Parallelen 1919 – 2019

Die heutzutage allmorgendlich von zahlreichen Medien via Mail versandten „Morning Briefings“ sind in aller Regel allein für den jeweiligen Tag geschrieben. Zumeist präsentieren sie aktuelle politische Ereignisse in Kurzform und weisen auf eingehendere Beiträge dazu in der jeweiligen Publikation hin. „Morning Briefings“ sollen nicht zuletzt unterhalten, daher fügen die Autoren zumeist ihre eigenen möglichst originellen Kommentare hinzu.

Als ungekrönter König dieses Genres kann gewiss der ehemalige Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart gelten, der sein tägliches Morning Briefing mit seinen scharfsinnigen, eloquent formulierten Anmerkungen zu einer Form journalistischer Kleinkunst entwickelte und damit zur Popularisierung dieses Formats wesentlich beitrug. Mit einem allzu bissigen, vielerseits als niederträchtig empfundenen Kommentar zum damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Schulz im Februar letzten Jahres vergaloppierte Steingart sich jedoch total und wurde von Handelsblatt-Verleger Holtzbrinck daraufhin unverzüglich gefeuert. Inzwischen hat Steingart seine tägliche Morgengabe noch um Podcasts erweitert und darum herum ein eigenes Medienunternehmen aufgebaut.

Eine ganz andere Variante dieses Genres konnte man am Sylvestertag im täglichen Morning Briefing des Spiegel („Zur Lage“) lesen. Der stellvertretende Chefredakteur des Blattes, Dirk Kurbjuweit, erteilte eine niveauvolle Geschichtsstunde, interessant und lehrreich über den Tag hinaus.

Zum bevorstehenden Jahreswechsel verglich er die gegenwärtige weltpolitische Lage mit dem Jahr 1919, dem ersten nach Ende des I. Weltkriegs, und einem, wie Kurbjuweit zurecht feststellt, „der großen, wichtigen Jahre der Weltgeschichte“. Der Autor erkennt verblüffende Parallelen zur heutigen weltpolitischen Situation und denkt darüber nach, welche Lehren aus den vor hundert Jahren erfolgten unheilvollen Weichenstellungen heute zu ziehen wären. Damals habe „die Welt ihre große Chance“ gehabt, sie aber nicht zu nutzen verstanden, mit weitreichenden, katastrophalen Folgen.

Ergänzt durch Verweise zu einschlägigen Hintergrundinformationen dokumentiert der „Denkraum“ wesentliche Teile der klugen, geschichtskundigen Gedanken des Spiegel-Journalisten.

„Eben wurde der Erste Weltkrieg beendet, die Weltordnung brach zusammen. Vier große Reiche gingen zugrunde, das Deutsche Kaiserreich, Österreich-Ungarn, das Zarenreich, das Osmanische Reich. Die alte Welt lag in Trümmern, und gleichzeitig keimten gewaltige Hoffnungen.

Die russischen Bolschewisten hatten ein neues Zauberwort in die Welt gerufen: Selbstbestimmungsrecht. Die Völker sollten selbst entscheiden, in was für einem Staat sie leben wollten. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson machte es sich zu eigen und wurde zum Superstar der damaligen Politik, ähnlich wie Barack Obama zu Beginn seiner Amtszeit. Neue Staaten entstanden, und viele wurden Demokratien.

Auch Emanzipation war ein großes Thema. Die Kolonien von Frankreich und Großbritannien hatten Soldaten nach Europa geschickt, hatten einen hohen Blutzoll gezahlt, nun wollten sie mit Freiheiten belohnt werden. Schwarze in den USA drängten auf Gleichberechtigung. Weil die Männer im Krieg waren, mussten die Frauen daheim andere Rollen übernehmen. Auch die feministischen Anführerinnen drängten mit neuem Selbstbewusstsein auf gleiche Rechte.

All diese Hoffnungen richteten sich auf Paris. Dort begann am 18. Januar 1919 die große Friedenskonferenz. Als Wilson anreiste, strömten die Massen auf die Straßen und jubelten. Wilson wollte einen Völkerbund etablieren, einen neuen Mechanismus für einen ewigen Frieden. Die Freiheits- und Emanzipationsbewegungen schickten Delegationen. Die Welt hatte Anfang 1919 ihre ganz große Chance.

In einem Buch des schwedischen Schriftstellers Per Olov Enquist las ich vor vielen Jahren einen Satz, den ich nicht vergessen habe, an den ich manchmal denken muss, bei privaten, aber auch bei politischen Ereignissen. Er lautet: „Wenn alles so gut angefangen hatte, wie konnte es so schlimm enden.“ Das ist auch ein Satz für das Jahr 1919 und die Zeit danach.

Das erste wichtige Ergebnis der Pariser Konferenz war der Versailler Vertrag, der am 28. Juni 1919 zähneknirschend von der deutschen Delegation unterzeichnet wurde. Es waren Bedingungen, die der blutjungen deutschen Demokratie das Leben schwer machten, wirtschaftlich, aber vor allem psychologisch – viele Deutsche fühlten sich gegängelt und gedemütigt. Auch von Versailles führte ein Weg zu Hitler, aber natürlich nicht der einzige.

Der amerikanische Kongress ratifizierte den Vertrag nicht, die USA traten dem Völkerbund nicht bei. Es folgte keine Phase der Isolation, aber doch der Zurückhaltung. Europa blieb weitgehend sich selbst überlassen. Bis Ende der Dreißigerjahre hatten sich viele Demokratien in autoritäre Staaten verwandelt. Auch von der Emanzipation blieb nicht viel übrig, nicht für die Kolonien, nicht für die schwarzen Amerikaner.

Die Hoffnungen der Araber auf einen großen eigenen Staat wurden ebenfalls enttäuscht. Briten und Franzosen teilten den Nahen Osten in Einflusszonen auf, mit Folgen bis heute. (…)

Das alles wussten die Menschen zu Silvester 1918/19 nicht. Sie betrauerten ihre Toten, litten Hunger, kämpften gegen die Spanische Grippe, dachten vielleicht, dass es nur besser werden kann. Die Deutschen hofften auf einen „Wilson-Frieden“, wie sie damals sagten, einen gnädigen Frieden, aber wie fast alle Heilsbringer in der Politik war Wilson eine Enttäuschung (Obama in anderen Verhältnissen ebenfalls).

Kurbjuweit ist überzeugt, dass wir „hundert Jahre später noch immer in einer Welt (leben)“, die von den damals erfolgten weltpolitischen Weichenstellungen, „von Paris und den anderen Konferenzen nach dem Ersten Weltkrieg“, stark geprägt ist. Es gehe uns zwar heute weit besser als den Menschen damals, aber vielleicht hätten wir gerade deshalb heute weniger Hoffnung, dass es besser wird, sondern eher Angst, es werde schlechter kommen.

Aus den Auswirkungen des Jahres 1919 und der Zeit danach leitet der Spiegel-Journalist auch seine „politischen Wünsche für das neue Jahr (…) her“ – Empfehlungen, in denen Kurbjuweit aus der Geschichte Lehren für die heutige Weltpolitik abzuleiten versucht. Die darin zum Ausdruck kommenden politischen Denkmuster sind zum Teil gewiss diskussionsbedürftig, aber immerhin diskussionswürdig (s. Kommentare).

