Die anmaßenden Promi-Mahnungen an Olaf Scholz

Da schreiben 28 Prominente – „Intellektuelle und KünstlerInnen“ – einen Offenen Brief an den sehr geehrten, später gar „sehr verehrten“ Herrn Bundeskanzler. Einen Brief, in dem sie ihn für seine Besonnenheit loben, mit der er in der Vergangenheit die Risiken bedacht habe, die der Ukraine-Krieg mit sich bringt: die Risiken einer Ausweitung auf ganz Europa, auch eines 3. Weltkrieges, ja sogar „das Risiko der Ausbreitung des Krieges innerhalb der Ukraine“ selbst. Man hoffe nun – offenbar angesichts der jüngst zugesagten Lieferung von Gepard-Panzern – der Kanzler werde sich wieder „auf seine ursprüngliche Position besinnen und nicht, weder direkt noch indirekt, weitere schwere Waffen an die Ukraine liefern“. Man bitte ihn „im Gegenteil dringlich, alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können“.

Schon hier wird die bemerkenswerte Naivität der besorgten Promis deutlich: Es wird ein Gegensatz konstruiert zwischen den Waffenlieferungen und den Bemühungen um einen Waffenstillstand. Dieser Gegensatz existiert nicht. Dass eine militärisch gestärkte Ukraine den Tyrannen im Kreml eher kompromissbereit macht als eine schwache, das vermögen sich die Autoren offensichtlich nicht vorzustellen.

Zwar konzedieren sie „eine prinzipielle politisch-moralische Pflicht (…), vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen“. Das habe aber „Grenzen in anderen Geboten der politischen Ethik“ (man merkt, hier formulieren Intellektuelle), und zwei dieser Grenzen seien jetzt erreicht. Zum einen „das kategorische Verbot, ein manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen. Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen könnte (…) Deutschland selbst zur Kriegspartei machen“. Daraufhin könnte „ein möglicher russischer Gegenschlag (…) den Beistandsfall nach dem NATO-Vertrag und damit die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs auslösen“.

Unabhängig davon, ob der Kremlchef die völkerrechtliche Zulässigkeit von Waffenlieferungen an die Ukraine respektiert, wird dieses Szenario nicht eintreten. Warum sollten Putin, seine Freunde und Komplizen – der smarte Herr Medwedjew zum Beispiel oder die Oligarchen, die Milliardäre und Yachtbesitzer, all die Reichtumstreber und Lebemänner, warum sollte diese russische Führungsclique herbeiführen, ihr Leben unter den Bedingungen eines Weltkriegs fortzusetzen? Das ist absurd.

Natürlich drohen sie mit ihren Atomraketen, denn derartige Drohungen sind eine einfach zu handhabende, zudem kostenlose Waffe, die im Westen als scharfes Schwert wahrgenommen wird. Diese Wirkung entfaltet sie aber nur dann, wenn sie bei uns verfängt. In dem Moment, in dem wir die Andeutung eines atomaren Weltkriegs als leere Drohung wahrnehmen und uns davon nicht in Angst und Schrecken versetzen lassen, wird das Schwert stumpf.

Sodann begeben sich die Prominenten in ihrem Appell in die Untiefen der Moralphilosophie. Die zweite jetzt erreichte Grenzlinie, so erklären sie, sei „das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung“. Irgendwann stehe „der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor (…) dazu in einem unerträglichen Missverhältnis.“

Und es sei eben ein Irrtum, „dass die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren ‚Kosten‘ an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit (der ukrainischen) Regierung“ falle, denn: „Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur“, also allgemeingültig. Will heißen: Auch der deutsche Bundeskanzler steht dafür mit in der Verantwortung.

Im Klartext: „Scholz, es ist Deine moralische Pflicht, dem Selensky klar zu machen, in diesem Krieg gibt es einfach zu viel zivile Tote! Die wiegen schwerer als das Interesse der Ukrainer, ihr Land zu verteidigen.“

Es sind aber nicht Betroffene aus der ukrainischen Zivilbevölkerung, die ihrer Regierung dies zu bedenken geben – hier appellieren deutsche Intellektuelle, nur aus dem Fernsehen mit dem Geschehen vertraut, an den deutschen Bundeskanzler, in diesem Sinne zu intervenieren. Welch eine Anmaßung!

Die Begründung und Geltung moralischer Normen wird von den Ethikern durchaus unterschiedlich gesehen, was Gegenstand tiefgehender Debatten innerhalb der betreffenden Fachdisziplin ist, der Metaethik. Ob die von den 28 Prominenten postulierte moralische Norm im Fall des Ukrainekriegs einschlägig wäre und handlungsleitend sein sollte, dürfte auch unter Experten strittig sein. Darauf aber auch unseren Bundeskanzler moralisch verpflichten zu wollen, das fällt gewiss nur deutschen Intellektuellen ein.

Außerdem:

  • Inzwischen gibt es einen zweiten Offenen Brief an den Bundeskanzler. Intellektuelle um den Publizisten Ralf Fücks plädieren für die kontinuierliche Lieferung von Waffen an die Ukraine..
  • Der Offene Brief der 28 Prominenten löste ein breites, überwiegend sehr kritisches Echo aus.
  • Der wohl eindrucksvollste Kommentar stammt von dem Hamburger Musiker und Autor Wolfgang Müller. Unter der Überschrift „Ukraine: Der offene Brief in der “Emma” und warum “Aufrüstung ja oder nein” die falsche Frage ist“ veröffentlichte er ihn zunächst in seinem eigenen Blog, bevor er von anderen Medien verbreitet wurde, u.a. von Spiegel Online.
  • Genau genommen ist es weit mehr als ein Kommentar, vielmehr eine sehr persönliche, authentische, differenzierte und kluge Reflexion über die innere Haltung, die wir zum Krieg Putins gegen die Ukraine einnehmen sollten. Mit einer Verneigung vor dem Verfasser dokumentiert der Denkraum die wichtigsten Auszüge aus dem Text.

„(…) Bei der Frage, ob wir aufrüsten müssen, oder Waffen an die Ukraine liefern, rückt die eigentliche Frage völlig in den Hintergrund – nämlich die, wer wir sein wollen. Wie wir leben wollen: In Angst oder in Würde.

Was mit der Ukraine passiert, ist das staatliche Äquivalent zu einer Vergewaltigung durch den Ex-Mann, mit angedrohter Vernichtung bei Gegenwehr. Dass ausgerechnet eine Feministin wie Alice Schwarzer vor diesem Hintergrund die Empfehlung ausspricht, lieber nicht zu arg zu helfen, um dem Gewalttäter keinen Vorwand für einen dritten Weltkrieg zu liefern, respektive das Vergewaltigungs-Opfer als mitverantwortlich für einen drohenden Massen-Mord durch seine provozierende Gegenwehr zu brandmarken, ist zumindest bemerkenswert. Insbesondere, da es eine bedeutende Zahl tatsächlicher Vergewaltigungen in diesem Krieg gibt.

Auch wenn in diesem offenen Brief auf das Leid der ukrainischen Zivilgesellschaft referenziert wird, das enden sollte (als ob es das nach einer Kapitulation tun würde), scheint die Hauptangst die um das eigene Wohlergehen zu sein. Salopp formuliert: Schatz, mach lieber die Beine breit, sonst schlachtet er dich und unsere ganze Familie ab.

Der wohl perfideste Satz in diesem Brief ist die Warnung vor dem “Irrtum, dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern.” Das ist Täter-Opfer-Umkehr in Reinkultur.

Dazu kommt: Die Idee, dass durch angstvolles Agieren diese Bedrohung abgewendet werden könnte, ist völlig absurd. In russischen Medien, und auch von russischen Offiziellen wird schon seit einiger Zeit Deutschland als Nazi-regiert dargestellt, angefangen von angeblichen Biowaffen Laboren vom Bernhard-Nocht-Institut in der Ukraine bis hin zu der Behauptung, der 2. Weltkrieg hätte nie aufgehört und Deutschland wäre nach wie vor ein faschistisches Land. Es liegt also offen auf der Hand, dass wir als legitimes Angriffsziel markiert werden, völlig unabhängig davon, wie wir uns verhalten oder nicht. Und zwar einzig und alleine aus dem Grund, weil wir als demokratisches und wirtschaftlich mächtigstes Land der EU das größte Hindernis für eine russische Dominanz auf dem eurasischen Kontinent darstellen. Wir könnten uns gar nicht so sehr verzwergen, um nicht aus dem Weg geräumt werden zu müssen für russische Großmachtsfantasien.

Von Anfang an war der Krieg in der Ukraine von Russland in mehreren Aussagen der russischen Führung als Auftakt zu einem Krieg gegen den Westen definiert. Dieses Ziel wird nicht verschwinden, wenn wir hundert Mal erklären, dass wir wirklich keine Bedrohung sein wollen und auf gar keinen Fall einen Atomkrieg möchten. Und ganz sicher nicht, wenn wir uns auf den Boden legen, unseren Bauch zeigen und klar signalisieren, dass wir uns nicht wehren werden, egal was passiert.

Die brennende Angst, dass man selber Opfer werden könnte, muss umgewandelt werden in die klare, aber ruhige Erkenntnis, dass man längst ein markiertes Ziel ist und diese Markierung auch durch noch so viel Appeasement nicht abwaschen kann. Die Frage, ob die Unterzeichner dieses offenen Briefs auch dann noch unterschreiben würden, wenn nicht Kiew sondern Berlin bombardiert werden würde, und die reale Gefahr der Vergewaltigung und Auslöschung der eigenen Familie, der eigenen Kinder besteht, sei mal dahin gestellt. Ich habe meine Zweifel, dass Juli Zeh dann einen Brandbrief an die Amerikaner schreiben würde, lieber nicht einzugreifen, weil sonst alles nur viel schlimmer werden würde. (…)

Wer die Lieferung schwerer Waffen zur reinen Landesverteidigung für Leib und Leben gegen einen übermächtigen Aggressor als Eskalation brandmarkt, hat jeden moralischen Kompass verloren. Man darf sagen, dass man eine Heidenangst vor der eigenen Courage hat, ja. Man darf auch sagen, dass man lieber feige und lebendig als mutig und tot wäre, auch das ist nachvollziehbar und menschlich. Man sollte es aber nicht als friedliebenden Pazifismus verkaufen, denn de facto wäre das in diesem Fall ein Kotau vor dem Recht des Stärkeren, oder wie Desmond Tutu sagte: “Wenn du in Situationen der Ungerechtigkeit neutral bist, hast du die Seite des Unterdrückers gewählt.” Das kann realpolitisch manchmal notwendig sein, aber sollte ganz sicher nicht zur Handlungsmaxime erhoben werden.

Darüber hinaus: Wer sich hinstellt und sagt, dass der Krieg mit Waffenlieferungen nur verlängert werden würde, verkennt, dass es sich vermutlich genau umgekehrt verhält: Wer zu erkennen gibt, dass er sich niemals wehren wird, ist ein attraktives Ziel.

Ich habe große Angst, dass der Krieg sich ausbreitet, und wir wirklich einen dritten Weltkrieg erleben. Aber noch größere Angst habe ich davor in einer Welt zu leben, in der Demokratien aus Angst vor Faschisten die Segel streichen. Die Drohung mit Atomwaffen ist so entsetzlich, dass sie gleichzeitig irrelevant wird. Wie der Tweet, den Sascha Lobo schon in seinem hervorragenden Essay zum Lumpenpazifismus zitierte, ausdrückt: “Weil wir nicht genau wissen, was Russland alles als Kriegserklärung verstehen könnte, habe ich mich entschieden die Spülmaschine heute nicht auszuräumen.” Wenn Russlands Drohung, Atomwaffen einzusetzen, einmal Wirkung zeigt, wird sie immer wieder ausgesprochen werden, und früher oder später wird der Punkt kommen, an dem man es drauf ankommen lassen muss, will man nicht alles verlieren. Dann besser jetzt. Es ist meiner Meinung nach keine Alternative, zurückzuweichen, denn das Endziel ist erklärtermaßen die Vernichtung der freien Welt.

Womit wir wieder bei der Ursprungsfrage wären: Wie wollen wir leben? Und im Zweifel – wie wollen wir sterben? Für alle in Westdeutschland aufgewachsenen Menschen erschien diese Frage lange Zeit reserviert für billige Filmplots, aber tatsächlich stellt sich diese Frage für sehr viele Menschen auf der Welt jeden Tag. Israel wird seit seiner Gründung durchgehend mit Vernichtung gedroht. Warum sollten wir davon ausgenommen sein? Warum sollte es uns besser ergehen als den Ukrainern? Wir haben uns daran gewöhnt, dass die quälendste Frage lautet, wohin wir wohl dieses Jahr in den Urlaub fliegen und ob wir 2 oder 4 Prozent Wirtschaftswachstum haben. Dass der Tag kommen könnte, an denen man tatsächlich etwas für seine Ideale opfern müsste, für Freiheit, für Selbstbestimmung, kommt uns völlig fremd vor. Fast schon peinlich möchtegern-heroisch.

Wir sind den Umgang mit Fanatikern nicht mehr gewohnt, und das macht die Situation so gefährlich. Viele denken, mit einem guten Gespräch und einem dicken Scheckbuch lässt sich eigentlich jedes Problem lösen, mit ausreichend gutem Willen, und können sich nicht mehr vorstellen, dass es Menschen gibt, die tatsächlich weder an Schecks noch an Gesprächen interessiert sind, sondern ausschliesslich an Ideologie, Dominanz und Gewalt. Die keinen Ausgleich wollen, sondern einen totalen Sieg. Mit jemandem, dessen erklärtes Ziel die Vernichtung der Gegenseite ist, lässt sich schwerlich verhandeln. Und der kann auch nicht mit Zurückhaltung besänftigt werden. (…)

“Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren.” Und wenn man das einmal wirklich in letzter Konsequenz begriffen hat, fällt die Entscheidung, was man tun sollte, nicht mehr schwer.“

„Die Fehler des Westens“ – Panorama-Beitrag zum Ukraine-Konflikt

Aus Anlass der gegenwärtigen Zuspitzung des Konflikts zwischen Russland und dem Westen um die Ukraine hier noch einmal ein äußerst aufschlussreicher Panorama-Beitrag aus dem Januar 2015,

„Wer umzingelt hier eigentlich wen?“ war die Ausgangsfrage von Moderatorin Anja Reschke, und neben den früheren Außenministern James Baker (USA) und Alexander Bessmertnych (Russland) konnten sich so vernünftige Leute dazu äußern wie der ehemalige Genscher-Mitarbeiter und Spitzendiplomat Wolfgang Ischinger, Kohl-Berater Horst Teltschik („Wir haben viele Chancen verschlafen“) und – mit bemerkenswerter Offenheit – der frühere Nato-General Harald Kujat. Sehenswert!

Klimakatastrophe unabwendbar, allenfalls zu verlangsamen

Es ist die Inventur der Klimaforschung, und ihr Ergebnis fällt erschütternd aus: Alle sechs Jahre werten Forscherinnen und Forscher aus der ganzen Welt die wissenschaftlich relevanten Studien zum Klimawandel aus. In dem an diesem Montag veröffentlichten ersten Teil des sechsten Sachstandsberichts hat der Uno-Weltklimarat erneut eine Prognose für die Zukunft abgegeben – sie ist präziser als die vorherige und hält schlechte Nachrichten parat.

Demnach könnte der Anstieg der globalen Mitteltemperatur von 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau bereits früher erreicht werden als bisher angenommen. Mit einer hohen Wahrscheinlichkeit wird damit das im Pariser Klimaabkommen festgehaltene Erwärmungslimit bereits in den frühen Dreißigerjahren erreicht, heißt es in dem ersten Teilbericht. In dem Uno-Abkommen haben sich die Staaten verpflichtet, die weltweite Erwärmung gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter auf deutlich unter zwei Grad, »möglichst« sogar unter 1,5-Grad zu halten. Je nach Szenario werden die 1,5-Grad aber bis allerspätestens 2040 überschritten.

Allein für den ersten Teilbericht des aktuellen IPCC-Reports werteten die Forscher Tausende Klimastudien aus. Die Datenmenge ist so hoch, dass der Uno-Weltklimarat den Stand der Klimaforschung in drei Arbeitsgruppen abhandelt.

Im IPCC-Sonderbericht von 2018 hieß es noch, dass die 1,5 Grad zwischen 2030 und 2052 eintreten würden, wenn der Ausstoß von Treibhausgasen nicht drastisch reduziert werde – die Zeitspanne war also noch deutlich größer.

aus Spiegel Online, 09.08.2021

Sie wussten es alle – und führten uns sehenden Auges in die Katastrophe.

Wen wählen? Diejenigen, die nicht die Augen verschlossen, sondern die Zeichen seit langem erkannt und unermüdlich gewarnt haben. Auch wenn die Journaille sie jetzt wg. Petitessen madig zu machen versucht.

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„Die Küche brennt, aber den Rest des Hauses könnten wir durchaus noch retten – wenn wir endlich handeln. Gegen das, was bevorsteht, wenn wir nichts tun, ist die Pandemie, in all ihrer Schrecklichkeit, ein Hickser der Menschheitsgeschichte. (…)

Um es mit Uno-Generalsekretär António Guterres zu sagen: »Der Bericht muss die Totenglocke für Kohle und andere fossile Brennstoffe sein, bevor sie unseren Planeten zerstören.« Die derzeitige Bundesregierung möchte gern noch 17 weitere Jahre lang Kohle verfeuern lassen. Also über den Zeitpunkt hinaus, zu dem wir dem IPCC zufolge bereits 1,5 Grad Erderhitzung überschritten haben werden.

Die Küche brennt, der Flur ist voller Qualm, er erreicht bald die Kinderzimmer. Die Bundesregierung kippt noch ein bisschen Sprit in den Flur.

Die Eltern sind noch längst nicht wütend genug.“

Spiegel Online, 15.08.21

Zu Weihnachten Bergamo in Deutschland?

Bergamo – das ist diese wunderschöne Stadt in Norditalien, die im Frühjahr von einer Katastrophe heimgesucht wurde. Man hatte die Kontrolle über die Ausbreitung des Corona-Virus verloren, und die Intensivstationen der Stadt waren mit Covid-Patienten derart überfüllt, dass die Ärzte entscheiden mussten, wen man noch fachgerecht behandeln könnte und wer wegen seiner schlechteren Prognose aufgegeben werden musste. Wir lernten damals den wohlklingenden französischen Begriff „Triage“ für dieses Ausleseverfahren kennen, mit dem Ärzte die medizinischen Ressourcen, wenn sie nicht für alle Kranken ausreichen, denjenigen mit den besten Überlebenschancen zuteilen. Großzügig übernahmen deutsche Krankenhäuser damals einige Schwerkranke aus Norditalien. In jenen Wochen starben in Bergamo so viele Menschen an der Seuche, dass Lastwagen der italienischen Armee ihre Särge auf Krematorien in ganz Nord- und Mittelitalien verteilen mussten.

