zu nehmen wurden nicht erfüllt. Das Casino läuft wieder auf Hochtouren.

Überfordert sind die Politiker außerdem deshalb, weil das globale Finanzsystem dermaßen komplex, fragil und  schwer durchschaubar ist, dass wesentliche Eingriffe immer auch kaum vorhersehbare Nebenwirkungen und unerwünschte Sekundärfolgen („Dominoeffekte“) nach sich ziehen können. Interventionen in ein derart sensibles, intransparentes und fehlerunfreundliches System bringen somit stets die Gefahr der Verschlimmbesserung mit sich, was die Aktionsbereitschaft und Gestaltungsfreude erfolgssensibler Politiker gewiss nicht fördert.

Besonders fatal in dieser hochkomplexen Gemengelage wirken übrigens politische Akteure mit besonders festen Grundsätzen und Standpunkten. Politiker, die ihre Prinzipien haben und in jeder Situation genau wissen, wohin sie wollen, und was demzufolge zu tun ist. Die den eher pragmatisch und flexibel Handelnden gern Führungsschwäche vorwerfen. Diese Neunmalklugen nehmen die Komplexität der Verhältnisse weder wahr noch ernst und adressieren sie daher auch nicht in ihren Aktionen. Ihre handlungsleitenden Sichtweisen und Urteile basieren nicht auf einer reflektierten Wahrnehmung der komplexen Wirklichkeit, sondern erwachsen als eherne Prinzipien aus den Tiefenschichten ihrer Persönlichkeit.

Das sind diejenigen, die gar nicht wissen, dass sie nicht wissen. Einen von denen verklären manche heute zum politischen Genie, obwohl gerade er die Wirkungen seines Handelns oft höchst unzureichend bedacht hat, mit höchst negativen Folgen. Er heißt Kohl und läßt gerade mal wieder von sich hören (s. auch: „Kohls Welt“ – kritischer Kommentar zu den Thesen des Altkanzlers von Bernd Ulrich, ZEIT, 01.09.2011).

Fazit: Es bringt nichts, der Politik immer wieder vorzuwerfen, mit halbherzigen Lösungsversuchen herumzueiern, vor der Finanzwirtschaft beständig einzuknicken, Führungsschwäche zu zeigen und mit echten Problemlösungen nicht voranzukommen. Die Ursachen für ein vielfaches und fortgesetztes Scheitern zu personalisieren, also persönlichem Versagen anzulasten, ist sinnlos.  Stattdessen gilt es, die strukturellen Hintergründe dieses Scheiterns aufzudecken.  Nur von dieser Ebene her erschließen sich Lösungsmöglichkeiten. Das erkannt zu haben unterscheidet Charles Moore und Frank Schirrmacher von Helmut Kohl und Margaret Thatcher.

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