„Erstens: Junge Demokratien brauchen Hilfe, brauchen Anleitung, man kann sie nicht sich selbst überlassen. In Europa ist das nicht mehr Sache der US-Amerikaner, sondern der Europäischen Union. Sie nimmt diese Aufgabe gegenüber Polen oder Ungarn an, aber nicht entschlossen genug, zum Teil aus parteipolitischen Interessen. Das muss sich ändern.

Zweitens: Der Flirt mit autoritären Gedanken ist gefährlich. Man sollte immer bedenken: Ein autoritäres System hat nach den Erfahrungen der Geschichte eine weit höhere Affinität zum Krieg, gerade zum großen Krieg, als eine liberale Demokratie.

Drittens: Amerika wird gebraucht. Es gab vielleicht schon 1919 die Chance, einen großen Westen zu etablieren, mit Deutschland, mit den anderen jungen Demokratien, unter amerikanischer Führung. Die Geschichte wäre anders verlaufen. In unseren Zeiten ist der Westen stark von autoritären Regimen herausgefordert, von China, von Russland. Der Westen braucht Geschlossenheit und ein starkes, an Europa interessiertes Amerika, um bestehen zu können.

„Wenn diese Wünsche erfüllt würden“, so schließt Kurbjuweit, anknüpfend an dem zitierten Gedanken des Schriftstellers Per Olov Enquist, seine Überlegungen, dann „müsste das, was gut angefangen hat, nicht schlimm enden“.

Fake-Präsident Donald

Donald Trump einsam im Weißen Haus (Daniel Pagan)Zunehmend muss der Immobilienmogul auf dem Präsidentenstuhl nicht nur scharfe Kritik der „Fake News-Medien“ über sich ergehen lassen, sondern auch beißenden Spott. Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart macht in seinem heutigen Morning Briefing auf eine Kolumne von Maureen Dowd in der „New York Times“ aufmerksam und präsentiert einige Kernsätze:

Donald Trump hasst Washington – und Washington hasst erbarmungslos zurück. Pulitzerpreis-Trägerin Maureen Dowd, Hauptstadtkolumnistin der „New York Times“, schreibt:

„Lieber Donald, Du hast im Wahlkampf immer wieder darum gebeten, dass man dich nicht als Politiker bezeichnet. Keine Angst. Niemand wird dich nach diesen ersten Wochen für einen Politiker halten. Du bist noch nicht mal ein guter Verhandlungsführer. Du bist ein armer Trottel (sucker), der sich über den Tisch ziehen lässt. Normalerweise braucht Washington Jahre, um einen Präsidenten kleinzukriegen. Du aber bist deiner Zeit weit voraus.“

Ukraine-Krise: Krieg, Lügen und Video

gabrielewolff

Glanz und Gloria

Wenn es stimmt, daß im Krieg und in der Liebe alle Mittel erlaubt seien, so scheint das erst recht für die Zeit zu gelten, bevor Krieg und Liebe ausbrechen. In jener Phase, in der die „Schlafwandler“ (Christopher Clark), die Scheuklappen fest angelegt, in die Falle tappen, spielt Desinformation eine entscheidende Rolle. Sie spiegelt das Unvermögen der Politik wider, über Partei- und Bündnispflichten hinaus zu denken und das Große Ganze auch aus der Perspektive des vermeintlichen Gegners zu betrachten. Unkritische Medien, hüben wie drüben, halten der Macht den Steigbügel, verbreiten Unwahrheiten und heizen die Stimmung auf.

Party für Schröder

From Russia with Love

29.04.2014  ·  Schröder ist Putins Verlockungen schon vor langer Zeit erlegen. Nun lässt er sich auch noch zur Unzeit in Russland feiern. Einem ehemaligen Bundeskanzler geziemt das nicht.

Von Berthold Kohler

http://www.faz.net/aktuell/politik/party-fuer-schroeder-from-russia-with-love-12916333.html

Der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Philipp Mißfelder, hat seine Teilnahme an der Geburtstagsfeier für Altkanzler Gerhard…

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Das Grass-Gedicht: Was wirklich gesagt wird

Die Debatte um das Grass-Gedicht ist vollkommen aus den Fugen geraten. Zahllose Kritiker, allen voran Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, erheben Vorwürfe, die jedes vernünftige Maß übersteigen. Als Leser steht man oft unter dem Eindruck, es ist nicht der Grass-Text, der kommentiert wird, sondern die durch das Gedicht angeregte ausschweifende Phantasie des Kommentators. Wie Graumann lassen viele Kritiker ihrem Ärger und Zorn über das provokante Werk des Nobelpreisträgers freien Lauf, ohne zu realisieren, wie sie damit einer nachträglichen Rechtfertigung Grass’scher Aussagen nur in die Hände spielen.

Für nachdenkliche Zeitgenossen sind solcherart Kritiken, die ihre pauschale Verurteilung des Gedichts und seines Autors häufig noch mit der Keule des Antisemitismus-Vorwurfs anreichern, eine Zumutung. Der Grass-Text hat immerhin eine intensive öffentliche Debatte über die Politik Israels angestoßen. Nach einer Umfrage der Financial Times Deutschland, an der sich bisher ca. 22.000 Leser beteiligten (Stand: 26.04.2012), halten 57 % der Befragten die Israel-Thesen von Günter Grass für richtig, 27 % für diskutabel, 7 % für irrsinnig und nur jeweils 4 % für gefährlich oder antisemitisch. Während also eine breite Mehrheit von 84 % der Leser die Thesen tendenziell positiv bewertet, lehnen nur 16 % sie rundheraus ab. Bei den in großer Zahl veröffentlichten Kommentaren von Intellektuellen dürfte das Verhältnis umgekehrt sein.

Der Sache angemessen ist allein eine am realen Grass-Text mit seinen zahlreichen Thesen, Behauptungen und Argumenten und an den sonstigen Fakten orientierte differenzierte Interpretation und Beurteilung des Gedichts. Grundlage einer kritischen Analyse muss zunächst der Textgehalt sein – das, was in „Was gesagt werden muss“ tatsächlich gesagt wird. Um dem näher zu kommen und die mühsam verschachtelte (Prosa-) Gedichtform des Literaturnobelpreisträgers lesbarer zu machen, wird der Text hier in einem ersten Schritt zu einer erläuternden und bewertenden Kommentierung zunächst in Prosaform wiedergegeben.

Zuvor einige Worte zu meiner eigenen Beziehung und Einstellung zu Israel. Ich habe das Land zweimal für mehrere Wochen bereist; Anfang der 1970er Jahre war ich als junger Student 6 Wochen lang mitarbeitender Gast in einem Kibbuz in der Nähe von Haifa und habe dort Apfelsinen gepflückt, Bananen gepflanzt, Hühner geimpft und im großen Speisesaal sowie in der Gemeinschaftsküche des Kibbuz Küchendienst geleistet. Als junger Deutscher war man dort ebenso willkommen wie die anderen Gäste aus aller Welt. An meine damaligen Erfahrungen denke ich ausgesprochen gern zurück. Ethnozentristisches Gedankengut ist mir in jeglicher Form zuwider.