Und nun, ein halbes Jahr später, in der von Fachleuten einhellig vorhergesagten zweiten Pandemie-Welle, stehen einige deutsche Regionen am gleichen Punkt wie Bergamo im Frühjahr. Wer hätte sich das damals vorstellen können? Uns Deutschen, in der ganzen Welt bekannt für unsere disziplinierte Vernunft, unseren nüchternen Realismus, unser kluges, weitsichtiges Vorausplanen, uns läuft jetzt, zwei Wochen vor Weihnachten, die Seuche komplett aus dem Ruder. Obwohl es möglich ist, eine Pandemie erfolgreich zu bekämpfen, haben nun auch wir die Kontrolle weitgehend verloren. Genauer gesagt, haben wir sie sehenden Auges aus der Hand gegeben,

Eine Pandemie ist ein klassischer Fall für die Notwendigkeit staatlicher Gesundheitsvor- und fürsorge. Das Risiko jedes Einzelnen von uns, sich anzustecken, ist umso größer, je weiter der Virus in der Bevölkerung verbreitet ist. Also teilen wir alle das Interesse, seine Verbreitung einzudämmen und zu verringern. Dies gelingt jedoch nur, wenn alle kooperieren.

Die winzigen, unsichtbaren Schädlinge werden mit der Atemluft der Virusträger an die nähere Umgebung abgegeben. Zwar verdünnt sich die Viruswolke mit wachsender Distanz, wird aber unschädlich erst in einer Entfernung, die unserem üblichen räumlichen Abstand voneinander im Lebensalltag nicht entspricht. Unter Pandemiebedingungen bedarf es in unserem alltäglichen Umgang miteinander also einer ungewohnten räumlichen Distanzierung. Diese und weitere Schutzmaßnahmen erfordern ein regelgeleitetes, koordiniertes Handeln der gesamten Bevölkerung, und das kann allein der Staat veranlassen und organisieren.

Es liegt in der Natur der Sache, dass die hoheitlich verordneten Restriktionen mit der Einschränkung einiger unserer individuellen Freiheitsrechte verbunden sind, auch wenn wir das bekanntlich überhaupt nicht mögen. Die Freizügigkeit soll uns beschnitten werden, also das Recht, uns innerhalb unseres Landes frei zu bewegen und unseren Aufenthaltsort zu bestimmen, wir dürfen uns nicht mehr nach Belieben versammeln, und sogar in die eigentlich unverletzliche Privatspäre unserer Wohnung, von Artikel 13 unseres Grundgesetzes besonders geschützt, greift der Staat ein und maßt sich an zu bestimmen, wieviel Gäste wir dort allenfalls empfangen dürfen.

All diese staatlichen Eingriffe in unsere Freiheitsrechte haben verhältnismäßig zu sein, sie müssen also einen legitimen öffentlichen Zweck verfolgen und zudem geeignet, erforderlich und angemessen sein. Aber welche Maßnahmen sind erforderlich und angemessen, wenn sich 30.000 Menschen pro Tag neu mit dem Virus infizieren und 600 im gleichen Zeitraum daran sterben? Diese lawinenartige Ausbreitung der Seuche bekommen wir in diesem Stadium nur noch in den Griff, sagen uns die Wissenschaftler, wenn wir unser soziales Leben weitestgehend einschränken und alle nicht unbedingt notwendigen Kontakte und Begegnungen unterlassen.

Dies kollidiert natürlich gravierend mit wesentlichen Bedürfnissen und Interessen aller gesellschaftlichen Bereiche und jedes Einzelnen von uns. Daher bedarf es einer Güterabwägung: Weiterhin täglich 30.000 Neuerkrankungen und einen Zusammenbruch unseres Gesundheitssystems akzeptieren, von den 600 Toten pro Tag nicht zu reden, oder das private Leben drastisch einschränken und das öffentliche Leben fast zum Erliegen bringen. Zwei Wochen vor Weihnachten, womöglich bis weit in den Januar hinein. Das ist die Alternative, vor der wir stehen. Wir wissen, setzen wir den Mittelweg der halbherzigen Restriktionen fort, führt dies weiterhin zu Tausenden um Luft ringende Schwerkranke, von denen viele nicht überleben und viele andere schwere, langwierige gesundheitliche Beeinträchtigungen davontragen werden. Andererseits: Ein harter Lockdown, vielleicht vier bis sechs Wochen lang, würde neben erheblichen anderen Misslichkeiten große finanzielle Verluste mit sich bringen und den Steuerzahler auf Jahre hinaus zusätzlich belasten.

Aber schon immer haben die Menschen Seuchen mit allen jeweils verfügbaren Mitteln bekämpft. Und heute ist nur der sofortige Shutdown ein wirksames Mittel gegen das weitere Wüten der außer Kontrolle geratenen Pandemie. Halbherzige Maßnahmen haben sich als unwirksam erwiesen. Sie kommen also nicht in Betracht.

Bergamo übrigens hat verstanden, Länder wie Irland und Neuseeland auch. Während bei uns diskutiert und rumgeeiert wird, hat man dort die gefährliche Entwicklung in den Griff bekommen. Es geht also – wenn auch nur mit drastischen Maßnahmen. Hätten unsere Politiker diese schon früher eingeleitet, mutig und beherzt, wären wir in die jetzige Lage gar nicht gekommen.

Wenn nicht sofort konsequent gehandelt und das öffentliche und soziale Leben weitgehend heruntergefahren wird, dann haben wir bei uns zu Weihnachten die gleichen Verhältnisse wie Bergamo im Frühjahr. Das möge man unter allen Umständen verhindern.

Außerdem:

Wie eine COVID-19-Erkrankung das Leben eines berühmten Virologen veränderte“Denkraum, 19. Mai 2020

Philosophie der Pandemie Warum wir die Coronakrise noch immer nicht begreifen – Spiegel, 18.01.2021
Die Coronakrise ist eine Naturkatastrophe – leider verstehen das noch immer viele nicht. Warum? Es liegt in der Natur des Menschen, sagt Philosophieprofessor Albert Newen.

Wie Deutschland schon im März fast coronafrei werden kannCaroline Ring – Tagesspiegel, 04.02.2021

Mitte Februar könnte die Inzidenz unter die 50er-Marke sinken. Dennoch fordern Wissenschaftler eine Verlängerung der harten Maßnahmen. Sie haben gute Gründe.

Null-Fälle-Strategie soll Deutschland aus der Corona-Krise führenFlorian Schumann und Sven Stockrahm – Zeit, 18.01.2021

Infektionen auf null bringen und konsequent eindämmen: Führende Forscher schlagen der Kanzlerin einen No-Covid-Plan vor.

Offener Brief an Jens Spahn

In meiner Familie gibt es unter anderem zwei Zahnärzte. Es sind zwei von der anständigen Sorte, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Sie gehören nicht zu denen, die in den 1990er Jahren für ihre dreisten Forderungen an die Politik berüchtigt waren, und über die Seehofer, damals noch Gesundheitsminister, im Fernsehen nur sagen brauchte, „die wollen bloß Geld“, und ein ganzes Volk nickte mit dem Kopf.

Heute, drei Jahrzehnte später, ist das Pendel zur anderen Seite ausgeschlagen. In der Coronakrise sind die Zahnärzte zurecht sauer, weil sie nicht über die erforderliche Schutzausrüstung verfügen, wenn sie – hochgradig infektionsgefährdet – in intimer Distanz zum Mund des Patienten den Bohrer ansetzen. Während die ärztlichen Standesvertreter gegen den Mangel an virensicheren Schutzmasken gegenwärtig Sturm laufen, sind die obersten Vertreter der Zahnärzte in dieser Situation derart brav und harmlos, dass man den Eindruck gewinnt, sie stellen sich im Wettlauf um die wenigen verfügbaren Masken gleich klaglos hinten an.

Außerdem wurden die Zahnärzte aus dem Kreis der durch das Covid-19-Entlastungsgesetz unterstützten Ärzte und Psychotherapeuten ausgeschlossen. Daher bekam Jens Spahn gestern Post vom Denkraum.

Es geht um Recht und Gerechtigkeit. Mit dem Ausschluss der Zahnärzte aus seinem Corona-Entlastungsgesetz hat der Minister einen gravierenden Fehler gemacht und sich verfassungsrechtlich in arge Bredouille begeben. Dies wurde ihm vor Augen geführt – sachlich, aber bestimmt.

 

„Alle, die im Gesundheitswesen arbeiten, brauchen gerade jetzt unsere volle Unterstützung.“
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn

So steht es, sehr geehrter Herr Minister Spahn, groß und unübersehbar auf der Internet­seite Ihres Ministeriums, direkt neben einem Foto von Ihnen, das Sie in energischer Pose und dynamischer Aktion zeigt. Aber befolgen Sie selbst Ihre vorbildliche Maxime gegenüber allen wesentlichen Berufsgruppen im Gesundheitswesen, die täglich die medizinische Versorgung in unserem Land sicherstellen? In Ihrem soeben verabschiedeten „Covid-19 Krankenhausentlastungsgesetz“ ist jedenfalls eine große Gruppe „ausgespart“, was wohl im Wortsinne zu verstehen ist: Ärzte, nicht einmal mit einer geeigneten Schutzausrüstung ausgestattet, die täglich mit hohem eigenen gesundheitlichen Risiko ihre Patienten von Schmerzen befreien und die erforderlichen Behandlungen bei ihnen vornehmen.

Mit großer Bestürzung mussten Deutschlands Zahnärzte erkennen, dass sie – anders als Ärzte und Psychotherapeuten – in dem von Ihrem Ministerium erarbeiteten „Gesetz zum Ausgleich Covid-19 bedingter finanzieller Belastungen der Krankenhäuser und weiterer Gesundheitseinrichtungen“ nicht berücksichtigt werden. In einer Presseerklärung Ihres Hauses vom 23. März 2020 heißt es, mit diesem Gesetz sollen „die wirtschaftlichen Folgen für Krankenhäuser und Vertragsärzte aufgefangen“ und „Honorareinbußen der niedergelas­senen Ärzte abgefedert werden.“ Daher würden „niedergelassene Ärzte sowie Psycho­therapeuten (…) bei einer zu hohen Umsatzminderung aufgrund einer geringeren Inan­spruchnahme durch Patienten mit Ausgleichszahlungen sowie mit zeitnahen Anpassungen der Honorarverteilung geschützt.“

Anfänglich glaubte man auf Seiten der Zahnärzte an ein bloßes Versehen Ihres Ministe­riums, das der Eile geschuldet war, mit der das Gesetz zustande kam. Doch man musste erkennen, dass die Berufsgruppe der Zahnärzte ganz bewusst und voller Absicht von den Unterstützungsmaßnahmen ausgenommen wurde. Dies, obwohl allgemein bekannt ist, dass dieser Beruf einer der am meisten gefährdeten Gesundheitsberufe ist, wenn Zahnärzte nicht sogar dem höchsten Infektionsrisiko innerhalb der gesamten Ärzteschaft ausgesetzt sind.

Zahnärzte sind tagtäglich sogenannten Aerosolen ausgesetzt, einer Sprühnebelwolke, die bei der Behandlung mit rotierenden Instrumenten im Mund ihrer Patienten unter Zufuhr von Wasser unvermeidlich entsteht. Wir wissen zudem, dass ein Vielfaches der identifizierten Covid-19-Erkrankten unerkannt infiziert ist und sich daher in dieser Hinsicht völlig ahnungslos in zahnärztliche Behandlung begibt. Nach Untersuchungen des US-Arbeitsministeriums sind Zahnärzte daher am stärksten gefährdet, an Covid-19 zu erkranken.

Überdies müssen sie als mögliche Infektionsmultiplikatoren gelten, was der Bevölkerung nur allzu bewusst ist. Dies führt derzeit dazu, dass die Patienten einen Großteil der vereinbarten Behandlungstermine absagen, aus Sorge vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus. Die Praxisumsätze gehen daher um bis zu 80 % zurück. Da die Kosten weiterlaufen, gehen derzeit auch die niedergelassenen Zahnärzte einem finanziellen Desaster entgegen.

In dieser Situation ist der Ausschluss dieser Berufsgruppe aus den neuen gesetzlichen Regelungen nicht nur in hohem Maße ungerecht, er ist juristisch betrachtet auch absolut ungerechtfertigt. Die Nichtberücksichtigung der Zahnärzte in diesem Gesetz stellt eine gravierende, vollkommen illegitime und mit nichts zu rechtfertigende Diskriminierung dieses Berufsstandes dar.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bindet der allgemeine Gleichheitssatz in Artikel 3 Abs. 1 unseres Grundgesetzes nicht nur die Verwaltung und Rechtsprechung, sondern auch den Gesetzgeber (Rechtssetzungsgleichheit). Auch für ihn gilt, dass wesentlich Gleiches nicht willkürlich ungleich behandelt werden darf. „Gleiche Fälle sollen gleiche Regeln treffen“, so hat es ein renommierter Rechtswissenschaftler aus­gedrückt. Dies gilt insbesondere in Fällen von Ungleichbehandlung vergleichbarer Per­sonengruppen. Unser Grundgesetz verbietet es dem Gesetzgeber, Personengruppen in mit­einander vergleichbaren Fällen nach unterschiedlichen Grundsätzen zu behandeln.

Das Bundesverfassungsgericht hat dies in einem Urteil vom 7. Februar 2012 in juristischer Sprache so formuliert:

„Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. BVerfGE 98, 365 <385>). Er gilt sowohl für ungleiche Belastungen als auch für un­gleiche Begünstigungen (vgl. BVerfGE 79, 1 <17>; 126, 400 <416> m.w.N.; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 21. Juni 2011 – 1 BvR 2035/07 -, juris Rn. 76). Dabei verwehrt Art. 3 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung. Differ­enzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind (vgl. BVerfGE 124, 199 <220>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 21. Juni 2011 – 1 BvR 2035/07 -, juris Rn. 77). Der Gleichheitssatz ist dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behand­lung rechtfertigen können.“

Es ist schwer vorstellbar, dass sich mit Blick auf das Regelungsziel des neuen Gesetzes Unterschiede zwischen Vertragsärzten und Vertragszahnärzten von solcher Art und solchem Gewicht konstruieren lassen, dass sie die unterschiedliche Behandlung recht­fertigen könnten. Nicht zu reden von den im Gesetz berücksichtigten Psychotherapeuten, bei denen die Einhaltung einer gewissen körperlichen Distanz zu ihren Klienten bereits zum Berufsethos gehört, und deren Hilfeleistung auch in Corona-Zeiten weiterhin gut nach­gefragt sein dürfte.

Nach allem wird sich kein sachgerechter Differenzierungsgrund zwischen Ärzten und Psychotherapeuten einerseits und Zahnärzten andererseits finden lassen, der rechtfertigen würde, Vertragszahnärzte nicht an den Unterstützungsmaßnahmen des neuen Gesetzes teilhaben zu lassen, zumal in diesem Fall strenge Anforderungen an eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines Ausschlusses der Zahnärzte zu stellen wären.

Aber muss es in dieser Situation zu einem verfassungsrechtlichen Rechtsstreit zwischen den Zahnärzten und der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch Ihr Ministerium, wirklich kommen? Wäre es nicht möglich, sehr geehrter Herr Minister Spahn, dass Sie sich dieser Berufsgruppe ebenso ver­pflichtet fühlen würden wie den anderen Gesundheitsberufen? In diesem Sinn kann man nur an Sie appellieren, zu einer sachgerechten und gerechten Gleichbehandlung zurückzu­kehren und den Zahnärzten die Unterstützung des Covid-19-Entlastungsgesetzes nicht vor­zuenthalten.

Außerdem:

  • Zahnärzte in der Corona-Krise: „Wir fühlen uns allein gelassen“ – Meike Hickmann – ZDF, 24.03.2020
    • Zahnärzte sind einem hohen Ansteckungsrisiko mit Covid-19 ausgesetzt. Es fehlt an Schutzausrüstung. Zudem gibt es für sie bisher keinen Rettungsschirm bei immer weniger Patienten.
  • Höchste Infektionsgefahr, keine Hilfe vom StaatSabine Menkens –  Welt, 27.03.2020
    • Zahnärzte sind in der Corona-Krise besonders gefährdet sich anzustecken. Schutzausrüstung ist Mangelware, im Entlastungsgesetz von Gesundheitsminister Spahn werden sie aber nicht berücksichtigt. Die Opposition spricht von „nicht verantwortbaren“ Zuständen.
  • Eine Katastrophe für unsere 350.000 Mitarbeiter – Siegfried Marquardt – The European, 30.03.2020
    • Die deutschen Zahnarztpraxen schlagen Alarm. Sie bekommen keine Schutzausrüstungen, ihre Mitarbeiter sind aber besonders ansteckungsgefährdet. Sie erhalten keine staatlichen Hilfen und keine Unterstützung durch die Politik. Sollen alle jetzt zwangsschließen? Man bekommt dieser Tage besser keine Zahnschmerzen.
  • Keine Hilfe für Zahnärzte (Video ca. 3 Min.) – Abendschau ∙ rbb Fernsehen – 04.04.2020 
    • In vielen Zahnarztpraxen herrscht gerade gähnende Leere: Die Patienten haben Angst vor Ansteckung. Trotz eines Umsatzrückgangs von bis zu 80 Prozent sind Zahnärzte vom Rettungsschirm für niedergelassene Ärzte ausgeschlossen. Ein Beitrag von Jörn Kersten

Parallelen 1919 – 2019

Die heutzutage allmorgendlich von zahlreichen Medien via Mail versandten „Morning Briefings“ sind in aller Regel allein für den jeweiligen Tag geschrieben. Zumeist präsentieren sie aktuelle politische Ereignisse in Kurzform und weisen auf eingehendere Beiträge dazu in der jeweiligen Publikation hin. „Morning Briefings“ sollen nicht zuletzt unterhalten, daher fügen die Autoren zumeist ihre eigenen möglichst originellen Kommentare hinzu.

Als ungekrönter König dieses Genres kann gewiss der ehemalige Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart gelten, der sein tägliches Morning Briefing mit seinen scharfsinnigen, eloquent formulierten Anmerkungen zu einer Form journalistischer Kleinkunst entwickelte und damit zur Popularisierung dieses Formats wesentlich beitrug. Mit einem allzu bissigen, vielerseits als niederträchtig empfundenen Kommentar zum damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Schulz im Februar letzten Jahres vergaloppierte Steingart sich jedoch total und wurde von Handelsblatt-Verleger Holtzbrinck daraufhin unverzüglich gefeuert. Inzwischen hat Steingart seine tägliche Morgengabe noch um Podcasts erweitert und darum herum ein eigenes Medienunternehmen aufgebaut.

Eine ganz andere Variante dieses Genres konnte man am Sylvestertag im täglichen Morning Briefing des Spiegel („Zur Lage“) lesen. Der stellvertretende Chefredakteur des Blattes, Dirk Kurbjuweit, erteilte eine niveauvolle Geschichtsstunde, interessant und lehrreich über den Tag hinaus.