Israels Rolle im Nahostkonflikt in den letzten ca. 15 Jahren sehe ich indessen ausgesprochen kritisch. Unter der Führung von Jiztchak Rabin und Jassir Arafat war es Anfang der 1990er Jahre zu einem echten Annäherungs- und Friedensprozess im Nahen Osten gekommen, mit dem ehrlichen Ziel einer friedlichen Koexistenz von Israelis und Palästinensern in jeweils einem eigenen Staat (vgl. Oslo-Friedensprozess). Seit der Ermordung Rabins im Jahr 1995 und der Wahl Benjamin Netanjahus zum israelischen Ministerpräsidenten im Jahr darauf ist dieser Prozess weitgehend zum Erliegen gekommen. Der Geist ehrlicher Friedfertigkeit wurde auf israelischer Seite durch die konfliktschürende Logik einer Politik der Unnachgiebigkeit und Härte ersetzt. Es fehlt an der Bereitschaft zu wesentlichen Zugeständnissen hinsichtlich der Gebietsaufteilung, und die dreiste Siedlungspolitik der Likud-orientierten Regierungen im Westjordanland ist eine einzige Katastrophe. Mit der palästinensischen Hamas-Bewegung verstrickte man sich in einen hochaggressiven „Auge um Auge, Zahn um Zahn – Konflikt“, der in Verbindung mit dem knallharten Auftreten der waffenstarrenden israelischen Sicherheitskräfte im Westjordanland bei den Palästinensern und in der ganzen arabischen Welt Hass auf Israel schürt.

Hier nun das Israel-Gedicht von Günter Grass in Prosaform.  Gedichttypische Satzbauformen wurden an einigen Stellen um der besseren Verständlichkeit willen einem Prosatext angepasst, ohne jedoch den propositionalen Aussagegehalt zu verändern. Den gesamten Text habe ich unter inhaltlichen Gesichtspunkten in 5 Abschnitte unterteilt, die in weiteren Blogbeiträgen auf ihren Wahrheitsgehalt hin geprüft und auf dieser Grundlage kommentiert werden. Durch Anklicken der Nummer des jeweiligen Abschnitts gelangt man zu den zugehörigen Erläuterungen und Kommentaren.

Was gesagt werden muss

(1) Warum schweige ich, verschweige zu lange, was offensichtlich ist und in Planspielen geübt wurde, an deren Ende wir als Überlebende allenfalls Fußnoten sind. Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag, der das von einem Maulhelden unterjochte und zum organisierten Jubel gelenkte iranische Volk auslöschen könnte, weil in dessen Machtbereich der Bau einer Atombombe vermutet wird.

(2) Doch warum untersage ich mir, jenes andere Land beim Namen zu nennen, in dem seit Jahren – wenn auch geheimgehalten – ein wachsend nukleares Potential verfügbar, aber – weil keiner Prüfung zugänglich – außer Kontrolle  ist? Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes, dem sich mein Schweigen untergeordnet hat, empfinde ich als belastende Lüge und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt, sobald er mißachtet wird; das Verdikt „Antisemitismus“ ist geläufig.

(3) Jetzt aber sage ich, was gesagt werden muß, weil aus meinem Land – das von ureigenen Verbrechen, die ohne Vergleich sind, Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird – ein weiteres U-Boot nach Israel geliefert werden soll (wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert), dessen Spezialität darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe dorthin lenken zu können, wo die Existenz einer einzigen Atombombe unbewiesen ist, doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will.

(4) Warum aber schwieg ich bislang? Weil ich meinte, meine Herkunft, die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist, verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit dem Land Israel, dem ich verbunden bin und bleiben will, zuzumuten. Warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte: Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden? Weil gesagt werden muß, was schon morgen zu spät sein könnte; auch weil wir – als Deutsche belastet genug – Zulieferer eines Verbrechens werden könnten, das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld durch keine der üblichen Ausreden zu tilgen wäre.

(5) Und zugegeben: ich schweige nicht mehr, weil ich der Heuchelei des Westens überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen, es mögen sich viele vom Schweigen befreien, den Verursacher der erkennbaren Gefahr zum Verzicht auf Gewalt auffordern und gleichfalls darauf bestehen, daß eine unbehinderte und permanente Kontrolle des israelischen atomaren Potentials und der iranischen Atomanlagen durch eine internationale Instanz von den Regierungen beider Länder zugelassen wird. Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern, mehr noch, allen Menschen, die in dieser vom Wahn okkupierten Region dicht bei dicht verfeindet leben, und letztlich auch uns, zu helfen.

Siehe auch:

Die braven Medien und der böse Wulff

Ein Leserkommentar zu meinem Blogartikel „Zapfenstreich, Mob und Zivilgesellschaft“ hat mich veranlasst, das Thema noch einmal aufzugreifen. Hier meine Antwort an den Verfasser des Kommentars.

Sie vertreten offenbar allen Ernstes die Auffassung, Christian Wulff solle in der gegebenen Situation auf seinen ihm rechtlich zustehenden und mit dem dafür vorgesehenen Verfahren zuerkannten “Ehrensold” verzichten. Ihre Überzeugung begründen Sie mit zwei Argumenten: zum einen habe Wulff in früheren Zeiten selbst eine Absenkung der Ruhestandsbezüge für ausgeschiedene Bundespräsidenten gefordert, und nun, wo es ihn selbst betrifft, nehme er diese gleichwohl dankend an – immer so, wie es gerade opportun ist. Zum anderen habe der zurückgetretene Bundespräsident sich gravierende Verfehlungen zuschulden kommen lassen („die Bürger an der Nase herumgeführt“, „ein unwürdiges Spiel getrieben“, „nur scheibchenweise zugegeben, was sich nicht mehr leugnen ließ“), und als Buße sei es nur angemessen, wenn er auf seine Ruhestandsbezüge verzichte. Ein “Absahner” sei Wulff, hörte ich neulich in meinem Freundeskreis, und gegen so einen könne man gar nicht genug protestieren.

Was Ihr erstes Argument betrifft, so vergessen Sie, dass er seinerzeit – damals noch niedersächsischer Ministerpräsident – nicht vorschlug, eine Senkung des präsidialen „Ehrensolds“ solle auch rückwirkend gelten (was rechtlich gar nicht möglich wäre), oder alternativ sollten der amtierende Präsident und seine Vorgänger auf überhöht erscheinende Beträge von sich aus verzichten. Vielmehr sprach Wulff sich für eine Gesetzesänderung für zukünftige Fälle aus, und ich wette, zu diesem vernünftigen Vorschlag steht er auch noch heute. Eine solche Änderung der Rechtsgrundlage der Ruhestandsbezüge gibt es aber derzeit (noch) nicht. In dieser Situation ist ein freiwilliger Verzicht zugunsten der Staatskasse völlig weltfremd und im Übrigen rechtlich vermutlich gar nicht vorgesehen. Vielleicht könnte Christian Wulff Teile seiner Ruhebezüge wohltätigen Zwecken zukommen lassen oder in eine Stiftung einbringen – warten Sie doch mal ab, womöglich geschieht dies irgendwann. Aber: Allein er hat zu entscheiden, was er mit seinem Geld macht, uns geht das nicht im Mindesten etwas an. Wir fordern ja auch von den mit monatlichen Vorstandsgehältern in Höhe von sieben- bis achtunderttausend Euro und mehr ausgestatteten DAX-Vorständen nicht, sie sollten einen Teil dieses nun wirklich übertriebenen Salärs zurückgeben oder für wohltätige Zwecke spenden. Allenfalls setzen wir uns dafür ein, dass derartige Gehaltsstrukturen in Zukunft geändert werden.

Zu Ihrem zweiten Argument: Wir alle kennen die Geschehnisse nicht aus eigenem Erleben, sondern konnten uns unsere Meinung nur aufgrund der Medienberichterstattung bilden. Wissen Sie denn sicher, dass stets die umfassende Wahrheit ermittelt und berichtet wurde, und dass sämtliche Umstände berücksichtigt wurden, einschließlich der entlastenden Aspekte? Wurden Wulffs mögliche Verfehlungen z.B. denen anderer Politiker – Stichwort Wowereit – gegenübergestellt, und wurde dabei auch wirklich nicht mit zweierlei Maß gemessen? Haben Sie angesichts des Medien-Hypes der vergangenen Monate gar keine Zweifel, ob die chronisch skandallüsterne Presse gegenüber Christian Wulff zu einem Urteil gekommem ist, das man als gerecht und ausgewogen bezeichnen kann, und das den uralten Grundsatz “in dubio pro reo” angemessen berücksichtigt?

Lassen wir den hochproblematischen Aspekt der Boulevardisierung der Berichterstattung, des „Schimpf-und Schande-Journalismus“ einmal beiseite, so bleibt jedenfalls ein Faktum: Ihre Auffassung wird zwar von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt, aber keineswegs von der gesamten Bevölkerung. Meines Wissens etwa 10 – 20 Prozent der Bürger halten Wulffs Verfehlungen, wenn sie überhaupt welche erkennen, eher für Kleinigkeiten, die einen Rücktritt nicht gerechtfertigt hätten.

Ihre Forderung an den Ex-Bundespräsidenten macht indessen nur dann Sinn, wenn Sie davon ausgehen, Christian Wulff würde Ihre Bewertung seines Verhaltens teilen und Ihre Schuldzuweisung im Grunde akzeptieren. Andernfalls würde er sich mit einem Pensionsverzichts der Mehrheitsmeinung schlicht unterwerfen, entgegen seiner eigenen Überzeugung – und das würden vermutlich selbst Sie nicht verlangen.

Nach allem, was wir wissen, teilt er aber Ihre Sichtweise nicht. Wie die Bevölkerungsminderheit ist er vermutlich der Auffassung, es handele sich bei den Vorwürfen entweder um Missverständnisse oder um Petitessen, die nur mittels einer populistischen, skandalisierenden Medienberichterstattung hochgekocht wurden. Und Sie erwarten von ihm gleichwohl, er solle auf seine Ruhebezüge als Bundespräsident verzichten und entgegen seiner eigenen Überzeugung der mehrheitlichen Volksmeinung folgen? Weshalb nicht der Auffassung der Minderheit – das sind schließlich auch Millionen Bundesbürger?

Selbstverständlich würde ein Pensionsverzicht als Ausdruck eines schlechten Gewissens und Eingeständnis einer Schuld ausgelegt werden. Selbst wenn Christian Wulff wegen der einen oder anderen seiner früheren Handlungen so etwas wie Schuldgefühle empfinden sollte, würde ihm jeder halbwegs vernünftige Anwalt von deren Bekenntnis während eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens entschieden abraten – und unser Rechtssystem erwartet ausdrücklich nicht, dass ein Verdächtigter oder Beschuldigter sich selbst belastet. Im Übrigen ist bekannt, dass Wulff für einige Jahre, bis seine Pensionsansprüche aus seiner Abgeordnetentätigkeit und aus seinem Ministerpräsidentenamt fällig werden, bei einem Ausfall des „Ehrensolds“ praktisch keine Einkünfte hätte.

Nein, das Problem liegt meiner festen Überzeugung nach bei denjenigen, die so denken wie Sie. Die sich berechtigt fühlen, ihre eigene Weltauffassung den Mitmenschen auf’s Auge zu drücken. Die Minderheitsmeinung soll gefälligst dem Urteil der Mehrheit folgen, und Christian Wulff allemal. Wenn nicht, wird’s ungemütlich. Zuerst wird der Ex-Präsident mit Spott und Häme überzogen und zur Unperson erklärt, über die man sich – so die Standardvokabel – nur noch fremdschämen kann. Sodann bläst ihm das Volk zur Abschiedsfeier den Marsch mit lärmenden Tröten.

Dies alles gehört zu den bedauerlichen Folgen der monatelangen populistischen Skandalberichterstattung, mit der die Medien bereitliegende Klischees aus dem weiten Feld der Politikverdrossenheit bedienten und anheizten. Große Teile des emotionalisierten Publikums sind unter diesen Bedingungen nur allzu geneigt, den Berichten und Kommentaren kritiklos Glauben zu schenken. Eine differenzierte, ausgewogene Urteilsbildung findet unter Empörungsumständen nicht statt, es entsteht vielmehr ein Feindbild.

Massenmedien tendieren dazu, aus den Menschen eine Masse zu machen, was deren Meinungsbildung betrifft. Massenmedien erzeugen Massenmeinungen, indem sie das von ihnen propagierte Weltverständnis in die Köpfe der Mehrheit bringen und das Denken der einzelnen Individuen auf diese Weise tendenziell gleichschalten. Der Masse zugehörig gibt der Mensch allzu leicht seinen individuellen Geist auf und wird im Denken und Handeln unkritisch, undifferenziert, irrational, ja manchmal primitiv. Sie wissen, dass ich noch untertreibe, hinsichtlich des Verrohungspotentials.

Zapfenstreich, Mob und Zivilgesellschaft

Man kann darüber streiten, ob ein militärisches Traditionszeremoniell wie der Große Zapfenstreich heute noch dazu taugt, einem aus dem Amt scheidenden Repräsentanten unseres Staates zum Abschied die Ehre zu erweisen. Ich finde nicht. Die Ämter des Bundeskanzlers und des Bundespräsidenten sind zentrale Bestandteile unserer modernen parlamentarischen Demokratie.  Möchte man deren Amtsträger anlässlich ihrer Verabschiedung noch einmal besonders ehren, so ist eine aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammende Militärzeremonie dazu denkbar ungeeignet. Stattdessen sollte eine Form gefunden werden, die unserer heutigen  Bürger– und Zivilgesellschaft angemessen ist. Eine mehr oder weniger festliche Geselligkeit – ein Empfang mit einigen Dankesreden, vielleicht ein Festessen, ein Ball oder ein Gartenfest – das wären weitaus demokratie- und zeitgemäßere Formen einer Verabschiedung. Denkbar wäre auch ein wissenschaftliches Symposion zu einem Thema, das dem Scheidenden besonders am Herzen liegt. Der Abschied eines Verteidigungsministers als Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist möglicherweise anders zu beurteilen.