Zum bevorstehenden Jahreswechsel verglich er die gegenwärtige weltpolitische Lage mit dem Jahr 1919, dem ersten nach Ende des I. Weltkriegs, und einem, wie Kurbjuweit zurecht feststellt, „der großen, wichtigen Jahre der Weltgeschichte“. Der Autor erkennt verblüffende Parallelen zur heutigen weltpolitischen Situation und denkt darüber nach, welche Lehren aus den vor hundert Jahren erfolgten unheilvollen Weichenstellungen heute zu ziehen wären. Damals habe „die Welt ihre große Chance“ gehabt, sie aber nicht zu nutzen verstanden, mit weitreichenden, katastrophalen Folgen.

Ergänzt durch Verweise zu einschlägigen Hintergrundinformationen dokumentiert der „Denkraum“ wesentliche Teile der klugen, geschichtskundigen Gedanken des Spiegel-Journalisten.

„Eben wurde der Erste Weltkrieg beendet, die Weltordnung brach zusammen. Vier große Reiche gingen zugrunde, das Deutsche Kaiserreich, Österreich-Ungarn, das Zarenreich, das Osmanische Reich. Die alte Welt lag in Trümmern, und gleichzeitig keimten gewaltige Hoffnungen.

Die russischen Bolschewisten hatten ein neues Zauberwort in die Welt gerufen: Selbstbestimmungsrecht. Die Völker sollten selbst entscheiden, in was für einem Staat sie leben wollten. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson machte es sich zu eigen und wurde zum Superstar der damaligen Politik, ähnlich wie Barack Obama zu Beginn seiner Amtszeit. Neue Staaten entstanden, und viele wurden Demokratien.

Auch Emanzipation war ein großes Thema. Die Kolonien von Frankreich und Großbritannien hatten Soldaten nach Europa geschickt, hatten einen hohen Blutzoll gezahlt, nun wollten sie mit Freiheiten belohnt werden. Schwarze in den USA drängten auf Gleichberechtigung. Weil die Männer im Krieg waren, mussten die Frauen daheim andere Rollen übernehmen. Auch die feministischen Anführerinnen drängten mit neuem Selbstbewusstsein auf gleiche Rechte.

All diese Hoffnungen richteten sich auf Paris. Dort begann am 18. Januar 1919 die große Friedenskonferenz. Als Wilson anreiste, strömten die Massen auf die Straßen und jubelten. Wilson wollte einen Völkerbund etablieren, einen neuen Mechanismus für einen ewigen Frieden. Die Freiheits- und Emanzipationsbewegungen schickten Delegationen. Die Welt hatte Anfang 1919 ihre ganz große Chance.

In einem Buch des schwedischen Schriftstellers Per Olov Enquist las ich vor vielen Jahren einen Satz, den ich nicht vergessen habe, an den ich manchmal denken muss, bei privaten, aber auch bei politischen Ereignissen. Er lautet: „Wenn alles so gut angefangen hatte, wie konnte es so schlimm enden.“ Das ist auch ein Satz für das Jahr 1919 und die Zeit danach.

Das erste wichtige Ergebnis der Pariser Konferenz war der Versailler Vertrag, der am 28. Juni 1919 zähneknirschend von der deutschen Delegation unterzeichnet wurde. Es waren Bedingungen, die der blutjungen deutschen Demokratie das Leben schwer machten, wirtschaftlich, aber vor allem psychologisch – viele Deutsche fühlten sich gegängelt und gedemütigt. Auch von Versailles führte ein Weg zu Hitler, aber natürlich nicht der einzige.

Der amerikanische Kongress ratifizierte den Vertrag nicht, die USA traten dem Völkerbund nicht bei. Es folgte keine Phase der Isolation, aber doch der Zurückhaltung. Europa blieb weitgehend sich selbst überlassen. Bis Ende der Dreißigerjahre hatten sich viele Demokratien in autoritäre Staaten verwandelt. Auch von der Emanzipation blieb nicht viel übrig, nicht für die Kolonien, nicht für die schwarzen Amerikaner.

Die Hoffnungen der Araber auf einen großen eigenen Staat wurden ebenfalls enttäuscht. Briten und Franzosen teilten den Nahen Osten in Einflusszonen auf, mit Folgen bis heute. (…)

Das alles wussten die Menschen zu Silvester 1918/19 nicht. Sie betrauerten ihre Toten, litten Hunger, kämpften gegen die Spanische Grippe, dachten vielleicht, dass es nur besser werden kann. Die Deutschen hofften auf einen „Wilson-Frieden“, wie sie damals sagten, einen gnädigen Frieden, aber wie fast alle Heilsbringer in der Politik war Wilson eine Enttäuschung (Obama in anderen Verhältnissen ebenfalls).

Kurbjuweit ist überzeugt, dass wir „hundert Jahre später noch immer in einer Welt (leben)“, die von den damals erfolgten weltpolitischen Weichenstellungen, „von Paris und den anderen Konferenzen nach dem Ersten Weltkrieg“, stark geprägt ist. Es gehe uns zwar heute weit besser als den Menschen damals, aber vielleicht hätten wir gerade deshalb heute weniger Hoffnung, dass es besser wird, sondern eher Angst, es werde schlechter kommen.

Aus den Auswirkungen des Jahres 1919 und der Zeit danach leitet der Spiegel-Journalist auch seine „politischen Wünsche für das neue Jahr (…) her“ – Empfehlungen, in denen Kurbjuweit aus der Geschichte Lehren für die heutige Weltpolitik abzuleiten versucht. Die darin zum Ausdruck kommenden politischen Denkmuster sind zum Teil gewiss diskussionsbedürftig, aber immerhin diskussionswürdig (s. Kommentare).

„Erstens: Junge Demokratien brauchen Hilfe, brauchen Anleitung, man kann sie nicht sich selbst überlassen. In Europa ist das nicht mehr Sache der US-Amerikaner, sondern der Europäischen Union. Sie nimmt diese Aufgabe gegenüber Polen oder Ungarn an, aber nicht entschlossen genug, zum Teil aus parteipolitischen Interessen. Das muss sich ändern.

Zweitens: Der Flirt mit autoritären Gedanken ist gefährlich. Man sollte immer bedenken: Ein autoritäres System hat nach den Erfahrungen der Geschichte eine weit höhere Affinität zum Krieg, gerade zum großen Krieg, als eine liberale Demokratie.

Drittens: Amerika wird gebraucht. Es gab vielleicht schon 1919 die Chance, einen großen Westen zu etablieren, mit Deutschland, mit den anderen jungen Demokratien, unter amerikanischer Führung. Die Geschichte wäre anders verlaufen. In unseren Zeiten ist der Westen stark von autoritären Regimen herausgefordert, von China, von Russland. Der Westen braucht Geschlossenheit und ein starkes, an Europa interessiertes Amerika, um bestehen zu können.

„Wenn diese Wünsche erfüllt würden“, so schließt Kurbjuweit, anknüpfend an dem zitierten Gedanken des Schriftstellers Per Olov Enquist, seine Überlegungen, dann „müsste das, was gut angefangen hat, nicht schlimm enden“.

„Geheimakte Finanzkrise“ – Augenöffner im ZDF

Gestern am späten Abend sendete das ZDF eine exzellente Dokumentation über die Finanzkrise 2008, über deren Ursachen, Mechanismen und Abläufe, vor allem auch über die bislang nur Insidern bekannte desaströse Rolle der Deutschen Bank in dieser Krise, die das Weltfinanzsystem damals beinahe zum Einsturz gebracht hätte:

Geheimakte Finanzkrise – Droht der nächste Jahrhundert-Crash? – Ein Film von Dirk Laabs   (Video verfügbar bis zum 10. Oktober 2019)

Der „Denkraum“ kommentierte die nunmehr 10 Jahre zurückliegende Finanzkrise seinerzeit ausführlich. Unter anderem wurde im Beitrag „Finanzsystemkrise“ die für Nicht-Investmentbanker schwer durchschaubare Funktionsweise der hoch riskanten Bankgeschäfte erläutert, die letztlich zum Zusammenbruch der amerikanischen Großbank Lehman Brothers führten. Dieser Beitrag ist bis heute der meistgelesene des Blogs.

Aus der Ankündigung des ZDF zur Doku „Geheimakte Finanzkrise“:

Die Insolvenz der Lehman-Bank am 15. September 2008 führte die Welt an den Abgrund. Doch wie kam es zu der Krise? Und welche Rolle spielte die Deutsche Bank?

Die „ZDFzoom“-Doku zeigt erstmals, dass Deutschlands größte Bank nicht nur die Krise wesentlich mit ausgelöst hat, sondern selbst auch um ihr Überleben kämpfte – während sie sich öffentlich rühmte, als einziges europäisches Finanzinstitut stabil dazustehen.

Es stellen sich zehn Jahre nach der Krise gleich mehrere Fragen: Ist die Deutsche Bank heute so schwach, weil sie schon in der Krise das Ausmaß ihrer Probleme vertuscht hatte? Und welche Folgen hat die Rettungspolitik der Länder? Um Banken wie das Institut aus Deutschland und die Weltwirtschaft vor dem Absturz zu retten, mussten sich die Staaten weltweit verschulden. Die öffentliche Verschuldung ist auch deshalb seit 2008 rasant gestiegen (…).

Die Null-Zins-Politik der EZB erlaubte es zudem nationalen Banken und bankrotten Unternehmen, sich über Wasser zu halten. Darum gibt es in Europa mittlerweile Hunderte von untoten Firmen, sogenannte „Zombie“-Unternehmen, die gerade in Italien eine wirkliche Abkehr von zu viel Schulden unmöglich zu machen scheinen.

Die beängstigende Prognose: Den wahren Preis für die Finanzkrise hat Europa noch immer nicht gezahlt.

Autor Dirk Laabs, der für das ZDF bereits mehrere preisgekrönte Dokumentationen über die Deutsche Bank gedreht hat, spricht auch mit den ehemaligen Finanzministern Hans Eichel und Wolfgang Schäuble. Sie warnen, „die nächste Krise kommt bestimmt“. Nach Auffassung von Jürgen Stark, ehemals Mitglied des EZB-Präsidiums, könnte sie schlimmer werden als die letzte.

Wolfgang Schäuble ist überzeugt: „Das Niveau an Verschuldung weltweit (…) ist höher als am Ende des zweiten Weltkriegs. Und es legt natürlich die Gefahr und die Vermutung nahe, dass wir bei in der nächsten Krise weniger Spielraum haben, um zu reagieren.“

Über den einstigen Branchenprimus meint Schäuble: „Wenn Sie sich die aktuelle Situation der Deutschen Bank anschauen, ganz übern Berg, um es höflich zu sagen, sind sie immer noch nicht. Deswegen hätten sie früher mit ein bisschen mehr Demut vielleicht ein bisschen von den großen Schäden, die eingetreten sind, vermeiden können.“

Was war im Hintergrund passiert? Die Deutsche Bank hat Kreditbündel in aller Welt geschnürt – auch in Deutschland – obwohl man wusste, dass viele faule Hypotheken darunter waren. Bis in den Juli 2007 verkaufte man die Papiere auch an die deutsche IKB – bis die insolvent wurde. Als die IKB in jenem Sommer finanzielle Hilfe brauchte, strich die Deutsche Bank die Kreditlinie.

Welche Rolle spielte Josef Ackermann? Ingrid Matthäus-Maier, damals die Chefin der Staatsbank KfW – Anteilseignern der IKB – spricht im Interview mit dem ZDF erstmals offen über diese Zeit und Deutsche Bank Chef Josef Ackermann:

„Er hat diese Krise erst selber ausgelöst, um dann die anderen Beteiligten zu treiben, dass sie die Krise lösen, und zwar ohne dass die Privaten bluten. Wir fühlten uns erpresst als KfW-Vorstand insbesondere von Ackermann. Er war mit Sicherheit der Brandstifter, der war weder integer noch war er anständig. Er war skrupellos und hat sich das Problem vom Hals gehalten.“

Auch aus der Deutschen Bank kommt scharfe Kritik. Erstmals gibt der aktuelle Chefökonom David Folkerts-Landau ein ausführliches Fernsehinterview. Die Strategie Ackermanns, um jeden Preis den Umsatz zu steigern, eine Eigenkapitalrendite von 25 Prozent zu fordern, sei „töricht“ gewesen: „Die Expansion der Deutschen Bank ab 2003, insbesondere in den Handelsbereichen, konnte die Bank mit ihrer Infrastruktur nicht bewältigen. So voraus zu stürmen, war also ein großes Risiko“.

Geheime Unterlagen der Bank belegen, wieviel Risiko die Bank auf sich geladen hatte und wie schlecht es ihr schon im Oktober 2008 ging. Doch Vorstandschef Josef Ackermann sagte damals: „Es wäre eine Schande, wenn wir einräumen müssten, dass wir Geld vom Steuerzahler brauchen.“ (…) Folkerts-Landau dazu:

„Ich war bei dieser Telefonkonferenz dabei, als Joe [Ackermann] diesen Satz sagte. Es war eine der egozentrischsten politischen Entscheidungen, die ich je von einem leitenden Banker gesehen habe. Wenn wir das Geld genommen hätten, wäre Joe [Ackermann] seinen Job wohl losgeworden. Aber das hatte er offenbar so nicht vorgesehen.“

So sei verhindert worden, dass die Bank rechtzeitig aufgeräumt wurde, ist Folkerts-Landau sicher:

„Das war so ein schwerer politischer Fehler. Es ist einfach völlig unverständlich, wie ein hochrangiges Mitglied der Finanzindustrie diese Entscheidung treffen konnte.“

Der Wettbewerbsvorteil der Bank (…) sei hauptsächlich gewesen, dass der Markt wusste: Am Ende stehe der Staat für die Deutsche Bank ein. 

Die damals führenden Manager der Deutschen Bank erfreuen sich heute allesamt wieder gut dotierter Positionen. Chefökonom Folkerts-Landau:

„Wenn jemand vom Mars hier her käme, wäre er erstaunt: Es gibt also Banker, nicht nur die von der Deutschen Bank, die gewaltige Verluste gemacht haben, die dabei offensichtlich Entscheidungen getroffen haben, die absolut falsch waren. Doch der Markt bestraft das nicht genug. Die Banker suchen sich einfach neue Jobs, und das Leben geht weiter. Das finde ich sehr enttäuschend.“

Außerdem:
  • Markus Lanz vom 12. September 2018 – ZDF Mediathek
    • Dirk Laabs, Journalist – In der Sendung ergänzt Laabs interessante Details aus der Recherche zu seinem Film und äußert sich zum aktuellen Zustand der Finanzwelt.
  • Finanzsystemkrise – Denkraum, Oktober 2008
    • „Die gravierenden Probleme, die das globale Finanzsystem in seiner derzeitigen Struktur generiert, halte ich für den größten Krisenherd, der uns gegenwärtig bedroht. Es handelt sich um eine Systemkrise des globalen Finanzsystems in seiner heutigen, auch als Finanzkapitalismus bezeichneten Form. Sie ist nicht zuletzt deshalb so gefährlich, weil ihre Wirkmechanismen so schwer durchschaubar sind.“
  • „Wie es zur Finanzkrise kam – die ultimative Erklärung“
    • In einem fiktiven Interview eines Fernsehjournalisten mit einem Investmentbanker erklären John Bird und John Fortune, zwei englische Komiker, durchaus korrekt, wie es zur Finanzkrise kam. Satire vom Feinsten. (engl.)
  • „Es ist ein Horror“ – Saskia Sassen über die Finanzkrise – taz, 22.09.2008
    • „Mit einem Floh, der von einem Wirt zum nächsten hüpft, vergleicht Saskia Sassen die Urheber der Finanzkrise. Die Stadtsoziologin und Globalisierungstheoretikerin erklärt, wie es dazu kommen konnte.“
  • Schreiben von Bundesbank und Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) an Bundesfinanzminister Steinbrück vom 29. Sept. 2008 zu den notwendigen Rettungsmaßnahmen für die Hypo Real Estate
  • Die drohende Weltherrschaft des internationalen Finanzkomplexes – Denkraum, 15.08.2011
    • „Vor der drohenden Weltherrschaft des internationalen Finanzkomplexes warnt zurecht Michael Spreng, profilierter Journalist, Politikberater und wahrlich kein Linker, in seinem Blog Sprengsatz in einem lesenswerten Beitrag, der das bedrängende Problem prägnant darlegt. Das Primat der Politik sei Anfang des 21. Jahrhunderts verloren gegangen. Die Politik habe mit ihrer Schuldensucht an ihrer eigenen Abdankung mitgewirkt. Jetzt drohe eine „Weltkrise der Demokratien“.„Die Politik hatte ein Dinosaurierei ausgebrütet und wunderte sich dann darüber, dass die Dinosaurier die Welt beherrschen wollten. (…) Vor 2008 wussten es viele Politiker nicht besser und ließen sich vom neoliberalen Zeitgeist treiben, nach 2008 aber versagte die Politik im vollen Wissen um die Ursachen des Desasters. (…) So übergab die Politik die Macht an demokratisch nicht legitimierte, von Gier und Habgier getriebene Finanzmanager, die noch nie einen Mehrwert geschaffen haben, die kein Brot backen, kein Auto herstellen und keine Maschine bauen können. Und die nicht für Hungerlöhne Demenzkranke pflegen.
  • Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken – Denkraum, 18.10.2011
  • „Banker – damals und heute“ – Gedicht, angeregt durch Erich Kästners „Hymnus auf die Bankiers“ – Denkraum, 27.11.2012
  • Jede Familie zahlt 3000 Euro für Finanzkrise – Cerstin Gammelin – Süddeutsche Zeitung, 12.09.2018
    • „Die Finanzkrise wird die deutschen Steuerzahler wohl mehr als 68 Milliarden Euro kosten. Das zeigen Zahlen, die die Bundesregierung erstmals herausgegeben hat. Die Folgen der Krise sind demnach auch nach zehn Jahren noch nicht bewältigt. Bund, Länder und Kommunen sind weiter damit beschäftigt, heimische Banken zu stützen.“
  • Abrechnung mit Ackermann im ZDF: „Er war mit Sicherheit der Brandstifter“ der Finanzkrise – Felix Holtermann – Handelsblatt, 12.09.2018
    • „Eine ZDF-Doku rechnet mit dem ehemaligen Deutsche-Bank-Chef ab. Ackermann erscheint darin als skrupelloser „Brandstifter“ der Finanzkrise.“

Das gefährliche Gift der Droge Macht

Unsere Regierung ist von der Bevölkerung mit der überaus anspruchsvollen Aufgabe betraut worden, die politischen Angelegenheiten unseres Landes zu lenken und zu gestalten.

Die Regierungsmitglieder haben ein hohes Amt übernommen und tragen eine immense Verantwortung. Um dies zu unterstreichen, mussten die Kanzlerin und ihre Minister bei ihrer Amtseinführung einen Eid leisten. Sie gelobten feierlich, ihre Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen, seinen Nutzen zu mehren, Schaden von ihm zu wenden und ihre Pflichten gewissenhaft zu erfüllen.

Dieser Amtseid diente nicht zuletzt dem Zweck, ihnen selbst eindringlich bewusst zu machen, dass ihr Handeln ab jetzt von den Erfordernissen ihrer jeweiligen Ämter bestimmt zu sein hat, während ihre persönlichen Gefühle, Wünsche, Vorlieben und Abneigungen demgegenüber zurücktreten müssen.

Die Verwirklichung dieser inneren Haltung, sich also mit dem übernommenen Amt zu identifizieren und seine persönlichen Bedürfnisse und Interessen hintanzustellen, kann gelingen, sie kann aber auch scheitern. Das Musterbeispiel für ein solches Versagen ist der derzeitige US-Präsident.

Nun wird jedoch auch in Berlin einem ungläubigen Millionenpublikum ein Drama geboten, in dem die menschlichen Leidenschaften der „Amtsträger“ zu nachgerade staatsgefährdenden Konflikten führen – eine italienische Oper könnte es nicht besser in Szene setzen. Mit dem Innenminister in der Hauptrolle geht es dabei um Geltungssucht, Machtstreben und Eitelkeit, um unverarbeitete Kränkungen und persönliche Antipathien  – ausgetragen vorzugsweise mit dem Mittel engstirniger Rechthaberei.

CSU-Parteitag 2015

Übrigens: Wie der großmäulige Narzissmus Donald Trumps irgendwie etwas typisch Amerikanisches hat, so sticht in unserem Fall eine genuin deutsche Tönung ins Auge. Es geht um ein eher kleines Problem, das aber etwas Prinzipielles berührt: das feine Gewebe von Recht und Ordnung scheint bedroht. Es gibt da eine durchlässige Stelle, wo die geltenden Regeln nicht eingehalten werden. Da hat die Staatsmacht selbstredend einzugreifen und die Ordnung wiederherzustellen – allemal, wenn es sich um die bayrische Grenze handelt. Wer hier nicht hergehört, der gehört zurückgewiesen. Am besten unmittelbar, zumindest aber durch ein „wirkungsgleiches“ Verfahren.

In dem heutigen „Morning Briefing“ des Handelsblatts geht Hans-Jürgen Jakobs diesem Schauspiel weiter auf den Grund und findet eine interessante Erklärung für den störrischen Horst und seinen besessenen Ordnungsdrang, die Grenze zum Freistaat Bayern betreffend. 

Das tagelange Befindlichkeitsschauspiel der Union endet als Happy End in der Qualitätsklasse eines schlechteren Doris-Day-Films. Der staunenden Öffentlichkeit wird nun das Wunder verkauft, der irrlichternde Horst Seehofer sei nach all seinen Quer-, Luft- und Beinschüssen quasi der beste Innenminister, den Angela Merkel haben kann. Dabei hatte der Bayer noch kurze Zeit, bevor CDU und CSU zum Asyl-Kompromiss fanden, wild fabuliert, er lasse sich nicht von einer Kanzlerin entlassen, „die nur wegen mir Kanzlerin ist“. In jeder normalen Firma wäre ein solcher Mitarbeiter wegen fortgesetzter Illoyalität fristlos entlassen worden.

Was hier wirkt, ist gefährliches Gift: „die Droge Macht“. Seehofer selbst hat vor Jahren darüber offen berichtet. Der Ex-CDU-CSU-Fraktionsvize, zurückgetreten in einem Streit um die gesundheitspolitische Kopfpauschale, saß zuhause geknickt vor dem Telefon, und keiner rief mehr an. Es war so lähmend, abgehängt zu sein, mit all dem Sehnen, endlich wieder mitspielen zu dürfen. Dieses Gefühl will sich der CSU-Chef offenbar, so lange wie es geht, ersparen und bietet die Pirouette des Jahres. Den Unmut im Volk über solches Suchtverhalten muss die Union als Kollateralschaden abbuchen.

Der Horst stellt die Weichen

Die Einigung der Unionsparteien geschah unter dem Eindruck des drohenden Machtverlustes durch Selbstbeschädigung. Inhaltlich läuft es nicht auf Seehofers deutsch-österreichische „Grenzkontrollen“, sondern auf quasi exterritoriale Transferzentren in Grenznähe hinaus, in denen Geflüchtete rasch überprüft und gegebenenfalls zurückgewiesen werden können. Diese Form des Schnellgerichts kommt in dem aktuellen Fünf-Punkte-Asyl-Programm der SPD nicht vor und war von ihr 2015 vehement abgelehnt worden. Gut möglich, dass nach den gerade beendeten Chaostagen der „C-Parteien“ nun der Große-Koalition-Tragödienstadl den Spielplan gestaltet.

Außerdem:
  • Besinnungslos – Ferdinand Otto – Zeit Online, 02.07.2018
    • „Die Koalition ist vorerst nicht geplatzt. Doch das Vertrauen ist am Ende. Der politische Schaden, den eine vernebelte CSU angerichtet hat, ist groß und dauerhaft.“
  • Die graue Renitenz – Sebastian Fischer – Spiegel Online, 03.07.2018
    • „Ich bin Schachspieler, die anderen spielen alle nur Mühle“: Horst Seehofer hat eine Regierungskrise ausgelöst, Angela Merkels Kanzlerschaft beschädigt und die CSU verunsichert. Warum macht er das?“
  • „Schämt euch!“ – Ann-Kristin Tlusty –  Zeit Online, 04.07.2018
    • „Der Asylstreit innerhalb der Union ist vorerst beigelegt, Horst Seehofer bleibt Innenminister. Wie aber bewertet die CSU-Wählerschaft das Verhalten ihrer Partei?“

US-Präsident Trump: angezählt und angeschlagen

Nahezu ein Jahr nach seinem Amtsantritt ist Donald Trump politisch angezählt. Seine Zustimmungsrate („approval rating“) in der Bevölkerung liegt derzeit unter 40 Prozent und somit niedriger als bei allen anderen Präsidenten am Ende des ersten Jahres ihrer Präsidentschaft seit Anfang der 1950er Jahre. presidential_approval_december

Zudem wird immer offenkundiger, dass die mentale Gesundheit des US-Präsidenten schwer angeschlagen ist. Während bis vor kurzem vorwiegend Fragen des Ausmaßes und der Krankheitswertigkeit einer Narzisstischen Persönlichkeitsstörung Trumps diskutiert wurden, werden in letzter Zeit zunehmend auch neurologische Beeinträchtigungen erkennbar, die auf ein frühes Stadium einer Demenz beim US-Präsidenten hindeuten.

Vor wenigen Tagen veröffentlichte das renommierte New York Magazine einen detaillierten Bericht über die gegenwärtige mentale Verfassung Donald Trumps. Höchst anschaulich wird dem Leser dessen eingeschränkte Funktionsfähigkeit in seinem Arbeitsalltag vor Augen geführt. Seine Mitarbeiter sind offenbar bemüht, den Präsidenten angesichts seiner gefürchteten Impulsivität so gut es geht zu führen und „in Schach zu halten“. Vollkommen grotesk erscheint, dass – wie der Autor schreibt – „ein pathologischer Narzisst mit Demenz im Anfangsstadium (…), der nur peripheren Kontakt mit der Realität hat“, über die alleinige Kommandogewalt über das Atomwaffenarsenal der Vereinigten Staaten verfügt. Genauer ist dies eine hochgefährliche Situation. 

Lesen Sie den Artikel „The President Is Mentally Unwell — and Everyone Around Him Knows It“ von Eric Levitz, erschienen am 4. Januar 2018 in der „Daily Intelligencer“-Rubrik des New York Magazine nachstehend in deutscher Übersetzung. (Übersetzung und Hervorhebungen von mir. MW)

Der Präsident ist psychisch krank – und jeder in seiner Umgebung weiß es

Von Eric Levitz

Bis vor kurzem konzentrierte sich die Debatte über die psychische Gesundheit unseres Präsidenten auf Fragestellungen aus dem Bereich der Psychopathologie: Summieren sich Donald Trumps auffälliger Narzissmus, seine Genusssucht und seine Selbsttäuschungen zu einer malignen Persönlichkeit oder zu einer malignen Persönlichkeitsstörung?

Eine große Zahl psychiatrischer Experten sagt das Letztere. Einige ihrer Kollegen – und eine große Anzahl von Laien – haben darauf bestanden, dass die Angelegenheit nur von einem Psychiater entschieden werden kann, der den Präsidenten persönlich untersucht und diagnostiziert hat. Dieses Argument habe ich immer als töricht empfunden.

Es gibt keinen diagnostischen Bluttest oder Gehirn-Scan für eine Narzisstische Persönlichkeitsstörung; es gibt nur eine Liste beobachtbarer Merkmale. Ein Psychiater untersucht einfach die Denkweisen und Verhaltensmuster eines Patienten und beurteilt, ob sie der Checkliste der Symptome einer Narzisstischen Persönlichkeitsstörung entsprechen. Es ist absurd zu glauben, ein Psychiater, der ein paar Stunden mit einem Patienten in einem Büro gesprochen hat, sei qualifiziert, diese Diagnose zu stellen, aber einer mit Zugang zu Hunderten von Interviewstunden und improvisierten Bemerkungen eines Patienten, zudem einer kleinen Bibliothek mit biographischen Informationen und Zeugnissen seiner engsten Vertrauten, sei es nicht. Das hieße, die psychiatrische Praxis zu mystifizieren. Es soll so getan werden, als gäbe es ein gewisses schamanistisches Wissen, auf das psychiatrische Experten nur zugreifen können, wenn man ihnen eine Extrazahlung gewährt.

Wenn wir beschließen, ein bestimmtes psychologisches Profil als „Störung“ zu bezeichnen, beinhaltet dies zudem immer ein Werturteil darüber, was es bedeutet, in unserer Gesellschaft in gesunder Weise zu funktionieren. Wenn die Unfähigkeit, sich auf Tests zu konzentrieren, jemanden für eine psychische Störung qualifiziert, so ist schwer zu verstehen, weshalb Trumps offensichtliche Unfähigkeit, seinen Hunger nach Bestätigung und Aufmerksamkeit grundlegenden sozialen Normen unterzuordnen, dies nicht tun würde. Wenn ein Junge aus der Mittelschule Donald Trumps geringes Maß an Impulskontrolle im Klassenzimmer zeigte, gäbe es wenig Zweifel, dass er als psychisch gestört gelten würde.

Ungeachtet dessen haben sich in den letzten Wochen Befürchtungen über die kognitiven Fähigkeiten des Oberbefehlshabers der mehr alltäglichen und objektiv bestimmbaren Frage eines neurologischen Verfalls zugewandt. Die undeutliche Sprache des Präsidenten, als er seine Entscheidung bekannt gab, Jerusalem als Israels Hauptstadt anzuerkennen; die außergewöhnliche Inkohärenz seines jüngsten Interviews mit der New York Times; und zunehmend erratische (und Freudsche) Tweets brachten den Frontallappen des Gehirns unseres Präsidenten in den Vordergrund der öffentlichen Diskussion.

Und dann erzählte Michael Wolff uns, was er letztes Jahr beim Herumhängen im Westflügel [des Weißen Hauses] erfahren hatte. Nachdem er das Vertrauen der Administration gewonnen hatte (…), bekam der Reporter außergewöhnlich offenen Zugang zu den engsten Beratern des Präsidenten. Im Hollywood Reporter fügte er am Donnerstag dem Porträt des Geisteszustandes unseres Präsidenten einige neue Details hinzu:

„Jeder [im Weißen Haus] war sich schmerzlich der zunehmenden Geschwindigkeit seiner Wiederholungen bewusst. Noch vor einiger Zeit wiederholte er die gleichen drei Geschichten, Wort für Wort und Ausdruck für Ausdruck, innerhalb von 30 Minuten – nun innerhalb von 10 Minuten. Viele seiner Tweets waren das Produkt seiner Wiederholungen – er konnte einfach nicht aufhören, etwas wieder und wieder zu sagen.“

„… Das Beste hoffend, hinsichtlich ihrer persönlichen Zukunft und der Zukunft des Landes von dieser Hoffnung abhängig, ist mein unauslöschlicher Eindruck aus ihrer Beobachtung während der meisten Zeit des ersten Jahres seiner Präsidentschaft und aus den Gesprächen mit ihnen, dass sie alle – 100 Prozent – zu der Überzeugung gekommen sind, dass er außerstande war, seinen Job auszuführen [„incapable of functioning in his job“].“

„In Mar-a-Lago, kurz vor Neujahr, gelang es einem stark geschminkten Trump nicht, eine Reihe alter Freunde zu erkennen.“

Die einhellige Beurteilung derjenigen, die Trump aus unmittelbarer Nähe erleben, wird von Klinikern geteilt, die ihn aus der Ferne beobachten. Als Reaktion auf Trumps Tweet über die Größe und Macht seines Buttons zur Auslösung eines Atomangriffs unterschrieben am Mittwoch 100 Gesundheitsexperten folgendes Statement mit ihrem Namen:

„Wir glauben, dass er jetzt weiter außer Kontrolle gerät, in einer Art und Weise, die zu seinen angriffslustigen nuklearen Drohungen beiträgt … Wir drängen darauf, dass die Menschen um ihn herum und allgemein unsere gewählten Vertreter dringend Maßnahmen ergreifen, um sein Verhalten in Schranken zu halten und die potenzielle nukleare Katastrophe abzuwenden, die nicht nur Korea und die Vereinigten Staaten, sondern die ganze Menschheit gefährdet. „

Am Mittwoch enthüllte Politico, dass einer der Unterzeichner der Erklärung im letzten Dezember mehr als ein Dutzend Kongressmitglieder (alle Demokraten, außer einem ungenannten republikanischen Senator) über den (düsternen) Zustand von Trumps mentaler Gesundheit informiert hatte. Ungefähr zur gleichen Zeit diagnostizierte Ford Vox, ein auf Gehirnverletzungen spezialisierter Arzt, Trumps Zustand und forderte den Präsidenten in einer Stat-Kolumne auf, sich einer neurologischen Untersuchung zu unterziehen:

„Sprache ist eng mit Kognition verbunden, und die Sprachmuster des Präsidenten sind zunehmend repetitiv, fragmentiert, ohne Inhalt und eingeschränkt im Wortschatz. Trumps übermäßige Nutzung von Superlativen wie enorm, fantastisch und unglaublich sind nicht nur Elemente seines persönlichen Stils. Diese Füllwörter spiegeln eine reduzierte Wortgewandtheit wider …

„Sie nennen Orte wie Malaysia, Indonesien und Sie sagen, wie viele Menschen haben Sie? Und es ist erstaunlich, wie viele Leute sie haben. “ Der Präsident machte diese Bemerkung als Antwort auf eine Frage über den idealen Körperschaftssteuersatz, und demonstrierte damit das Ausmaß, in dem sein Denken abdriftet …

Wenn ich auf der Grundlage dessen, was ich beobachtet habe, eine Differentialdiagnose stellen sollte, würde sie „Leichte kognitive Beeinträchtigung“ lauten, auch bekannt als „Milde neurokognitive Störung“ oder Prädemenz … Das Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen leichter kognitiver Beeinträchtigung und Demenz ist, ob der Verfall beginnt, wesentliche alltägliche Funktionen zu beeinträchtigen. Bei einem Milliardär, typischerweise von Assistenten umgeben und jetzt als Präsident von noch mehr Assistenten umgeben, kann es schwierig sein zu beurteilen, ob Trump seine notwendigen täglichen Aufgaben selbständig erfüllen kann.

Wolffs Berichterstattung weist nach, dass Trumps Verfall sein tägliches Funktionieren sehr stark beeinträchtigt – und somit, dass seine kognitive Beeinträchtigung wahrscheinlich in Richtung Demenz voranschreitet. Unterdessen ist Vox‘ Behauptung, dass der unzusammenhängende, von Superlativen durchdrungene Rhetorikstil des Präsidenten kein vorsätzliches Gehabe ist, sondern ein Produkt des kognitiven Niedergangs, für jedermann offensichtlich, der alte Interviews von Trump anschaut, in denen er Gelassenheit, Kohärenz und (relative) Redegewandheit zeigt, was seiner gegenwärtigen Person völlig fremd ist.

Während der meisten Zeit seiner Präsidentschaft war die Konversation über Trumps mentales Wohlbefinden und die daraus resultierende Fähigkeit, die Aufgaben seines Amtes zu erfüllen, von einer gewollten Naivität geprägt. Die Zeichen der Senilität des Präsidenten sind nicht subtil. Sein narzisstisches Selbstbewusstsein ist nicht leicht wahnhaft; seine Impulskontrolle ist nicht nur gering eingeschränkt. Im Oktober verglich ein republikanischer Senator das Weiße Haus mit einer Tagesklinik für Erwachsene; er sagte, er wisse „als Tatsache, dass jeder einzelne Tag im Weißen Haus erneut der Versuch ist, ihn in Schach zu halten“; und er beharrte darauf, die meisten seiner GOP-Kollegen würden diese Einschätzung insgeheim teilen. Wolffs Berichterstattung legt nahe, dass praktisch jeder in Trumps innerem Kreis Anzeichen für seinen geistigen Verfall erlebt hat und ihn für untauglich hält, sein Amt auszuüben.

In der Praxis haben die Liberalen dem 25. Verfassungszusatz übermäßige Aufmerksamkeit gewidmet, einer Bestimmung der Verfassung, die es erlaubtden Präsidenten seines Amtes zu entheben, wenn er körperlich oder geistig „die Befugnisse seines Amtes nicht erfüllen und den damit verbundenen Pflichten nicht nachkommen kann“ (im Unterschied zu einem Schuldspruch wegen Straftaten).

Obwohl oberflächlich betrachtet attraktiv, bringt uns die Lösung „25. Verfassungszusatz“ nicht wirklich über die Hürde, die eine Amtsenthebung blockiert: Die Republikaner im Kongress wollen Trump nicht aus dem Amt entfernen. Ein engagierter Kongress hätte keine Schwierigkeiten, einen glaubhaften Vorwand zu finden, diesen Präsidenten anzuklagen. Sie wollen es einfach nicht. Und der 25. Zusatzartikel würde erfordern, dass zwei Drittel des Kongresses dafür stimmen würden, Trump aus Gründen fehlender Tauglichkeit aus dem Amt zu entfernen – nachdem eine Mehrheit seiner handverlesenen Kabinettsmitglieder öffentlich ihren Wunsch geäussert hat, so zu verfahren. Angesichts des derzeitigen politischen Klimas ist es eine wahnhafte Vorstellung, dass dies ein plausibles Szenario ist.

Und doch ist die Fixierung der Progressiven auf den 25. Verfassungszusatz weit weniger verblendet als die Rationalisierungen, die die Republikaner davon abhalten, sich darauf zu berufen. Nach allem, was man hört, erkennen die meisten Republikaner im Kongress an, dass Donald Trump ein pathologischer Narzisst mit Demenz im Anfangsstadium ist, der nur peripheren Kontakt mit der Realität hat – und trotz allem haben sie sich entschieden, ihm die alleinige Kommandogewalt über das größte Atomwaffenarsenal auf der Erde zu überlassen, weil es politisch und persönlich unbequem wäre, seinen Finger von diesem Knopf zu entfernen.