Gestern jedoch war nicht das wesentliche Problem, was im Garten des Schlosses Bellevue feierlich zelebriert wurde, sondern das, was draußen geschah. Da lärmte, aufgewiegelt durch einen Tsunami von Skandaljournalismus, der unser Land drei Monate lang überflutete, der moderne Mob.

Ich verwende diesen Begriff ganz bewusst, denn er trifft den Nagel auf den Kopf. Wikipedia definiert „Mob“ als „aufgewiegelte Volksmenge“, als „eine (…) Gruppe von Personen, die (…) ohne erkennbare Führung zusammen agiert“, mit „kurzfristigen Zielen“, sich „spontan und unvermittelt zu militanten Protesten“ zusammenfindend. Der Mob veranstalte Tumult und Aufruhr, aber er analysiere und diskutiere nicht. Als Beispiele werden eine „anfeuernde Ansammlung um eine Schlägerei auf dem Schulhof“ oder „Zulauf zu öffentlichen Hinrichtungen“ genannt. Das „Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS)“ weist darauf hin, der Ausdruck Mob für eine „aufgeputschte, randalierende Menschenmenge“ gehe auf lat. mōbilis ‘beweglich’ zurück, die mōbile vulgus sei ‘die schwankende, wankelmütige Volksmasse’ gewesen. Und das „Free Dictionary“ definiert zugespitzt: „eine wütende Menschenmenge, die meist Gewalt ausübt“.

Sind Dutzende Vuvuzelas, die lautstark und nachhaltig ein feierliches Zeremoniell stören, eine Form von Gewalt? Selbstverständlich.

Rechtsstaat und Unschuldsvermutung

Zu unserer Demokratie gehört das Gebot der Rechtsstaatlichkeit. Recht und Gesetz haben das staatliche Handeln zu bestimmen, begrenzen die Freiheiten der Bürger und sollen diese vor Willkür und Übergriffen schützen. Das gilt für alle, für Demonstranten ebenso wie für Bundespräsidenten. In der Sphäre von Recht und Gesetz sind wir alle gleich. Deshalb dürfen Demonstranten demonstrieren und „Amtsträger für die Dienstausübung keinen Vorteil fordern, sich versprechen lassen oder annehmen“ (§ 331 StGB).

Es gilt aber auch:

„Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist solange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.“

In dieser Form ist das Verbot der Vorverurteilung bzw. die sogenannte Unschuldsvermutung seit 1948 in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ der Vereinten Nationen (Art. 11 Abs. 1) verankert.

Noch während der gesamten Dauer eines Strafverfahrens ist jeder Verdächtigte oder Beschuldigte als unschuldig zu behandeln. Falls es zu einer Verurteilung kommt, endet die Unschuldsvermutung erst mit deren Rechtskraft. Zudem hat nicht der Beschuldigte seine Unschuld, sondern die Strafverfolgungsbehörde seine Schuld zu beweisen. Das sind wohlerwogene Prinzipien unseres Rechtssystems, die vor ungerechtfertigter Verfolgung, falscher Verdächtigung, Verleumdung oder übler Nachrede – allesamt Straftatbestände – schützen sollen.

Der Mob sieht dies von Grund auf anders. Der hält sich mit derlei Feinheiten nicht auf, sondern hat – in seiner Empörungsbereitschaft von den Skandalisierungsmedien hinreichend angestachelt, darauf komme ich noch – sein Schuldurteil längst gefällt. Weder berücksichtigt er die genauen Umstände des Verhaltens des Verdächtigten noch dessen Motive. An entlastenden Gesichtspunkten ist er erst gar nicht interessiert. In der Hingabe an seine Gefühlswallungen ist ihm das Prinzip der Verhältnismäßigkeit völlig abhanden gekommen. Entrüstung, Häme und Schadenfreude erfüllen die medienseitig aufgewiegelten Wutbürger und führen zu einer hochgradigen Trübung ihres Erkenntnis- und Urteilsvermögens. Das gilt für die justitiablen Aspekte der Angelegenheit ebenso wie für die nicht-justitiablen, in der Sphäre von Stilfragen angesiedelten.

Die äußerste Zuspitzung des gewaltbereiten Volkszorns, den Lynchmob, kennen wir bekanntlich nicht nur aus dem Mittelalter und dem Wilden Westen, sondern erleben ihn in zahlreichen Regionen unserer Welt bis in die heutige Zeit.

Daher war es eine der großen Errungenschaften unserer europäischen Zivilisation, unabhängige Justizorgane einzuführen und sie in ihrem Vorgehen zu Unvoreingenommenheit und nüchterner, differenzierter Sachlichkeit zu verpflichten. Die Rechtsprechung sollte neutral und unparteilich vonstatten gehen und der Beschuldigte die Chance auf eine ausgewogene, faire Beurteilung erhalten. Wie fragil und störanfällig diese Prinzipien im realen Justizalltag sind, wissen wir alle.

Seit den Zeiten des alten Roms, als das Römische Recht als Grundlage unseres heutigen Rechtssystems entwickelt wurde, trägt die Justitia eine Augenbinde als Symbol für Unparteilichkeit, für das Richten ohne Ansehen der Person, und in der Hand eine Waage, die das sorgfältige Abwägen des Für und Wider bei der Urteilsfindung symbolisieren soll. Der Waagbalken steht übrigens oft schräg, als Ausdruck für den Grundsatz „In dubio pro reo“ (Im Zweifel für den Angeklagten).

Übrigens, man glaubt es kaum: Auch die Presse hat offiziell erklärt, sie wolle sich an Vorverurteilungen nicht beteiligen. Ziffer 13 des Pressekodex lautet:

„Die Berichterstattung über Ermittlungsverfahren, Strafverfahren und sonstige förmliche Verfahren muss frei von Vorurteilen erfolgen. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung gilt auch für die Presse.

Soweit unsere teilweise Jahrhunderte alten kulturellen Errungenschaften. Gestern haben sie versagt. Eine offizielle Verabschiedung eines Bundespräsidenten, mit welchem Zeremoniell auch immer, und mag man von dem Mann halten, was man will, durch massiven Einsatz lärmender Tröten nachhaltig zu stören, zeigt nicht nur eine überaus verrohte Intoleranz, Mitleidlosigkeit und menschliche Kälte, es ist auch eine Form von Gewalt.

(Fortsetzung: Warum die fatale populistische Skandalisierungstendenz unserer Medien das eigentliche Problem ist.)

Wie geht’s dem WulffPlag-Wiki?

Schlecht. Er besteht jetzt seit knapp drei Wochen, hatte sich zunächst ganz ordentlich entwickelt, scheint nun aber von internen Auseinandersetzungen dominiert zu sein.

Von den anfänglich vier Admins ist lediglich noch einer aktiv – der Gründer selbst. Zwei Admins haben ihre Mitarbeit offenbar eingestellt, dem dritten wurden vom Gründer die Rechte entzogen. Hintergrund scheinen Differenzen über die Einhaltung der selbstverordneten inhaltlichen Neutralität zu sein.

Quo vadis, Crowd?