Man braucht keinen Abschluss in Psychiatrie, um das verrückt zu nennen.

Außerdem:
  • Ist Trumps Narzissmus gefährlich? – Interview mit dem Psychiater Professor Claas-Hinrich Lammers – Wissenschaftsmagazin „Spektrum“, 05.01.2017
    • „Frohes neues Jahr im Weißen Haus! Erst frotzelte der US-Präsident auf Twitter, er habe einen viel größeren Atomknopf als Diktator Kim Jong Un, dann ließ er in einem offiziellen Statement verlauten, sein im Sommer entlassener Chefstratege Steve Bannon habe nicht nur den Job verloren, sondern obendrein noch den Verstand. Was besagen solche Äußerungen über die Persönlichkeit des mächtigsten Mannes der Welt – und müssen wir uns vor seiner narzisstischen, impulsiven Veranlagung fürchten?“
  • The Psychiatrist Telling Congress Trump Could Be Involuntarily Committed – Elaine Godfrey – The Atlantic, 12.01.2018
    • A Yale professor says she’s telling lawmakers that the president may actually be “dangerous.”
  • Trumps Mitarbeiter versuchen, „das Land vor ihm zu beschützen“ – Zeit Online, 10.01.2018
    • „Im Gespräch mit der ZEIT berichtet Michael Wolff von seinen Recherchen im Weißen Haus. Trumps Anwälte hatten versucht, die Publikation von „Fire and Fury“ zu verhindern.“
  • So verrückt wie eh und je –  Yascha Mounk – Zeit Online, 09.01.2018
    • „Der Plan, Trump wegen seines vermeintlichen mentalen Verfalls aus dem Amt zu jagen, wird kaum aufgehen. Er birgt mehr Risiken als Chancen für die Demokratie.“
  • Das Weiße IrrenhausJakob Augstein – Spiegel Online, 08.01.2018
    • „Das Skandalbuch „Fire and Fury“ bestärkt den Verdacht: Donald Trump ist auf dem Weg in die Demenz. Amerika muss ihn loswerden.“
  • The Increasing Unfitness of Donald TrumpDavid Remnick – The New Yorker, 06.01.2018
    • „The West Wing has come to resemble the dankest realms of Twitter, in which everyone is racked with paranoia and everyone despises everyone else.“
    • „Chaotic, corrupt, incurious, infantile, grandiose, and obsessed with gaudy real estate, Donald Trump is of a Neronic temperament. He has always craved attention. Now the whole world is his audience. In earlier times, Trump cultivated, among others, the proprietors and editors of the New York tabloids, Fox News, TMZ, and the National Enquirer. Now Twitter is his principal outlet, with no mediation necessary.“
    • „In the meantime, there is little doubt about who Donald Trump is, the harm he has done already, and the greater harm he threatens. He is unfit to hold any public office, much less the highest in the land. This is not merely an orthodoxy of the opposition; his panicked courtiers have been leaking word of it from his first weeks in office. The President of the United States has become a leading security threat to the United States.“
  • Incoherent, authoritarian, uninformed: Trump’s New York Times interview is a scary readEzra Klein – Vox, 29.12.2017
    • „The president of the United States is not well.“

König Donalds Wahnsinn

„Though this be madness, yet there is method in’t.“ („Ist es auch Wahnsinn, hat es doch Methode“), lässt Shakespeare den Oberkämmerer Polonius sagen, als dieser den Hintersinn im Verhalten des scheinbar verwirrten Hamlet erkennt. Denn Hamlets Wahnsinn ist nur vorgetäuscht, eine wohlerwogene List.

Je nach politischer Einstellung  könnte man sich nun wünschen oder aber befürchten, es gäbe bei Donald Trump ebenfalls irgendeinen wohlerwogenen Hintersinn, eine verborgene, aber immerhin rational durchdachte Strategie. Aber Fehlanzeige – da ist nichts. Der Mann ist einfach nur genau der inkompetente, dilettantische, substanz- und niveaulose Phrasendrescher, als der er den meisten Menschen erscheint.

Weitaus gefährlicher sind indes Eigenschaften Trumps aus dem Bereich der Psychopathologie: die Folgen seiner gravierenden narzisstischen und paranoiden Persönlichkeitsstörung.

Unter dem Titel „The Madness of King Donald“ veröffentlichte Elizabeth Drew, eine angesehene amerikanische Journalistin und Buchautorin, am 4. Dezember 2017 in dem führenden, in mehrere Sprachen übersetzten Meinungs- und Kommentarportal „Project Syndicate“ ein Porträt über das Verhalten Donald Trumps in den letzten Tagen und Wochen, in dem sie eine besorgniserregende Zuspitzung seiner psychischen und geistigen Defizite konstatiert, über die auch amerikanische Medien bereits berichtet hatten.

Die mitgeteilten Beobachtungen dürften nicht nur psychiatrische Experten alarmieren. Daher nachfolgend Ausschnitte daraus (Übersetzung aus dem Englischen: Eva Göllner).

In den letzten Tagen hat sich Präsident Donald Trump bizarrer verhalten als je zuvor, und die selten ausgesprochene Frage, die sich Politiker und Bürger gleichermaßen stellen, ist: Was kann man mit diesem Mann tun? Können es sich die Vereinigten Staaten wirklich leisten zu warten, bis Sonderermittler Robert Mueller seine Untersuchungen abschließt (angenommen, er beweist, dass der Präsident sich etwas hat zuschulden kommen lassen)? Das kann noch dauern.

Die Zeitfrage wird immer dringender angesichts der erhöhten Gefahr, dass die USA absichtlich oder unabsichtlich ein einen Krieg mit Nordkorea geraten. Dieses Risiko in Verbindung mit Trumps zunehmend eigenartigem Verhalten macht Washington nervöser, als ich es jemals zuvor gesehen habe, einschließlich der dunklen Tage von Watergate. Um es beim Namen zu nennen: es herrscht die Sorge, dass ein geistig umnachteter Präsident die USA in einen Atomkrieg führt.

Allein in der vergangenen Woche häuften sich die Beweise für Trumps Instabilität. Bei einer Zeremonie zu Ehren von Navajo-Veteranen des Zweiten Weltkriegs beleidigte er die Kriegshelden mit einem rassistischen Kommentar. Er brach einen beispiellosen und unnötigen Streit mit der Premierministerin von Großbritannien vom Zaun, eigentlich Amerikas engste Verbündete, indem er die anti-muslimischen Posts einer neofaschistischen britischen Gruppe via Twitter teilte. Mit der Absicht, die Stimme einer demokratischen Senatorin für seine bevorstehende Steuerreform zu gewinnen, ist er in ihren Bundesstaat gereist und hat Lügen über sie verbreitet (obwohl die Steuerreform das reichste eine Prozent der Amerikaner begünstigt, weshalb kein demokratischer Senator zugestimmt hat). Und er provoziert weiterhin den nordkoreanischen Machthaber Kim Jong-Un, der ähnlich labil zu sein scheint.

Gleichzeitig veröffentlichten sowohl die Washington Post als auch die New York Times Artikel mit verstörenden Berichten über das private Verhalten des Präsidenten. Trump hat angeblich ihm nahe stehenden Personen gegenüber behauptet, die berüchtigte „Access Hollywood”-Aufnahme von ihm, auf der man hört, wie er mit sexueller Belästigung prahlt, sei ein Betrug – obwohl er nach der Veröffentlichung der Aufnahmen durch die Washington Post in den letzten Wochen des Wahlkampfes deren Authentizität bereits zugegeben und sich entschuldigt hatte.

Trump hat auch seine verlogene Behauptung, Barack Obama sei nicht in den USA geboren, wiederaufgenommen, die freie Erfindung, mit der seine politische Karriere begann, und die er unter dem Druck seiner Berater kurz vor der Wahl zurücknahm. Dann schrieb er in einem Tweet, er habe einen Vorschlag des Time Magazins, ihn zur „Persönlichkeit des Jahres” zu ernennen, zurückgewiesen, weil der nicht definitiv gewesen sei. (Trump legt großen Wert darauf, auf dem Cover von Time zu erscheinen). Ein Sprecher von Time gab jedoch an, es sei nichts dergleichen vorgefallen.

Die Tatsache, dass Trump eine psychische Störung zu haben scheint, treibt Psychiater, Politiker und Journalisten gleichermaßen um. Einer Regel der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung zufolge dürfen ihre Mitglieder keine Ferndiagnosen erstellen. Aber angesichts einer Situation, die für einige Psychiater eine nationale Notsituation darstellt, haben viele diese Regel gebrochen und öffentlich über ihre professionelle Bewertung seines geistigen Zustands gesprochen oder geschrieben.

Weitgehend akzeptiert ist, dass er an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leidet, die viel ernster ist als einfach ein Narzisst zu sein. Laut der Mayo Clinic handelt es sich bei Störungen dieser Art um „einen mentalen Zustand, bei welchem die Betroffenen eine übertriebene Meinung von ihrer eigenen Bedeutung, ein tiefes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Bewunderung, ein gestörtes Verhältnis zu anderen und fehlende Empathie haben.” Zudem „liegt hinter dieser Maske extremen Selbstvertrauens ein schwaches Selbstbewusstsein, das durch Kritik leicht verwundbar ist.” Diese Definition stimmt nur allzu genau mit Eigenschaften überein, die Trump regelmäßig zeigt.

Eine andere Ansicht, die verschiedene Ärzte teilen, und die auf dem Vergleich von Interviews beruht, die Trump in den späten 1980ern und heute gegeben hat, ist, dass der Präsident, der heute mit einem viel beschränkterem Vokabular und viel weniger flüssig spricht, an den Anfängen einer Demenz leidet. Nach der hoch respektierten medizinischen Referenz UpToDate, einem Abonnementservice für Ärzte, gehören zu den Symptomen einer Demenz Unruhe, Aggressivität, Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Apathie und Enthemmung.

Zahlreiche republikanische Kongressmitglieder sind zutiefst besorgt über Trumps Unfähigkeit, mit der Präsidentschaft umzugehen – einem enorm anspruchsvollen Job. Man erzählt sich, Außenminister Rex Tillerson, der bald abgesetzt werden soll, habe Trump einen Idioten („moron“) genannt.

Trumps verstärktes fehlerhaftes Verhalten in den letzten Tagen wurde seiner wachsenden Sorge über die Ermittlungen von Mueller zugeschrieben, der eine mögliche Absprache von Trump und seiner Kampagne mit Russland untersucht. (…) Dies zunehmend bizarre Verhalten begann indes noch vor der Nachricht am 1. Dezember, dass Trumps erster nationaler Sicherheitsberater und vertrauter Wahlkampfberater, der ehemalige General Michael Flynn, mit dem FBI kooperieren will.

Außerdem:
  • Trump’s Way – Inside Trump’s Hour-By-Hour Battle For Self-PreservationMaggie Haberman, Glenn Thrush and Peter Baker – New York Times, 09.12.2017
    • „With Twitter as his Excalibur, the president takes on his doubters, powered by long spells of cable news and a dozen Diet Cokes. But if Mr. Trump has yet to bend the presidency to his will, he is at least wrestling it to a draw.“
  • Deutsche Psychiater rechtfertigen Ferndiagnose: „Ich halte Trump für gefährlich“ – Focus, 01.11.2017
    • „Sabine Herpertz, Direktorin der Psychiatrie am Universitätsklinikum Heidelberg sagt gegenüber der „Zeit“, dass sie sich normalerweise nicht zu öffentlichen Personen äußere: „Aber in dem Fall habe ich eine Verantwortung, auch als Wissenschaftlerin.“ Die Psychiatrieprofessorin sagt weiter wörtlich: Ich halte Trump für gefährlich. Deswegen kann ich mich meinen amerikanischen Kollegen nur anschließen.“ Zur Frage, ob die psychiatrische Ferndiagnose „krankhafter Narzissmus“ legitim sei, sagt Herpertz: „Trump ist ja ein sehr exponierter Mensch, der viel von sich zeigt. Das macht eine Ferndiagnose leichter, zumal das Bild, das er von sich entwirft, sehr einheitlich ist.““
    • „Claas-Hinrich Lammers, Chefpsychiater an der Hamburger Asklepios Klinik Nord-Ochsenzoll, meint dazu: „Die Kriterien sind extra so definiert, dass die Diagnose aus ganz klar beobachtbaren Phänomenen gestellt werden kann. Deswegen ist es auch gut möglich, die narzisstische Persönlichkeitsstörung aus der Distanz zu diagnostizieren.“ Trump erfülle alle Kriterien „in einer solchen Prägnanz und Deutlichkeit, dass es schon faszinierend ist“.“
  • „Ist Trump böse, verrückt oder beides?“ – Rolf Maag – 20minuten (Schweiz), 16.12.2017
    • „27 Psychiater und Psychologen finden, US-Präsident Donald Trump müsse seines Amtes enthoben werden.“

„Trump und die Kunst der irrationalen Provokation“

Original_New_Yorker_cover first editionAm 4. Oktober 2017 erschien in der Online-Ausgabe des traditions- und einflussreichen US-amerikanischen Magazins „The New Yorker“ ein  eindrucksvoller Kommentar des ehemaligen Chefredakteurs der Zeitschrift, Jeffrey Frank, über den grundlegenden Unterschied der politischen Denkweisen und Kommunikationsstile Donald Trumps im Vergleich zu früheren amerikanischen Präsidenten, sowie über die gravierenden Negativentwicklungen und Gefahren, die Trumps Politikstil mit sich bringt. Diesen aus meiner Sicht sehr lesenswerten Beitrag habe ich für den „Denkraum“ übersetzt.

Trump und die Kunst der irrationalen Provokation

Einige Tage nach dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima sinnierte ein Redakteur der Herald Tribune in einem Leitartikel über die „noch kaum zu glaubende Tatsache“, dass ein „kleines Gerät“, auf eine „dicht bevölkerte Stadt“ abgeworfen, „das zweifellos größte in einem einzigen Augenblick vollzogene Massaker in der ganzen Menschheitsgeschichte“ bewirkt hatte. Von dieser Atombombe und drei Tage später noch einer zweiten auf Nagasaki wurden mehr als hunderttausend Menschen getötet, die meisten von ihnen Zivilisten. Ein dritter Bombenabwurf war bereits vorbereitet, wurde aber von Präsident Harry Truman abgesagt. Der frühere Vizepräsident Henry Wallace, damals Handelsminister, erinnerte sich später, dass Truman ihm gesagt hatte, „der Gedanke, weitere hunderttausend Menschen auszulöschen, sei einfach zu grauenvoll. Die Vorstellung, ‚all those kids‘, wie er sich ausdrückte, zu töten, war ihm zuwider.“

Etwa sieben Jahre später, im Jahr 1952, wurde in der Nähe des Eniwetok-Atolls im Pazifischen Ozean die erste Wasserstoffbombe getestet, fast fünfhundert mal so stark wie die Bombe auf Hiroshima. Truman sprach diesen Atomwaffentest in seiner letzten Botschaft zur Lage der Nation an und sagte, dass „der Mensch in einem zukünftigen Krieg in der Lage wäre, Millionen von Menschenleben auf einen Schlag auszulöschen, die großartigen Städte unserer Welt zu vernichten, die kulturellen Errungenschaften der Vergangenheit auszuradieren – also die Struktur einer Zivilisation zu zerstören, die nach und nach mühsam von Hunderten von Generationen aufgebaut wurde. Ein solcher Krieg ist für vernünftige Menschen kein mögliches Mittel der Politik.“ Dies ist seither die rationale Auffassung aller amerikanischen Präsidenten gewesen.


„The war of the future would be one in which man could extinguish millions of lives at one blow, demolish the great cities of the world, wipe out the cultural achievements of the past—and destroy the very structure of a civilization that has been slowly and painfully built up through hundreds of generations. Such a war is not a possible policy for rational men.“    Harry S. Truman, 7. Januar 1953


Ob Donald Trump, der gegenwärtige amerikanische Präsident, nun ein rational denkender Mann ist oder nicht, jedenfalls drohte er kürzlich, den größten Akt einer Massentötung in der menschlichen Geschichte zu begehen, weit über Hiroshima hinausgehend. Das war am Morgen des 19. September bei den Vereinten Nationen, einer Organisation, die im letzten Jahrhundert gegründet worden war, damit, wie Trumps Redenschreiber es ausdrückte, „verschiedene Nationen kooperieren könnten, um ihre Souveränität zu schützen, ihre Sicherheit zu bewahren und ihren Wohlstand zu fördern.“ Um genau zu sein, waren Trumps Worte; „Die Vereinigten Staaten haben große Kraft und Geduld, aber wenn sie gezwungen sind, sich selbst oder ihre Verbündeten zu verteidigen, werden wir keine andere Wahl haben als Nordkorea vollständig zu zerstören“, worauf er hinzufügte, dass „Rocket Man“ – so nannte er Nordkoreas Staatschef Kim Jong Un – „auf einer Selbstmord-Mission für sich selbst und für sein Regime ist.“

Seitdem hat Trump Spieler der National Football League (sowie die Liga selbst) wegen friedlicher Proteste gegen Rassendiskriminierung beleidigt; er unterstützte einen Senatskandidaten in Alabama, der die Wahl verlor, und löschte dann die Tweets, in denen er seine Unterstützung zum Ausdruck gebracht hatte; und am vergangenen Wochenende verunglimpfte er den Bürgermeister von San Juan, der Hauptstadt von Puerto Rico – eine bewährte Methode, um die öffentliche Aufmerksamkeit von seiner vorherigen Vernachlässigung der Naturkatastrophe auf Puerto Rico abzulenken, die das Leben von mehr als drei Millionen Amerikanern betrifft.

Ablenkung ist eine Trumpsche Taktik. Seine UN-Rede ist allerdings nicht durch Ablenkungsmanöver in Vergessenheit geraten, vielmehr steht ihre leichthin zum Ausdruck gebrachte Mehrdeutigkeit weiterhin im Raum. Was bedeutete, „gezwungen, sich selbst oder seine Verbündeten zu verteidigen“? Anstatt zu sagen, dass die Vereinigten Staaten zurückschlagen würden, wenn Nordkorea sie tatsächlich angreifen würde (was jedoch ohnehin selbstverständlich ist), zog Trump es vor, etwas Unklares, nahezu Unverständliches über ein Thema zu sagen, das Eindeutigkeit verlangt.

Vielleicht wollte er die Welt nur daran erinnern, dass ein Staat mit überwältigender nuklearer Überlegenheit einen anderen Staat mit einem total unterlegenen Waffenarsenal leicht auslöschen könnte, „vollkommen zerstören“ – 25 Millionen Menschen, vermutlich innerhalb weniger Minuten. Aber wer benötigt eine solche Erinnerung?

Trump scheint es zu genießen, Kim zu provozieren, einen gefährlichen und leicht reizbaren jungen Mann, indem er sich auf eine Weise äußert, die – wie Evan Osnos am Sonntag schrieb – „prädestiniert ist, Kims Paranoia und Feindseligkeit anzufachen“. Als ob der Ausdruck „vollkommen zerstören“ nicht genug war, tweetete – tweetete! – Trump ein paar Tage später, am 23. September: „Gerade den Außenminister von Nordkorea bei der UNO reden hören. Wenn er die Gedanken von Little Rocket Man wiedergibt, werden sie nicht mehr lange unter uns sein!“

Was für eine Drohung ist das denn? Sie kam von demselben Präsidenten, der vor kurzem noch gesagt hatte: „Mit Ausnahme des großen Abraham Lincoln kann ich präsidialer sein als jeder Präsident, der dieses Amt jemals innehatte.“ Es überraschte daher nicht wirklich, als Kim in seiner Entgegnung gelobte, „den geistesgestörten senilen US-Greis definitiv und endgültig mit Feuer zu zähmen“.

Man kann nur mutmaßen, wie derartige Beschimpfungen den gefährlichsten Moment eines drohenden Atomkriegs im 20. Jahrhundert beeinflusst hätten – die Kubakrise vom Oktober 1962, als die Sowjetunion Atomraketen auf Kuba stationieren wollte. Präsident John F. Kennedy und Ministerpräsident Nikita Chruschtschow waren beide überzeugt, dass für ihre Staaten vitale strategische Interessen auf dem Spiel standen, aber beide waren trotzdem entschlossen, einen Krieg zu vermeiden.

Wie wäre die Sache wohl ausgegangen, wenn Kennedy – während er darauf bestand, dass die Raketen abgezogen werden – Chruschtschow als „Fat Nick“ verspottet hätte oder wenn Chruschtschow Kennedy einen „verdorbenen Dreckskerl“ genannt hätte? Hätte eine derartige Sprache die Welt einem Krieg auch nur einen winzigen Schritt näher gebracht, wie hätte die Geschichte und die Moral dieses Verhalten wohl beurteilt?

Die USA und die Welt haben gelernt, über Vieles von dem, was Trump von sich gibt, achselzuckend hinwegzugehen, auch deshalb, weil er kurz darauf schon wieder etwas anderes dazu sagt, oder zu vergessen scheint, was er ursprünglich gesagt hatte. Am Ende lässt dies viele seiner Äußerungen bedeutungslos erscheinen. Aber es ist die Existenz von thermonuklearen Waffen, die heute etwa die dreitausendfache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe haben, die Trumps irrationale Ausbrüche untragbar machen, ja unanständig.

Wenn Vernunft und Rationalität abhanden kommen, wie lange mag es dauern, bis reiner Wahnsinn ihren Platz einnimmt?

Jeffrey Frank, ehemaliger Chefredakteur des New Yorker und Autor von „Ike und Dick: Porträt einer seltsamen politischen Ehe“, arbeitet an einem Buch über die Truman-Ära.

Außerdem:
  • Trump says ‚only one thing will work‘ with North Korea – Jeff Mason – Reuters, 07.10.2017
    • Trump: “Presidents and their administrations have been talking to North Korea for 25 years, agreements made and massive amounts of money paid,” Trump said in a tweet. “…Hasn’t worked, agreements violated before the ink was dry, making fools of U.S. negotiators. Sorry, but only one thing will work!”
  • Donald Trump, and His Voters – Masha Gessen – The New Yorker, 06.10.2017
    • „Knowing what we know about Trump and what psychiatrists know about aggression, impulse control, and predictive behavior, we are all in mortal danger. He is the man with his finger on the nuclear button. Contributors to “The Dangerous Case of Donald Trump” ask whether this creates a “duty to warn.” But the real question is, Should democracy allow a plurality of citizens to place the lives of an entire country in the hands of a madman? Crazy as this idea is, it’s not a question psychiatrists can answer.“
  • Here’s How Deadly a North Korea Nuclear Attack Could Be – Eli Meixler – Time,  06.10.2017
    • „The report offers hypothetical scenarios based on the assumption that North Korea has a nuclear arsenal of some 20-25 warheads. The warheads are estimated to range from 15 kilotons — about the size of the „Little Boy“ bomb dropped on Hiroshima in 1945, killing more than 200,000 — to 250 kilotons — the estimated strength of a thermonuclear weapon. The report suggests that were North Korea to launch its entire arsenal against Tokyo (population 37.9 million) and Seoul (24.1 million), casualties in each city could reach as high as 3.8 million.“
  • Die Pöbler und ihre Arsenale des Schreckens – Hauke Friederichs und Steffen Richter – Zeit Online, 05.10.2017
    • „Zehntausende Soldaten, Kampfjets, Bomben: Ein Krieg auf der koreanischen Halbinsel würde zu einem internationalen Konflikt führen. Wer kann eigentlich womit drohen?“
  • A Hypothetical Nuclear Attack on Seoul and Tokyo: The Human Cost of War on the Korean Peninsula –  Michael J. Zagurek Jr. – 38 North, 04.10.2017
    • „At various times over the past few weeks, US President Donald Trump and other members of his administration have threatened to use military force to prevent North Korea from conducting additional nuclear or ballistic missile tests. The US carrying out any military option raises a significant risk of military escalation by the North, including the use of nuclear weapons against South Korea and Japan. According to the calculations presented below, if the “unthinkable” happened, nuclear detonations over Seoul and Tokyo with North Korea’s current estimated weapon yields could result in as many as 2.1 million fatalities and 7.7 million injuries.“
  • Evan Osnos Talks to David Remnick About Donald Trump’s Provocations of a Nuclear North Korea – Podcast – The New Yorker, 25.09.2017
    • „Osnos tells David Remnick that North Korea will never give up its nuclear weapons; they are no longer a bargaining chip but, rather, a source of national identity and security. Despite the forceful rhetoric and threats, Osnos found little appetite for war in either government, concluding that North Korea is not “a suicidal cult.” And he predicts that Trump will contain the risk rather than eliminate it.“
  • The Risk of Nuclear War with North Korea – Letter from Pyongyang from Evan Osnos – The New Yorker, 18.09.2017
    • „Evan Osnos joined The New Yorker as a staff writer in 2008, and covers politics and foreign affairs. He is the author of “Age of Ambition: Chasing Fortune, Truth, and Faith in the New China.”
    • Sehr gutes Video mit Evan Osnos (7:36 Min.) zu diesem Beitrag: „On the ground in Pyongyang: Could Kim Jong Un and Donald Trump goad each other into a devastating confrontation?“

„Es gibt einen Ausweg aus dem Nordkorea-Konflikt“

Fareed ZakariaFareed Zakaria ist einer der profiliertesten politischen Journalisten der USA. Er moderiert jeden Sonntag eine einstündige politische Magazinsendung auf CNN, Fareed Zakaria GPS, die weltweit ausgestrahlt wird und nach Angaben von Wikipedia ca. 200 Mill. Haushalte erreicht. Außerdem schreibt er u.a. eine wöchentliche Kolumne für die Washington Post, die er unter dem Titel „Fareed’s Take“ jeweils zu Beginn seiner CNN-Sendung vorträgt.

Am 28. September 2017 befasste sich seine Kolumne mit der gegenwärtigen Nordkorea-Politik der Vereinigten Staaten. Dieser Primitivversion des Umgangs mit einem brandgefährlichen Konflikt stellte er einen elaborierten politischen Lösungsansatz gegenüber, der von einem intimen Kenner der Region und der Konfliktparteien entwickelt wurde.

Diese beiden politischen Ansätze trennen Welten. Es wird schlagartig deutlich, dass der derzeitige, vorwiegend emotionsgesteuerte amerikanische Präsident kaum in der Lage sein wird, die differenzierten politischen Lösungsstrategien nachzuvollziehen (geschweige denn anzuwenden), die allein der Komplexität der unterschiedlichen Interessenlagen der an dem Konflikt Beteiligten gerecht werden und eventuell ermöglichen würden, Bewegung in die starren Fronten zu bringen.

Ich habe diese in meinen Augen besonders interessante Kolumne Fareed Zakarias übersetzt. Den (gekürzten) Vortrag des amerikanischen Originals (Fareed’s Take: „Trump likes to be the tough guy“) durch den Journalisten finden Sie hier.

Es gibt einen Ausweg aus dem Nordkorea-Konflikt

Die Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und Nordkorea ist derzeit an einem gefährlicheren Punkt angelangt als jemals in den letzten Jahrzehnten. Jede Seite proklamiert harte Positionen, verkündet Drohungen und unterstreicht, ihre Standpunkte seien nicht verhandelbar. Jede Seite hat sich festgelegt und kaum noch Spielraum. Wie bricht man aus diesem gefährlichen Weg aus?

Die Trump-Regierung hat einen kolossalen Fehler begangen, indem sie ohne solide Absicherungsstrategie ihre Rhetorik hochgefahren hat. Warum, bleibt unklar. Teilweise scheint es, dieses Weiße Haus will jede Politik der Obama-Ära umkehren. Teilweise ist es der gleiche undisziplinierte Ansatz, der so viele Aktionen dieser Regierung kennzeichnet: Top-Leute, die eigenmächtig und großspurig handeln. Zum Beispiel scheint Nikki Haley, US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, eine harte Linie auch deshalb einzuschlagen, um Außenminister Rex Tillerson zu überflügeln – und sich effektvoll für sein Amt zu empfehlen.

Aber das wichtigste ist vielleicht, dass Präsident Trump es liebt, der harte Kerl zu sein. Frühere Präsidenten reagierten mit Besonnenheit auf angriffslustige Statements von Führern wie Nikita Chruschtschow und Mao Tsetung. Die Vereinigten Staaten waren immer diszipliniert und vorsichtig; es waren die Jungs der Gegenseite, die verrückte Reden geschwungen haben. Aber Trump scheint entschlossen, auch bei den Beleidigungen das letzte Wort zu haben.

Wir müssen die Rhetorik zurückfahren und eine Strategie formulieren. Nordkorea hat eine – seit Jahrzehnten. Vor dem Hintergrund seiner Isolation und Gefährdungslage hat Nordkorea entschieden, nukleare Abschreckung zu benötigen. Und Pyongyang hat auf diesem Weg erstaunliche Fortschritte gemacht. Atomwaffen sind das einzige, das Kim Jong Un davor bewahrt, das Schicksal von Saddam Hussein oder Muammar al-Gaddafi zu erleiden. Das Regime wird diese Versicherung nicht aufgeben. Würden Sie es tun, wenn Sie in Kims Position wären?

Eine Denuklearisierung Nordkoreas zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist eine Wunschfantasie. Sie wird nicht stattfinden, es sei denn, die Vereinigten Staaten würden einen Krieg auf der koreanischen Halbinsel führen. Jeder weiß dies, aber kein Offizieller in Washington ist bereit, es öffentlich zuzugeben. Die Vereinigten Staaten verfolgen eine Zombie-Politik, die keine Chance auf Erfolg hat, aber gleichwohl angewandt wird. Das bedeutet, dass wir keinerlei Fortschritte in Richtung auf ein wünschenswertes und tatsächlich erreichbares Ziel machen können: das nordkoreanische Atomwaffenarsenal einzufrieren, weitere Atomtests zu stoppen und die Atomwaffen unter internationale Kontrolle zu bringen.

Ein Ausweg aus dieser lähmenden Situation wäre, die Problematik in einem neuen Rahmen zu betrachten und den Lösungshorizont zu erweitern. Josua Cooper Ramo, Co-Direktor von Henry Kissingers Beratungsfirma, hat einen Plan entwickelt, der in Washington zirkuliert, mit dem Ziel, eine internationale Konferenz über die Nichtweitergabe von Atomwaffen einzuberufen. Alle bestehenden Atomwaffenstaaten sollen zustimmen, ihre Arsenale für einige Zeit nicht zu testen oder zu erweitern – etwa 36 Monate lang. Inspektoren würden die Einhaltung überwachen. Alle anderen Nationen würden versichern, dass sie nicht beabsichtigen, Atomwaffen zu erwerben. Entscheidend wäre, dass Nordkorea eingeladen würde, sich dieser Vereinbarung anzuschließen, jedoch als Atomwaffenstaat, mit dem Ziel, den gegenwärtigen Entwicklungsstand einzufrieren und das Land möglicherweise später zu denuklearisieren.

Nach Ramos Auffassung sind die Vorteile dieses Ansatzes, dass er das Nordkorea-Problem in den breiteren Kontext der globalen Proliferation stellt, so dass jede Partei eine gesichtswahrende Möglichkeit erhält, ehemals starre, als nicht verhandelbar geltende Standpunkte zu verlassen. Auf diese Weise entstünde eine globale Koalition, die in die Lage versetzt würde, Sanktionen gegen Nordkorea zu verhängen, falls das Land seinen Verpflichtungen nicht nachkommen würde, und China ermächtigen würde, gegen seinen Verbündeten rigoros durchzugreifen. Dieser Plan berücksichtigt auch Pekings zentrale Sicherheitsbedenken: ein Kollaps Nordkoreas würde abgewendet, außerdem würde verhindert, dass Japan und Südkorea in den Besitz von Atomwaffen kämen. Ramo, ein exzellenter China-Kenner, ist überzeugt, dass dieser breitere Ansatz es der chinesischen Regierung ermöglichen würde, ihre Position zu ändern.

Die Details eines solchen Plans könnten bei Bedarf angepasst werden. Eventuell könnte mit dieser Konferenz auch der Versuch verbunden werden, den Vertrag über die Nichtweitergabe von Atomwaffen, der in seiner gegenwärtigen Form nicht mehr dem derzeitigen Stand der Dinge entspricht, zu aktualisieren und zu erweitern. (Der Vertrag, der 1968 ausgearbeitet wurde, ging noch von einer eindeutigen Unterscheidbarkeit von friedlicher Nutzung der Kernenergie und deren Verwendung zum Bau von Atomwaffen aus, die aber heute kaum noch gegeben ist.)

Vielleicht könnte die Konferenz in Form eines regionalen Forums stattfinden, wobei die Beteiligung von Japan und Südkorea besonders zu betonen wäre, damit deren Verpflichtung, keine Atomwaffen zu erwerben, als Schlüsselelement angesehen würde – ebenso wie die implizite Bedrohung, dass diese Länder frei wären, sich in eben diese Richtung zu bewegen, wenn es keine entsprechende Vereinbarung gäbe.

Es existiert keine wirklich gute – geschweige denn perfekte – politische Lösung für das Nordkorea-Problem. Aber die Trump-Regierung muss auf jeden Fall mit den Beleidigungen aufhören, Vernunft annehmen und versuchen, einen Weg zu finden, um die Situation zu stabilisieren. Andernfalls sind wir auf einem Weg, der Washington dazu zwingen wird, entweder in den Krieg zu ziehen oder stillschweigend seine Niederlage gegen den kleinen Rocket Man einzuräumen.

Außerdem:
  • Nordkorea und USA wollen Trumps Geisteszustand ergründen – Analyse von Manuel Escher – Der Standard, 03.10.2017 (mit weiteren Links zum Thema)
    • „Provoziert Trump planvoll oder impulsiv? Die Antwort hat Folgen für Krieg und Frieden.“
    • „Donald Trump will laut Medienberichten als unberechenbarer „Madman“ wahrgenommen werden. Das ist gefährlich, sagen Experten: Gelangt Nordkorea etwa zu der Auffassung, dass ein Angriff der USA unabwendbar sei, könnte das Land einen Erstschlag gegen Südkorea oder Japan starten.“
    • „Donald Trump, schrieb die Internetseite „Axios“ jüngst, soll seinen Mitstreitern kürzlich einen ungewöhnlichen Befehl gegeben haben: Man solle ihn in den Verhandlungen über ein Handelsabkommen mit Südkorea möglichst als Verrückten darstellen, der die Vereinbarung jederzeit in der Luft zerreißen könnte. Die Autoren von „Axios“ schließen daraus, dass Trump auch in anderen Politikbereichen dem Leitfaden folgt, den US-Präsident Richard Nixon einst im Vietnam-Krieg alsMadman-Theorie bekannt gemacht hat: Andere Staaten sollen glauben, dass die USA auch zu irrationalen Handlungen bereit seien, wenn man auf ihre Bedingungen nicht ausreichend eingehe. Trumps teils ungewöhnliches Verhalten wäre demnach Teil seiner Verhandlungstaktik.“
    • „Nicht alle halten diese Erklärungsversuche aber für glaubhaft, auch abseits jener demokratischen Politiker, Medien und Mediziner, die als Ursache für das teils bizarre Verhalten des militärischen Oberbefehlshabers eine medizinische Erklärung – etwa eine Erkrankung an Neurosyphilis– vermuten und daher eine Offenlegung von Trumps medizinischen Befunden fordern. „Man sollte nicht versuchen, etwas durch Bosheit zu erklären, was sich auch hinreichend durch Dummheit erklären lässt“, schrieb etwa der Experte für Meinungsforschung, Nate Silver, auf der vielgelesenen Plattform „Fivethirtyeight“ am Montag. Er sehe Trumps Verhalten nur in den wenigsten Fällen als berechnend, vielmehr lasse sich vieles auch dadurch erklären, dass der Präsident eben ein emotionaler und impulsiv handelnder Mensch sei, der rassistische und sexistische Vorurteile habe und diesen entsprechend handle. Zu selten, so Silver, ergebe sich aus dem Wüten des Präsidenten ein politischer Vorteil.“
  • Kim Jong Un and the Place of PrideAndray Abrahamian – 38 North, 02.10.2017
    • 38 North is a website devoted to informed analysis of North Korea – a project of The US-Korea Institute (About) at Johns Hopkins School of Advanced International Studies (SAIS).
    • „By making it personal, both Kim Jong Un and Donald Trump are boxing themselves in.“
    • „If a cataclysm on the Korean peninsula is to be avoided, President Trump must dial back the personal nature of his rhetoric. What worked well on the campaign trail will not yield results with Kim Jong Un. Kim will push back. He may even stumble into a war for the sake of his personal pride.“
  • Hemmungslos bloßgestellt – Oliver Kühn – FAZ, 02.10.2017
    • „Der amerikanische Präsident Donald Trump macht seinen Außenminister Tillerson öffentlich lächerlich. Er scheint ein Hollywood-Klischee falsch verstanden zu haben.“
    • „Diese Politik mag bei Trumps Anhängern funktionieren, im Fall Nordkoreas jedoch wirkt sie nicht. Genauso wie der amerikanische Präsident will Kim Jong-un nach innen Stärke demonstrieren. Er will seinen Anhängern klar machen, dass er es sogar mit dem amerikanischen Präsidenten aufnehmen kann und sich nicht einschüchtern lässt. Trumps Äußerungen dürften Kim deshalb eher noch darin bestärken, seine Politik fortzuführen. Nur die glaubwürdige Abschreckung mit funktionstüchtigen Atomraketen, die auch das amerikanische Festland erreichen könnten, wird von Kim als Überlebensgarantie angesehen. Seine Drohung, den ersten Test einer Atombombe in der Atmosphäre seit 37 Jahren durchzuführen, muss also durchaus ernst genommen werden. – Schon jetzt würde eine kriegerische Auseinandersetzung nur Verlierer produzieren. Denn militärisch verfügt Kim durchaus über ein ansehnliches Potential. Seine Artillerie kann die südkoreanische Hauptstadt Seoul erreichen und seine Raketen die großen Städte in Japan. Außerdem kann Kim die Granaten und Raketen noch mit chemischen Waffen bestücken, was Millionen Opfer zur Folge hätte.“
  • The best hope for peace in Northeast Asia is that North Korea does not take Trump seriouslyDaniel W. Drezner – Washington Post, 02.10.2017
    • Daniel W. Drezner is a professor of international politics at the Fletcher School of Law and Diplomacy at Tufts University
    • „Trump wants the rest of the world to think he is a madman. Fortunately and unfortunately, the rest of the world thinks he is a blowhard (Angeber, Sprücheklopfer).
  • The Media Needs To Stop Rationalizing President Trump’s BehaviorNate Silver – FiveThirtyEight, 30.09.2017
    • „His outburst on Hurricane Maria and Puerto Rico shows that not everything is a clever ploy to rally his base.“

Atomkriegsspielereien

Atombabies

(edelstudio)

Offenbar kein Erwachsener da zum Aufpassen…

Konflikteskalation nach Glas

(Konflikteskalation nach Friedrich Glasl)

Gegenwärtig: Eskalationsstufe 6.