Insbesondere gibt es Streit zwischen dem Wiki-Gründer und dem abberufenen Admin über einen ehemals von diesem betreuten Artikel über die Medienberichterstattung in der Affäre Wulff. In diesem Artikel waren zahlreiche Beispiele medienkritischer Kommentare zur Wulff-Berichterstattung von Seiten der Medien selbst gesammelt worden, wurden referiert bzw. Kernsätze daraus zitiert. Dies gefiehl dem Gründer nicht, daher ersetzte er den Artikel kurzerhand durch eine von ihm erstellte Kurzform. Zudem löschte er Diskussionsseiten, die Kritik an seinem Vorgehen enthielten.

Machtmissbrauch im Wiki

„Versachlichung durch kollektive Intelligenz“ – das war die Hoffnung, die sich mit diesem Internetprojekt nach dem Vorbild des GuttenPlag-Wiki verband. Es scheint, als hätte sich in diesem Fall eher kollektive Unintelligenz durchgesetzt. Bei der Umsetzung des Projekts wurden offenbar grundlegende „Hygiene-Regeln“ einer gedeihlichen Zusammenarbeit der Teilnehmer nicht beachtet – das Vorgehen untereinander abzustimmen, bei Unstimmigkeiten Meinungsbilder herbeizuführen, fertige Texte nicht eigenmächtig umfangreich zu ändern oder zu löschen.

Essentielle Wikiquette

Bei gemeinschaftlichen Wiki-Projekten ist es essentiell, den Mitarbeitern faire, demokratische Bedingungen zu garantieren, sonst gibt es rasch böses Blut. Man sollte stets berücksichtigen, dass die Möglichkeit einer informellen Klärung von Streitfragen im persönlichen Gespräch nicht oder allenfalls eingeschränkt (Chat) gegeben ist, und dass Differenzen unter diesem Umständen dazu tendieren, sich rasch auszuweiten und zu verschärfen. Wikipedia hat ein umfangreiches Regelwerk für den Umgang der Teilnehmer miteinander entwickelt, auch im Konfliktfall, in das jahrelange Erfahrungen eingeflossen sind. Es ist neuen Wiki-Projekten wie dem WulffPlag-Wiki unbedingt zu empfehlen, sich daran zu orientieren. Andernfalls ist die Gefahr groß, dass bald nicht kollektive Intelligenz, sondern Zank und Streit das Geschehen dominieren.

Der WulffPlag – Versachlichung durch kollektive Intelligenz?

Zur Versachlichung der Debatte um Bundespräsident Christian Wulff dürfte das Wiki-Projekt WulffPlag beitragen, das soeben gegründet wurde (offenbar am 10.01.2012). Bisher gibt es ca. 40 Benutzer, die mit Hilfe eines MediaWiki-Wikis Licht in die unübersichtliche Fakten- und Diskussionslage bringen wollen. Die Zahl der Mitwirkenden wird in den nächsten Tagen vermutlich sprunghaft ansteigen. Deren kollektive Intelligenz sollte – ähnlich wie im Fall des bereits legendären, mit dem Grimme-Preis ausgezeichneten GuttenPlag-Wiki – eine nüchterne, sachorientierte Aufklärung der Vorwürfe gegen Christian Wulff ermöglichen.

Wichtig ist, dass das Projekt um ein rationales, vorurteilsfreies und möglichst objektives Herangehen bemüht ist, eine entsprechende Kultur entwickelt und insofern ein Gegengewicht zum Skandalisierungsvorgehen der Boulevardpresse bildet. Im Interesse dieses Ziels sollten jegliche Skandalisierungs- und Emotionalisierungstendenzen vermieden werden.

Vorbild „Justitia“

In diesem Zusammenhang sei die symbolträchtige Ikonographie der Justitia im Mittelalter und in der Neuzeit in Erinnerung gerufen und der betreffende Wikipedia-Text zitiert:

„Im Mittelalter und in der Neuzeit ist das Bild der Justitia ein vollkommen anderes als im römischen Altertum: nun wird Justitia meist als Jungfrau dargestellt, die in der linken Hand eine Waage, in der Rechten das Richtschwert hält. Dies soll verdeutlichen, dass das Recht ohne Ansehen der Person (Augenbinde), nach sorgfältiger Abwägung der Sachlage (Waage) gesprochen und schließlich mit der nötigen Härte (Richtschwert) durchgesetzt wird.

Seit Ende des 15. Jahrhunderts wird die Justitia aus Spott über die Blindheit der Justiz zuweilen mit einer Augenbinde dargestellt; um 1520 wandelt sich die Interpretation der Binde: sie wird nunmehr als Symbol für die Unparteilichkeit, also das Richten ohne Ansehen der Person gesehen, und wird zum stehenden Attribut der Justitia.

Die Waage der neuzeitlichen Justitia ist die Waage des Richters, mit deren Hilfe Für und Wider gegeneinander abgewogen wird, und deren Rolle letztlich der Rolle der Waage im ägyptischen Totengericht entspricht; entsprechend dem Grundsatz In dubio pro reo („im Zweifel für den Angeklagten“) steht der Waagbalken – anders als in römischen Darstellungen – oft schräg. In älteren Darstellungen trägt die Göttin des Rechtsfriedens anstatt des Schwertes einen Ölzweig als Symbol des Friedens.

Causa Wulff: Kesseltreiben und/oder präsidiales Versagen? – Interessante Stellungnahmen

  • Dossier „Bundespräsident Wulff: Sein Credo ist Ehrlichkeit“Cicero – Magazin für Politische Kultur
    • „Mit dem Leitspruch „Ehrlich, mutig, klar“ stieg er auf, jetzt droht er an seinen eigenen Maßstäben zu fallen: Bundespräsident Christian Wulff, der Privatkredit und seine Unternehmerfreunde“
  • Kommunikationsberater: „Kai Diekmann spielt Gott“W&V, 05.01.2012
    • „‚Kai Diekmann spielt Gott.‘ Diesen Vorwurf macht Kommunikationsberater Hasso Mansfeld dem Bild-Chefredakteur im Umgang mit der Affäre Christian Wulff. Diekmann wolle mit der ‚Kampagne gegen Wulff‚ der Republik beweisen, dass man Politik ohne Bild nicht betreiben könne. ‚Medien sind die vierte Macht im Staat und haben damit eine sehr wichtige Aufgabe. Sie sollen aber nicht selbst Politik machen – wie es Kai Diekmann mit der Bild gerade macht‘, kritisiert Mansfeld.“

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Kommentar MW:  Er macht Politik mittels einer gezielt inszenierten Skandalisierungskampagne der Affäre Wulff.

Skandalisierung bedeutet immer gezieltes Schüren von Empörung („Aufhetzen“) durch

  • emotionalisierte und dramatisierende Berichterstattung,
  • selektive, verkürzende und verzerrende Darstellung von Sachverhalten und Fakten,
  • Vorenthalten vollständiger Informationen (Halbwahrheiten),
  • Aufbauschen und Überspitzen von Negativaspekten,
  • Polemisierung und Entrüstungsrhetorik,
  • jeglichen Verzicht auf eine faire, ausgewogene oder gar wohlwollende Betrachtung
  • sowie auf Beachtung des Verhältnismäßigkeitsaspekts bei den vorgenommenen Bewertungen.