  • Kim verweigert Gespräche mit den USA – oe24, 01.10.2017
    • „Nordkorea lässt US-Außenminister Tillerson abblitzen.“
  • Trump nennt Gespräche mit Nordkorea „Zeitverschwendung“ – FAZ, 01.10.2017
    • „Sein Außenminister streckt die Fühler nach Pjöngjang aus, da grätscht ihm Donald Trump dazwischen: Für ihn haben Gespräche mit Nordkorea keinen Sinn, wie er wissen lässt.“
  • Cohen: Yes, war with North Korea is a real possibility – Andrew Cohen – Ottawa Citizen, 26.09.2017
    • Andrew Cohen is a journalist, professor and author of „Two Days in June: John F. Kennedy and the 48 Hours That Made History“.
    • „We are hurtling toward war with North Korea. It may be as early as next month. It may not be deliberate. It may be what no one wants or expects. It may be mischance, misperception and misfortune. With each day of threats and cries from leaders on both sides, it becomes more likely. (…) The prospects of nuclear war today are the greatest since the Cuban Missile Crisis in October 1962, the closest we have ever come to Armageddon. Wars often start as a succession of irreversible incidents. A runaway train of events. A clash of vanity, honour, affront, anger, anxiety, revenge, stupidity. Soon we are in a narrow place with few options.“
    • „Now, in a breathtaking fusillade of insults, epithets and threats, the commander-in-chief uses the same rhetoric that Kim does. His platform is Twitter. Or, worse, the United Nations. This has never happened. No one in the nuclear age in the Oval Office has talked like Donald Trump. No one with nuclear missiles has threatened “fire and fury,” to “totally destroy ” North Korea, or has warned its leadership they may “not be around much longer.” Or called his opponent “little rocket man.”
    • „My God, it has come to this: a naïve, blithe confidence that the United States can hit first and get away with it. It can’t. The moment Kim sees that he will lose everything, he will go nuclear.“
  • Bericht: Nordkorea verlegt Kampfflugzeuge an die Ostküste – Zeit Online, 26.09.2017
    • „Im schärfer werdenden Konflikt mit den USA baut Nordkorea nach Medienberichten seine Verteidigungsstellung an der Ostküste aus und hat Kampfflugzeuge dorthin verlegt.“
  • Nine charts which tell you all you need to know about North Korea – BBC, 26.09.2017
    • „As North Korea and the United States continue to trade threats, we have little idea how the war of words is perceived to the people of North Korea because the regime of Kim Jong-un maintains an iron grip over the population, carefully controlling access to the outside world.“
  • Here are the options for dealing with North Korea – Stanford University, 25.09.2017
    • Michael R. Auslin is a research fellow in contemporary Asia at the Hoover Institution at Stanford University, who specializes in global risk analysis, US security and foreign policy strategy, and security and political relations in Asia. Gi-Wook Shin is a professor of sociology, a senior fellow at the Freeman Spogli Institute for International Studies, and director of the Shorenstein Asia-Pacific Research Center. The two scholars recently talked about the escalating situation between the two countries and what real options the two leaders have on the table.“
  • Nordkorea droht mit Abschuss von US-Bombern – Zeit Online, 25.09.2017
    • „Die USA haben Militärflugzeuge vor die Küste Nordkoreas fliegen lassen, jetzt antwortet das Regime: Man könne diese Maschinen auch im internationalen Luftraum abschießen.“
  • Nuclear war isn’t North Korea’s only threat – Eric O’Neill – CNN, 25.09.2017
    • „North Korea has long been investing in creating a dedicated cyber army.
      Battleground for future conflicts will be found in both kinetic and cyberwar theaters.“
  • Nordkorea wertet Trumps Worte als Kriegserklärung – Spiegel Online, 25.09.2017
    • „Der Konflikt mit Nordkorea spitzt sich weiter zu: Donald Trump habe dem Land mit seinem jüngsten Statement den Krieg erklärt, sagt der nordkoreanische Außenminister – und droht mit dem Abschuss von US-Flugzeugen.“
  • Trump gegen Nordkorea – „Sie werden nicht mehr lange da sein“ – Spiegel Online, 24.09.2017
    • „Die USA haben Bomber an die Küste Nordkoreas entsendet – und Präsident Trump schickt eine verbale Attacke hinterher. Zudem spekuliert er über eine Zusammenarbeit Irans mit dem Regime von Kim Jong Un.“
  • DONALD TRUMP IS A THREAT TO SURVIVAL OF LIFE ON EARTH – Helena Wright – Newsweek, 24.09.2017
  • Welche Folgen hätte Nordkoreas Kernwaffentest über dem Pazifik? – Markus Brauer – Stuttgarter Nachrichten, 22.09.2017
    • „Nicht nur die Rhetorik zwischen Pjöngjang und Washington hat eine neue Eskalationsstufe erreicht. Auch die Drohgebärden. Wird Nordkorea seinen martialischen Worten bald Taten folgen lassen?“
  • „Nur ein verängstigter Hund bellt lauter“Antwort Kim Jong-Uns im Wortlaut auf die Rede Donald Trumps vor der UNO  – FAZ, 22.09.2017
    • „Nordkoreas Führer Kim Jong-un hat auf die Rede des amerikanischen Präsidenten Donald Trump vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen geantwortet. Es soll die erste direkte Stellungnahme eines nordkoreanischen Führers sein. Die staatliche Nachrichtenagentur KCNA veröffentlichte am Freitag diese Stellungnahme.“

KT ante portas: Alles wieder gutt?

Karl Theodor zu Guttenberg macht wieder Wahlkampf in Bayern und ist von Horst Seehofer, wie man lesen kann, bereits als CSU-Minister in Berlin vorgesehen. Nachdem der fränkische Freiherr sich vor ca. 6 Jahren für ein derartiges Amt gründlich disqualifiziert hatte, drängt sich die Frage auf, warum er denn heute dafür geeignet sein sollte. Erleben wir einen grundlegend geläuterten KT, oder droht ein zweites Mal die Verwechslung von Inhalt und Verpackung? – Reminiszenzen an einen gescheiterten Politiker und Impressionen vom heutigen Wahlkämpfer (mit einem Seitenblick auf Max Frischs Roman „Stiller“).

Karl-Theodor zu Guttenberg

Karl Theodor zu Guttenberg steht möglicherweise vor seinem Comeback in die Bundespolitik. Sein früherer Ziehvater Seehofer lobt ihn im „Spiegel“ über den grünen Klee und will „den hervorragenden Politiker“ wieder als Minister in Berlin sehen („der spielt in einer ganz eigenen Liga“). CSU-Wähler in seiner fränkischen Heimat stürmen die Bierzelte, wenn KT, wie sie ihn nennen, Wahlkampfauftritte für seine Partei zelebriert. Sie bejubeln ihn wie damals, als der Freiherr zwei Jahre lang der Shooting Star der deutschen Politik war, mit Popularitätswerten, die jene der Bundeskanzlerin weit übertrafen.

Vor sechseinhalb Jahren dann der tiefe Fall: Man wies dem Überflieger nach, dass seine gesamte Doktorarbeit im Wesentlichen eine Collage aus Texten anderer Wissenschaftler war, die Guttenberg z.T. seitenweise wörtlich übernommen hatte. „Ein deprimierend eindeutiger Fall eines Plagiats“ (Norbert Lammert). Der Freiherr versuchte sich damit herauszureden, er habe infolge Arbeitsüberlastung den Überblick über seine Textdateien verloren und fremde Texte nicht mehr von seinen eigenen unterscheiden können. Während seine Fangemeinde weiterhin fest zu ihm hielt (ein Phänomen, das man auch von Donald Trump kennt), regte sich vor allem in akademischen Kreisen rasch erheblicher Unmut über den eloquenten, charismatischen Politstar, der es bis zum Verteidigungsminister gebracht hatte.

Die Anschuldigungen waren gravierend. Der Nachfolger von Guttenbergs Doktorvater an der Universität Bayreuth, Prof. Oliver Lepsius, empörte sich öffentlich, man sei „einem Betrüger aufgesessen“, der mit einer „Dreistigkeit ohnegleichen (…) honorige Personen der Universität hintergangen“ habe. Es sei absurd, dass Guttenberg nicht wahrhaben wolle, vorsätzlich getäuscht zu haben: „Der Minister leidet unter Realitätsverlust. Er kompiliert planmäßig und systematisch Plagiate, und behauptet, nicht zu wissen, was er tut.“ Hier liege „die politische Dimension des Skandals„: die unverantwortliche vorgeschobene Ahnungslosigkeit, das mangelnde Unrechtsbewusstsein des Freiherrn sowie dessen Realitätsverlust ließen sich mit einem Ministeramt nicht vereinbaren. Die Plagiatsfrage werde zur Charakterfrage.

Guttenbergs Rücktritt war schließlich unumgänglich, lediglich den Marsch, der ihm beim Großen Zapfenstreich geblasen wurde, durfte er sich noch aussuchen. Der Doktortitel wurde ihm von der Universität Bayreuth aberkannt.

„Hang, die Wahrheit zu biegen“

Der Frage nach dem Charakter, nach der Persönlichkeit, nach dem wahren KT gingen investigative Journalisten indes weiter nach. Es gab nämlich ein Dissonanzerlebnis: Da war einerseits das öffentliche Bild des smarten, intelligenten und in der Bevölkerung überaus beliebten Politikers, der schon als möglicher Nachfolger Angela Merkels gehandelt wurde. Andererseits verdichteten sich die Hinweise, dass in dem Freiherrn in Wahrheit ein chronischer Blender mit einer gehörigen Neigung zum Hochstapler steckte. Nachdem man beispielsweise seinen offiziellen, auf seiner Internetseite veröffentlichten Lebenslauf einem Faktencheck unterzogen hatte, konstatierte die „Zeit“ unter der Überschrift „Der Lügenbaron“ bei Guttenberg einen „Hang, die Wahrheit zu biegen“:

„Bereits zum Beginn seiner Amtszeit als Wirtschaftsminister strapazierte er die Wahrheit: „Ein teilwirtschaftliches Fundament durfte ich mir in der Zeit vor der Politik bereits aneignen durch die Verantwortung, die ich im Familienunternehmen getragen habe“, sagte er damals. Das klingt erfahren und seriös. Guttenberg führte tatsächlich die Guttenberg GmbH, ein Unternehmen mit drei Mitarbeitern, das 2000 einen Jahresumsatz von gerade einmal 25.000 Euro erwirtschaftet haben soll. Der CSU-Politiker berichtete zudem, er habe von 1996 bis 2002 dem Aufsichtsrat der Rhön-Klinikum AG angehört. Aktiv oder engagiert soll er in dem Gremium jedoch nie gewesen sein, berichteten andere Mitglieder. Die Familie Guttenberg hielt 26,5 Prozent der Stammaktien und war deswegen im Kontrollgremium vertreten. Eine eigene Leistung des Freiherrn war mit der Berufung nicht verbunden.

Das Magazin Panorama des NDR-Fernsehens spießte darüber hinaus 2009 auf, wie Guttenberg seine Berufserfahrung in der freien Wirtschaft darstellte. „Ich durfte im Zuge dessen mit teilnehmen an einem Gang, den die Familie mit begleitet hat – und zwar federführend mit begleitet hat – eines großen Konzerns, der an die Börse geführt wurde, und der ein M-Dax Unternehmen wurde. Ihnen werden die Rhön-Kliniken etwas sagen“, verkündete der Minister Anfang 2009 verschwurbelt. Die Rhön-Kliniken gingen allerdings bereits 1989 an die Börse. Das war wenige Tage vor Guttenbergs 18. Geburtstag. „Andere lernen in diesem Alter gerade Autofahren“, stellte die Panorama -Redaktion süffisant fest. In seinem Lebenslauf finden sich weitere Belege dafür, wie Guttenberg mit der Wahrheit umgeht: „Freier Journalist bei der Tageszeitung Die Welt „, steht dort. Doch beim Axel-Springer-Konzern, dem Verlag der Welt, heißt es, Guttenberg sei Praktikant in der Redaktion gewesen. Mehr könne nicht bestätigt werden. Auch weitere Stationen scheint der Politiker aufgehübscht zu haben: So berichtet die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, dass aus Praktika als Student in der Vita „berufliche Stationen in Frankfurt und New York“ wurden.“

Als schließlich noch weitere Plagiate Guttenbergs ausfindig gemacht wurden, war dessen tiefgehende Neigung, im Interesse seiner Selbstinszenierung die Wahrheit zu biegen, schön zu färben und hoch zu stapeln, unübersehbar geworden.

Auch die politischen Leistungen des zurückgetretenen Ministers wurden nun genauer unter die Lupe genommen. Es stellte sich heraus, dass es vorwiegend er selbst war, der sein Wirken als Verteidigungsminister als außergewöhnlich erfolgreich dargestellt hatte – vor allem die in seine Amtszeit fallende Abschaffung der Wehrpflicht und die von ihm eingeleitete Bundeswehrreform. Während sich erstere ohnehin schon länger abgezeichnet hatte, erwies sich Guttenbergs Planung der Bundeswehrreform als nicht machbar – ein Schuss in den Ofen, wie unter seinem Nachfolger Thomas de Maiziere bald offenkundig wurde. Sigmar Gabriel ließ es sich nicht nehmen, kürzlich zu resümieren, Guttenberg sei als Verteidigungsminister „ungefähr so sorgsam mit der Bundeswehr umgegangen wie mit seiner Doktorarbeit“.

Gleichwohl holte Horst Seehofer seinen politischen Ziehsohn aus der amerikanischen Versenkung in den Bundestagswahlkampf. Er ahnte, dass der charismatische Populist in fränkischen Bierzelten immer noch gut ankommen würde. Überdies suchte er eine weitere, ihm treu ergebene Figur für die ebenso dünne wie spannungsreiche Führungsriege der CSU.

Ministrabel durch Zeitablauf?

Dem kritischen Beobachter drängt sich eine besorgte Frage auf: Ist der Plagiator, Wissenschaftsbetrüger und gescheiterte Verteidigungsminister plötzlich wieder ministrabel, allein aufgrund des Zeitablaufs? Kann man dem smarten, eloquenten Selbstinszenierer, in dem zahlreiche CSU-Wähler immer noch ein politisches Idol sehen, wieder ein hohes Staatsamt anvertrauen? Ist er inzwischen tatsächlich der anständige Kerl geworden, als der er sich fortwährend dargestellt hat? Oder steckt in ihm immer noch der substanzlose Blender, Schwindler und Schaumschläger von damals?

Für einen Horst Seehofer sind derlei Fragen irrelevant. Wie bei Franz Josef Strauß hat Politik für ihn mit moralischen Kategorien wenig zu tun. Der bezweckte Erfolg heiligt die Mittel. Die politische Kultur bleibt auf der Strecke.

Es war übrigens Guttenberg selbst, der sich gleich in seiner ersten Rede im heimischen Kulmbach die Absolution erteilte:

„Danke, danke für diesen Empfang, den ich nie erwarten durfte und konnte. Es ist schön dahoim“, ruft Guttenberg, und der Saal tobt. Und dann, nach kaum fünf Minuten, sagt er schon jene Sätze, die an diesem Abend wohl seine wichtigste Botschaft sind und auf die auch im Publikum viele gewartet haben: „Ich habe alle Konsequenzen gezogen und ertragen. Aber ich darf auch nach so langer Zeit für mich sagen, jetzt ist auch mal irgendwann gut.“ Der Jubel der CSU-Anhänger im Saal könnte größer nicht sein: Ihr Held ist wieder da. Katharsis abgeschlossen.“ (FAZ, 31.08.2017)

Dass der frühere Spitzenpolitiker nach seinem unrühmlichen Abgang im Frühjahr 2011 Konsequenzen ziehen und ertragen musste, liegt in der Natur der Sache. Beschämt über seinen tiefen Fall tauchte er jahrelang in die USA ab. Wenn er nun suggerieren möchte, er habe für sein Fehlverhalten somit eine Strafe verbüßt und müsse jetzt als resozialisiert gelten, so ist dies ausgemachter Humbug. Und wenn er „nach langer Zeit für (sich) selbst“ meint sagen zu können, „irgendwann ist auch mal wieder gut“, dann hat er das Wesentliche nicht verstanden. Entscheidend ist seine charakterliche Eignung für ein politisches Amt. Die war damals nicht gegeben, und die erwirbt man nicht, indem man einige Jahre von der Bildfläche verschwindet. Oder hat der Freiherr die Zeit genutzt und durch einen Prozess grundlegender Läuterung und Persönlichkeitsreifung seine damalige Tricksterpersönlichkeit überwunden?