Stattdessen…

  • die genüssliche Verwendung von Häme, Spott, Schadenfreude
  • und zahlreicher weiterer Spielarten von Entwertung der skandalisierten Person, ihrer Eigenschaften und Handlungen.

Kurzum:

  • Gerechtfertigt scheinbar durch ein Fehlverhalten der skandalisierten Person wird ein höchst boshafter kommunikativer Prozess in Gang gesetzt mit dem Ziel, der Person Schaden zuzufügen bzw. sie zu Fall zu bringen, und gleichzeitig die Aggressionslust des Massenpublikums zu bedienen, das für Derartiges nur allzu empfänglich ist.
  • Auf der Strecke bleiben unsere besseren Eigenschaften: Sachlichkeit; Fairness; Fehlerfreundlichkeit; der Grundsatz „in dubio pro reo“; Ausgewogenheit, Wohlwollen, eventuell Milde im Urteil.

Fazit: Skandalisierung im beschriebenen Sinn bedeutet Kulturverlust und Primitivierung. Sie lässt Niedertracht gerechtfertigt erscheinen und macht sie auf diese Weise salonfähig.

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Causa Wulff: Kesseltreiben und/oder präsidiales Versagen? – Basics

Skandal (aus: Wikipedia)

Ein Skandal bezeichnet ein Aufsehen erregendes Ärgernis und die damit zusammenhängenden Ereignisse oder Verhaltensweisen. Das Wort ist im Deutschen seit dem Ende des 16. Jahrhunderts belegt. Es wurde aus dem gleichbedeutenden französischen scandale entlehnt, das auf das kirchenlateinische scandalum zurückgeht, dieses wiederum auf das griechische skandalon „Fallstrick, Anstoß, Ärgernis“.[1] Das abgeleitete Adjektiv skandalös mit der Bedeutung „ärgerniserregend, anstößig“ sowie „unerhört, unglaublich“ findet sich seit Anfang des 18. Jahrhunderts.[2]

Skandal wird häufig synonym zum Begriff Affäre verwendet. Affäre bezeichnet – neben der Liebesaffäre – heute vor allem als skandalös beurteilte Angelegenheit in Politik und Wirtschaft.[3] Der Begriff des Skandals kann demgegenüber ein breiteres Spektrum der öffentlichen Wahrnehmung ansprechen, beispielsweise auch einen Skandal innerhalb der Kunst.

Skandal und Gesellschaft 

Bei einem Skandal handelt es sich um eine (allgemeine) Entrüstung oder Empörung im Sinne eines moralischen Gefühls. Zu wissen, worüber sich eine Gesellschaft empört, lässt ablesen, wo und wie die überschrittenen Grenzen liegen. Insofern lassen sich über Skandale Rückschlüsse auf die jeweiligen Norm- und Wertvorstellungen bzw. Konventionen einer Gesellschaft ziehen.

Ein Vorgang, der in einem bestimmten Region oder einer bestimmten Gesellschaft einen Skandal hervorruft, muss dies nicht zwangsläufig auch in einer anderen bewirken. Was früher einen Skandal hervorgerufen hat, muss heute nicht wieder zu einem führen. Ein häufig genanntes Beispiel in diesem Zusammenhang ist der damalige „Skandal“ um den Film Die Sünderin in der Bundesrepublik Deutschland der frühen 1950er-Jahre. Die beiden schwedischen Skandalfilme Das Schweigen und 491 riefen in den 1960er die „Aktion Saubere Leinwand“ auf den Plan und erlangten so kulturhistorische Bedeutung.

Skandal und Medien 

In der Regel bedingt ein Skandal eine allgemeine gesellschaftliche Aufmerksamkeit, die heute überwiegend durch die Massenmedien erreicht wird. Bei der Aufdeckung von Skandalen und Vorgängen wie Korruption, Bestechung und persönlicher Vorteilsnahme von Amtsträgern in Politik und Wirtschaft spielen Medien und Journalismus, insbesondere als Investigativer Journalismus, eine bedeutende Rolle. Nicht zuletzt hieraus leitet sich die Rolle von Medien und Presse als Korrektiv und sogenannte „Vierte Gewalt“ ab.[4]

Da Medien und Presse auch an hohen Zuschauer-, Hörer- und Leserzahlen interessiert sind, kann es dazu kommen, dass einzelne Vorgänge über ihre Bedeutung hinaus „skandalisiert“ werden. Wo die Grenze zwischen „legitimer Empörung“ und „künstlicher Aufgeregtheit“ liegt, ist vom Betrachter und dessen sozialen, religiösen und politischen Hintergrund abhängig.

Skandalisierung geht oft einher mit Kommerzialisierung, Boulevardisierung bzw. Entertainisierung von Medieninhalten (siehe auch „Popkultur„).

Ablauf 

Medienskandale beruhen auf einem tatsächlichen oder vermuteten Missstand. Sie verlaufen meist ähnlich:

  • In der Latenzphase wird ein Missstand bekannt; die Anzahl der Medienberichte zum Thema nimmt schlagartig zu. Die Protagonisten des Skandals werden vorgestellt. Die Phase endet mit einem
  • Schlüsselereignis. Dieses führt dazu, dass der Konflikt zu einem Skandal eskaliert. In der darauf folgenden Aufschwungphase werden weitere Fakten bekannt, die in eine Verbindung zum ersten Missstand gesetzt werden. Ist diese Ausweitung geglückt, beginnt die
  • Etablierungsphase. In dieser Phase erreicht der Skandal den Höhepunkt. Nun wird über die Schuld oder Unschuld der Protagonisten gerichtet; Konsequenzen werden gefordert. Zu Beginn der Abschwungphase knickt die skandalierte Person oder Organisation unter dem öffentlichen Druck ein und zieht Konsequenzen aus den Vorkommnissen (z.B. Rücktritt)
  • In der medialen Wahrnehmung ist der Konflikt damit gelöst. Die Intensität der Berichterstattung nimmt schnell ab.
  • In der Rehabilitationsphase wird die Ordnung des Gesellschaftssystems wieder hergestellt. Die Medien berichten nur noch vereinzelt. Mit den fünf Phasen entspricht der Aufbau eines Medienskandals weitgehend demjenigen eines antiken Dramas.[5]

Literatur

  • Jens Bergmann/Bernhard Pörksen (Hg.),“Skandal! – Die Macht öffentlicher Empörung„, Köln: Halem Verlag 2009
  • Frank Bösch: Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880-1914, München: Oldenbourg 2009.
  • Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Skandale in Deutschland nach 1945, Bielefeld 2007.
  • Steffen Burkhardt, Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse, Köln 2006.
  • Rolf Ebbighausen/Sighard Neckel (Hg.), Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt a.M. 1989.
  • Stefan Volk: Skandalfilme – Cineastische Aufreger gestern und heute, Marburg: Schüren Verlag 2011.
  • Marc Polednik und Karin Rieppel: Gefallene Sterne – Aufstieg und Absturz in der Medienwelt, Klett-Cotta, Stuttgart 2011

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Fernsehmagazin „Kontraste“ gegen Forschungsreaktor in Berlin-Wannsee: ein Medienskandal?

Am 9. Juni berichtete das ARD-Fernsehmagazin „Kontraste“ über ein angebliches „Leck im Kühlsystem“ des vom Helmholtz Zentrum Berlin in Berlin-Wannsee betriebenen Forschungsreaktors. Unterlegt mit Animationen, wie wir sie vom Fukushima-Unfall kennen, führt der Beitrag den Fernsehzuschauern überaus drastisch vor Augen, welch hochgefährliche Zeitbombe hier tickt und zu einem GAU führen kann – was die Reaktorbetreiber jedoch nicht wahrhaben wollen.

Daraufhin veröffentlichte das Helmholtz Zentrum am gleichen Tage unter dem Titel „Böswillige Falschaussagen im ARD-Magazin Kontraste“ eine  Pressemitteilung, in der plausibel erläutert wurde, warum es sich bei dem Leck keineswegs um ein Bestandteil des Kühlsystems handelt, und weshalb die Undichtigkeit keinerlei Sicherheitsrelevanz hat:

„Einen Riss im Kühlsystem, wie von Kontraste behauptet, gibt es nicht. In Wirklichkeit schließt ein Trenntor nicht ganz dicht, mit dem man das Hauptbecken in zwei Beckenteile trennen kann. Dieses Trenntor wird nur bei bestimmten Wartungsarbeiten am abgeschalteten Reaktor gesetzt, wenn man unterschiedliche Wasserstände in den beiden Beckenteilen realisieren möchte. Wasser tropft infolge der Undichtigkeit in solch einer Situation also nur von einem Beckenteil in den anderen.

Ein Störfall-Szenario, wie in Kontraste per Animation gezeigt, gibt es nicht. Der TÜV Rheinland hat in einem unabhängig erstellten Gutachten bestätigt, dass die angesprochene Undichtigkeit in dem Trenntor keinerlei Sicherheitsrelevanz besitzt. Die sichere Kühlung ist jederzeit gewährleistet, sowohl während des Betriebs als auch im abgeschalteten Zustand.“

Als Südberliner von dem angeblich drohenden Geschehen hochgradig betroffen erwartete man in der gestrigen „Kontraste“-Sendung nun eine entsprechende Korrektur bzw. Gegendarstellung.  Doch weit gefehlt: das Magazin wiederholte in einem weiteren Beitrag die Supergau-Animation aus der letzten Sendung und setzte noch einen drauf: der TÜV habe den Riss im Kühlsystem bestätigt.

Wer die Pressemitteilung des Helmholtz-Zentrums vom 9. Juni gelesen hatte, dem blieb der billige Trick der Kontraste-Argumentation nicht verborgen: der TÜV hatte in der Tat einen Riss bestätigt – aber eben nicht im Kühlsystem des Reaktors. Das wurde im Kontraste-Beitrag geschickt verschleiert:

„Der Betreiber des Reaktors, das Helmholtz-Zentrum Berlin, streitet die Sicherheitsmängel ab. So versicherte man gegenüber der Presse:

Zitat

„Es gibt keinen Riss im Kühlsystem.“

Auch die Berliner Umweltbehörde, zuständig für die Kontrolle des Betreibers, behauptet:

Zitat

„Es gibt keinen Riss.“

Doch eigentlich müsste sie es besser wissen.

Denn: der Behörde liegt schon seit Wochen ein Sachverständigen-Gutachten des TÜV-Rheinland vor. In diesem Gutachten – KS-11/6090 – heißt es unmissverständlich, dass es sehr wohl einen Riss gibt und zwar einen:

Zitat TÜV-Gutachten
„…Riss an einer Schweißnaht im Bereich der Trennwand zwischen Absetzbecken und Betriebsbecken…“

Das Zitat aus dem TÜV-Gutachten wird aus dem Zusammenhang gerissen und bewusst sinnentstellend so montiert, dass der Eindruck entsteht, der TÜV habe einen sicherheitsrelevanten Riss im Kühlsystem des Reaktors festgestellt. Tatsächlich war der TÜV in seinem Gutachten jedoch zum genau entgegengesetzten Ergebnis gekommen. „Kontraste“ leitet aus diesem wahrheitswidrig konstruierten Befund nun die real drohende Gefahr eines verheerenden Atomunfalls ab:

„Das Szenario: der Reaktor gerät außer Kontrolle. Es könnte zur Explosion kommen. Bei Westwind würden dann große Teile der Hauptstadt unbewohnbar.“

Ein Gefahrenszenario, das es nach Überzeugung sämtlicher damit befasster Experten nicht gibt. Die ängstliche, atomunfallsensibilisierte Bevölkerung wurde offenbar Opfer einer unsachgemäßen, grob verfälschenden Sensationsberichterstattung. Das ist der eigentliche Skandal.

In einer weiteren Pressemitteilung vom heutigen Tage weist das Helmholtz-Zentrum die Vorwürfe erneut zurück und erläutert, weshalb sie falsch sind. Darüber hinaus veröffentlichte die Senatsverwaltung für Umwelt heute eine ausführliche Stellungnahme, mit der die erhobenen Vorwürfe detailliert und nach meinem Eindruck höchst plausibel widerlegt werden.

Die unglückselige Lust der Journalisten an rücksichtslos skandalisierender Berichterstattung ist uns Medienkonsumenten zur Genüge bekannt. Sie wird nur übertroffen von der Lust an der Häme, die in den betreffenden Beiträgen zumeist ausgeschüttet wird, und von der wichtigtuerischen Arroganz zahlreicher Möchtegern-Enthüllungsjournalisten.

Im Augenblick sieht es so aus, als würden wir mit den beiden Kontraste-Beiträgen einen weiteren Höhepunkt eines schlechten, ungenügend recherchierenden und daher irreführenden investigativen Journalismus erleben. Einem Hans Leyendecker, der seinem eigenen Berufsstand durchaus kritisch gegenübersteht, würde so etwas niemals passieren. Man möchte seinen Berliner Kollegen dringend den Besuch von Fortbildungen des netzwerk recherche e.V. empfehlen, das Leyendecker gegründet hat. Mindestens aber die Lektüre der Dokumentation einer Fachtagung zum Thema „Fact-Checking: Fakten finden, Fehler vermeiden“, in deren Vorwort es heißt (Hervorhebung von mir):

„…der besondere Charme des Fact-Checkings liegt in den zahlreichen indirekten Wirkungen, die von der Überprüfung der Fakten und dem Klären der Sachverhalte ausgehen. Factchecking ist Gift für die grassierende copy and paste-Kultur und Treibstoff für den oft geforderten Qualitätsjournalismus.“

Und: „Hätten die gefürchteten Fact-Checker in den Verlagen diese (zuvor exemplarisch dargelegten) Pannen vermeiden können? Wohl nicht. Denn noch werden sie nicht für vorsichtiges Nachdenken, gründliches Ausleuchten des Terrains und den skeptischen Umgang mit interessengeleiteten Informanten eingesetzt. „Fakten-Checker“ betreiben noch eine Orchideendisziplin, sind für viele Journalisten eher ‚lästige Besserwisser‘ und ’nervende Nachfrager‘.“

Siehe auch „Riss im Berliner Forschungsreaktor“ – DerWesten, 23.06.2011