Mund abgewischt und aufgestanden

Verfolgt man die Berichterstattung über die Wahlkampfauftritte Guttenbergs, kann man daran nur zweifeln. Einige Pressezitate aus den letzten Tagen:

„KT trägt ein dunkelblaues Jackett, hat den obersten Hemdknopf offen gelassen und spricht frei, ohne Notizen: „Ich turne hier herum und nicht am Rednerpult, weil ich sonst Gefahr liefe, eine abgeschriebene Rede vorzulesen.“ Guttenberg, Entertainer und Selbstdarsteller, hat in Amerika nichts verlernt. „ (Zeit Online, 31.08.2017)

„Aber war da nicht mal was? Die abgeschriebene Doktorarbeit, der einstweilige Abschied von politischen Ämtern, die Übersiedlung in die USA? Guttenberg wandelt das heikle Thema in einen Lacher. Er begrüßt einen der anwesenden CSU-Honoratioren ausdrücklich mit dessen Doktortitel. „Da muss ich besonderen Wert darauf legen“, sagt Guttenberg. Im Zelt finden sie das witzig.“ – Ansonsten gibt sich der ehemalige Bundesminister reumütig: Er habe „dunkle Stunden“ durchlebt, die seien „selbstverschuldet“ gewesen. Nach dem Hinfallen habe er sich aber den Mund abgewischt und sei aufgestanden. Auch in diesem Motiv ist Guttenberg sehr amerikanisch: Der Mann, der nach dem Fehler eine zweite Chance verdient hat.“ (Spiegel Online, 04.09.2017)

„Zu hören ist auch, dass sich viele KT-Jubler wohl vom „von und zu“ blenden ließen. Sie gingen allzu bereitwillig darüber hinweg, wie locker und scheinbar ohne echte Reue Guttenberg heute mit seiner abgeschriebenen Doktorarbeit kokettiere.“ (Neue Presse, 08.09.2017)

„Die Neigung, Politik mit einem Touch von Theater zu verbinden – in diesem Fall Kabarett – hat der Baron konserviert. Zum Beispiel wenn er erzählt, wie US-Präsident Trump eine Glühbirne eindrehe: „Er steigt auf einen Stuhl und wartet, dass sich die Welt um ihn dreht.“ (…) Guttenberg zieht über Politiker her, Kim Jon Il nennt er einen „Dickmops mit lustigem Haarschnitt“. Sigmar Gabriel mache gerade eine „Verschlankung“ durch, er hoffe, der Außenminister fange nicht auch noch an mit Marathonläufen und ende wie Joschka Fischer als „Dörrzwetschge“. Zwischen seinen Kalauern nimmt Guttenberg sein Publikum mit auf eine Reise durch die Welt: „Wir hatten den Brexit, eine interessante Wahl in den USA, eine besorgniserregende Krise mit und um Nordkorea, der Nahe Osten steht noch immer in Flammen, Venezuela droht zu zerbröseln.“ (Zeit Online, 31.08.2017)

„Richtig laut wird es in der Halle aber besonders dann, wenn er sich als Meister der Verkürzung zeigt. Gegenüber der Türkei müsse man Härte zeigen: „Die Verhandlungen zur Zollunion mit der Türkei auf Eis legen und zwar komplett!“ Nach den G20-Krawallen gelte in Hamburg offensichtlich, Täterschutz gehe vor Opferschutz. Und klar sei für ihn: „Ein Christkindlmarkt ist kein Winterfest, ein Sankt-Martins-Umzug ist kein Lichterfest.“ Burka und Niqab hätten in Deutschland nichts verloren. (…) Dass solche mitteltiefen Weltanalysen in einer durchschnittlichen Wahlkampfrede an der CSU-Basis so bejubelt werden, zeigt auch, wie sehr die letzten Jahre an die Substanz der Partei gegangen sind.“ (Zeit Online, 31.08.2017)

Guttenberg habe einen „unglaublich großen Wortschatz, aber wenig Substanz“, lautet ein weiteres Urteil. Er sei einer für den Stimmenfang, aber keiner, dem man Partei oder Land anvertrauen sollte. Die aktuelle Heimholung und die damit verbundenen Spekulationen seien ein „typischer Seehofer“. (Neue Presse, 08.09.2017)

„Da tritt einer wegen einer gefälschten Doktorarbeit zurück, klinkt sich jahrelang aus dem politischen Betrieb aus, fliegt zu neun Wahlkampfauftritten nach Bayern ein und zieht die Massen sofort wieder in seinen Bann. Allerdings, auch das gehört zu diesem Phänomen: Je mehr der Beifall an der Basis anschwillt, desto lauter wird das Grummeln in den höheren Partei-Etagen. „Die CSU-Offiziere sehen Guttenberg deutlich kritischer als die kleinen Leute“, sagt ein Abgeordneter. Sie bezweifeln, dass Guttenbergs politische Substanz mit seiner rhetorischen Kraft mitzuhalten vermag. Auch der Missmut über Horst Seehofer wächst. (Süddeutsche Zeitung, 05.09.2017)

Denn natürlich passt eine mögliche Rückkehr nicht jedem. Die Stimmen, die Guttenberg für einen eitlen Geck ohne Format halten, gibt es auch in der CSU. (Zeit Online, 31.08.2017)

Wiederkehr des Gleichen

Max Frischs 1954 erschienener erster Roman „Stiller“ behandelt ein Thema, das den Autor zeitlebens beschäftigt hat – die Auseinandersetzung mit dem Spannungsverhältnis zwischen der objektiven Identität und den subjektiven Vorstellungen eines Menschen von sich selbst: Einerseits ist da die reale Person, deren Lebensverlauf und soziale Identität von ihren eigenen Grenzen, aber auch von dem Bild, das Andere von ihr haben, beeinflusst wird, und andererseits gibt es den Wunsch, eben nicht auf eine bestimmte Identität und Lebensgeschichte festgelegt zu sein, sondern sich jederzeit neu wählen, neu definieren zu können. Der Protagonist des Romans, Stiller, hatte sich in der Schweiz in Probleme verstrickt und war daraufhin in die USA verschwunden. Als er nach sieben Jahren zurückkehrte, behauptete er, verwechselt zu werden. Er sei nicht der gesuchte Stiller, sondern ein Mann namens White. „Ich bin nicht Stiller“, lautet der erste Satz des Romans. Er will nicht der sein, der er ist, sein früheres Leben ist ihm verhasst, er möchte noch einmal neu beginnen, als unbeschriebenes Blatt („White“), nicht festgelegt durch seine Vergangenheit. Dies erweist sich als unmöglich, denn die Gesellschaft entlässt ihn nicht aus seiner objektiven Identität als Person mit einer faktischen Lebensgeschichte. Sie schafft eine erdrückende Beweislage, der er sich schließlich beugt und sein Leben auf der Grundlage seiner realen, mit seinem ursprünglichen Namen verbundenen Identität fortsetzt.

Der Protagonist dieser Überlegungen versucht eine andere Lösung. Er war nicht vor sich selbst geflohen, wie Stiller, sondern vor uns, seinem Publikum, vor dem er sich ziemlich unmöglich gemacht und das sich „not amused“ gezeigt hatte. Zwischen ihm und uns, den Zeugen seines Scheiterns, musste erst einmal große räumliche Distanz gebracht werden. Nun, nach fast sieben Jahren, kommt er zurück auf die Bühne, probeweise. Aber er kann nur den gleichen KT geben wie damals – einen anderen, neuen, authentischen und geläuterten gibt es nicht. Also setzt er da wieder an, wo er aufgehört hat. Die gleiche Rhetorik, die gleiche Art der Selbstdarstellung: viel politischer Populismus, kaum tiefer gehende Analyse, mit jugendlich sympathischer Frische vorgetragen. Zudem werden wohlerzogener Anstand und Demut dargeboten. So wünscht sich der CSU-Wähler seinen Schwiegersohn, und so war er schließlich schon einmal erfolgreich. Dann gab’s da diesen Ausrutscher – ach, lange her. Ein bisschen Selbstironie, und schon hat er die Lacher wieder auf seiner Seite. Das ist die Lösung des Blenders, des Tricksters, des Selbstinszenierers. Zumindest im Bierzelt scheint sie zu verfangen.

Man darf gespannt sein, ob sie nur dort funktioniert, oder ob der Plan seines Steigbügelhalters Seehofer am Ende aufgeht und wir KT bald wieder in höheren Ämtern sehen. Vorerst will er jedenfalls in die USA zurückkehren.

Hier zwei Empfehlungen für seine Reiselektüre: „Inszenierung als Beruf – Der Fall Guttenberg“, herausgegeben von Oliver Lepsius und Reinhart Meyer-Kalkus, edition suhrkamp, 2011. Und den „Stiller“ von Max Frisch.

Nachtrag am 06.10.2017:

Weiter unten (s. „Außerdem“) finden Sie Hinweise auf die aktuelle Berichterstattung, die dubiose Firma Guttenbergs – Spitzberg Partners – betreffend.

(mehr …)

Gabor Steingart: „Die überforderte Gesellschaft“

Ein „Impulsreferat“ zum Thema „Die verunsicherte Gesellschaft“ hielt Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart beim Deutschen Verbrauchertag am 19. Juni 2017 in Berlin  – nach der Rede der Bundeskanzlerin und vor der Rede von Martin Schulz.

Dieser inhaltlich höchst bemerkenswerte und rhetorisch brillante Vortrag wird hier nicht nur verlinkt, sondern in weiten Teilen wiedergegeben, denn Denkraum-Leser sind erfahrungsgemäß eher geneigt, einen Blogbeitrag zu lesen als einen Link anzuklicken.  – Hervorhebungen von mir.

(…) Die verunsicherte Gesellschaft“, lautet mein Thema und ich werde damit beginnen, dass ich die Gesellschaft vor diesem – von mir selbst gewählten – Titel in Schutz nehme. Die Bevölkerung ist nicht verunsichert. Sie ist lediglich realistisch. Die Menschen schätzen die Lage richtig ein, indem sie feststellen: Wir alle sind überfordert. Wir als Individuum, aber auch der Staat, die Wirtschaft und die Parteien leiden an Überforderungssymptomen, selbst wenn die Kanzlerin das erst in ihren Memoiren zugeben kann.

Wir leben im Zeitalter von Hyperkomplexität, Hochgeschwindigkeit, ökonomischer Besinnungslosigkeit und erleben eine schier endlos scheinende Folge von Kontrollverlusten. Erst verloren die Banken die Kontrolle über ihre Bilanzen, dann die Politiker die Kontrolle über unsere Außengrenzen. Der US-Präsident hat schon mit der Selbstkontrolle größte Schwierigkeiten. Ihm können wir – das unterscheidet ihn von Angela Merkel – bei der Überforderung regelrecht zuschauen.

Das Zeitalter der Überforderung erkennen wir schon daran, dass die nähere Zukunft sich jeder Vorhersehbarkeit entzieht. Wer das bestreitet ist entweder Narr oder Hochstapler. Wir wissen nicht, ob die Höchststände an den Weltbörsen die Anleger reich machen oder die Vorboten einer neuen Finanzkrise und damit ihrer Verarmung sind. Wir wissen nicht, ob uns angesichts der vielen Brandherde weltweit ein neuer Krieg ins Haus steht.

Schwer zu ermessen, ob die Welle des Populismus ihren Höhepunkt erreicht hat, oder ob wir uns das nur wünschen. Welche Auswirkungen die sich selbst beschleunigende Digitalisierung auf unser Leben als Gesellschaft hat, wissen nicht mal die Akteure im Silicon Valley, weshalb sie beschlossen haben, darüber gar nicht erst nachzudenken. Fest steht derzeit nur, was Thomas Friedman in seinem neuen Buch „Thank you for being late“ schreibt: Die Innovationsgeschwindigkeit übertrifft unsere menschliche Adaptionsgeschwindigkeit.

Ein neuer Machbarkeitswahn hat sich als Geschäftsmodell durchgesetzt. Kann sein, dass das alles zu einem bequemeren und längeren Leben führt; was wir hoffen. Aber es kann genauso sein, dass alles wie ein Fluch über uns kommt und die neue Titanic aussieht wie ein iPhone. Vielleicht stellen wir eines Tages entsetzt fest: Hurra wir saufen ab – in einem Meer aus Daten, verkaufter Privatheit und flüchtiger Kommunikation in der alle senden und keiner mehr zuhört. Jeder ist sein eigener Programmdirektor, sagen die Propheten der neuen Zeit. Aber vielleicht ist jeder auch nur sein eigener Depp.

Diese Fragen aufzuwerfen heißt noch nicht sie zu beantworten. Es geht heute Morgen nicht darum, der Idiotie derer, die immer genau wissen was kommt und wo es langgeht, eine eigene Idiotie der Verzagtheit entgegenzusetzen. Zukunft ist – und nur darum geht es an dieser Stelle – kein Wort mehr, das von alleine Besserung verspricht. Wir werden etwas dafür tun müssen, dass das wieder so wird.

Das Verlässliche unserer Zeit besteht derzeit darin, dass es keine Verlässlichkeit mehr gibt. In immer kürzerer Abfolge werden wir Zeuge dessen, was die Amerikaner „Freak Event“ nennen; das Verrückte wird normal und die Normalität spielt verrückt. Glück ist, wenn man zur richtigen Zeit auf dem falschen Weihnachtsmarkt ist.

Die Freak Events – von Lehman-Pleite über Brexit bis hin zur Bombe am Ende eines Popkonzerts – haben etwas Systemisches an sich. Das lässt sich schwer leugnen. Der Terrorismus ist kein Zufall, sondern ein gezielter Angriff auf unsere Vorstellung von Liberalität und Freiheit. Das Finanzsystem dient keineswegs automatisch der Realwirtschaft, sondern bedroht sie oft. Politik ist – im Weißen Haus erleben wir das derzeit täglich – nicht mehr automatisch das Kümmern um die Angelegenheiten der Res publica, sondern zuweilen eben nur die Verfolgung des Eigeninteresses mit den Mitteln des Staates.

Auf unsere altwürdigen politischen Parteien ist in dieser Lage kein Verlass. Politik beklagt die Klimaerwärmung und heizt sie weiter an. Man schwört überall im Westen auf die Prinzipien von Sparsamkeit und seriöser Finanzplanung und feiert eine Orgie des Kredits. Seit dem Zusammenbruch des Bankhauses Lehman Brothers hat sich die Verschuldung der westlichen Welt um mehr als 50 Prozent gesteigert.

Unsere Spitzenpolitiker, auch das ist eine Beobachtung, die kein Vertrauen einflößt, haben vielfach das Zuhören verlernt, eine professionelle Deformation ist zu besichtigen; drei Münder, kein Ohr. Wenn die Kanzlerin oder ihr Gegenkandidat mich fragen würden, was ich Ihnen raten würde, dann vor allem dieses: Stellt nicht immer neue Sprecher ein, sondern lieber einen professionellen Zuhörer. Setzt dem Regierungssprecher einen Regierungszuhörer an die Seite. Das löst nicht alle Probleme, aber es hilft zumindest sie zu verstehen.

Wir sollten es der Gesellschaft jedenfalls nicht verübeln, dass sie merkt, dass die Welt bebt und dabei ist, aus den Fugen zu geraten. Oder um es mit Kurt Tucholsky zu sagen: „Das Volk versteht das meiste falsch, aber es fühlt das meiste richtig.“

Vielleicht ist diese Gesellschaft gar nicht verunsichert, sondern nur wachsam und sauer darüber, dass die anderen, die für ihre Wachsamkeit bezahlt werden – die Parteien, die Finanzaufsicht, die Lebensmittelkontrolleure und jene Menschen, die sich beim Bundesamt für Kraftfahrzeuge mit Dieselmotoren und ihren Schadstoffen befassen – so gar nichts merken. Die Mehrheit der Menschen sehnt sich nicht nach mehr Regulierung, aber nach einer die funktioniert. Sie wollen Fortschritt, aber Fortschritt und Wohlergehen für viele. Sie wollen Manager, die mehr im Kopf haben als die Planzahl fürs nächste Quartal und sie sehnen sich nach Politikern, die das meinen, was sie sagen und das tun, was sie versprechen. Und sie wollen Medien, die sich mit ihren Lesern gemein machen und nicht mit den Mächtigen.

Das klingt verdammt links und auch ein bisschen verrückt, wobei ich denen – die das so sehen – den Literaturnobelpreisträger George Bernard Shaw entgegenhalte: „Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute. Seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben.“

Womit ich bei der Zuversicht angelangt bin, die für mich zwingend aus dem bisher Gesagten folgt. Denn: Die angeblich so verunsicherte Gesellschaft ist im besten Sinne des Wortes eine selbstbewusste Gesellschaft. Wir haben es mit einer Gesellschaft zu tun, die sich ihrer Lage selbst bewusst ist. Und auch wenn die Lage kompliziert und zuweilen unkomfortabel ist, so ist doch das Bewusstsein genau dieser unkomfortablen Komplexität der erste Schritt zur Überwindung dieser Zustände.

Zwischenfrage an uns selbst: Warum schaffen es die deutschen Firmen eigentlich in dieser unfriedlichen, fragil gewordenen Welt im ersten Quartal schon wieder Rekordgewinne und Rekordbeschäftigung zu erzeugen?

Antwort: Weil unsere Firmen Kulturen hervorgebracht haben, die mit der Fragilität und dem Unfrieden auf der Welt gelernt haben zu leben. Wir denken, die bei Daimler produzieren Autos, die bei SAP Software und bei Bayer Aspirin. Aber in Wahrheit sind das alles Organismen, die Risiken sehen, verstehen und ausbalancieren. Läuft Russland schlecht, wird der Einsatz in China erhöht. Schwächelt Europa, steigt das Investment in den USA. Und umgekehrt. Das Sehen und Verstehen von Risiko ist die Voraussetzung zum Erkennen und Nutzen von Chancen.

Die Bevölkerung verhält sich sehr ähnlich wie die Vorstände der Dax-30-Konzerne. Sie riecht, fühlt und spürt die tektonischen Verschiebungen auf der Welt, sie braucht keinen Geheimdienst um sich ihr Urteil über Trump, Putin und Erdogan zu bilden; sie benötigt keine volkswirtschaftliche Abteilung, um die Risiken der Nullzinspolitik zu verstehen. Sie weiß wie Risikoausgleich funktioniert, ohne je ein Seminar über Risk-Management besucht zu haben.

Je hochtouriger Trump dreht, desto vorsichtiger und bedachtsamer wird gewählt. So kam es jetzt in Frankreich zum Risikoausgleich: Der Wahlsieg Macrons und die Verrücktheiten, die uns täglich aus Washington erreichen, sind die zwei Seiten der einen Medaille. Auch die europakritischen Bewegungen haben nach dem Brexit-Votum ihre Tonalität verändert. Und da wo sie das nicht taten, wurden sie vom Wähler abgestraft. Die Front National erreicht in der neuen französischen Nationalversammlung nicht einmal mehr den Fraktionsstatus.

Eine Prognose sei gewagt: Dieses Ausbalancieren der globalen Risiken durch die Bevölkerung wird auch die Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl dominieren. Bei ruhigem Seegang gelten andere Kriterien: Wieviel Vision und Erneuerungskraft besitzt ein Kanzlerkandidat, würde dann gefragt. Doch bei orkanartigen Böen und globaler Tsunami-Gefahr suchen die Wähler jemanden, der das Steuerrad fest in der Hand hält und die Strudel der internationalen Politik kennt. Ein Neuling auf der bundespolitischen Bühne, noch dazu einer ohne Regierungserfahrung, hat in dieser Situation keine Chance.

Gleichzeitig entzieht die Gesellschaft den politischen Parteien auch weiterhin politische Energie. Aber diese Energie geht nicht einfach verloren. Es kommt nicht zur Entpolitisierung. Die Bevölkerung setzt lediglich das Vertrauen, dass bei CDU/CSU und SPD verloren gegangen ist, an anderer Stelle wieder ein, zum Beispiel bei den Nichtregierungsorganisationen, auch und insbesondere bei denen, die sich heute so leidenschaftlich und so professionell mit Verbraucherschutz beschäftigen. Es gibt also keinen Rückzug aus dem politischen, nur eine Neudefinition dessen, was die Bevölkerung unter politisch versteht.

Die Menschen sind eben nicht planlos verunsichert, sondern sind aus guten Gründen besorgt und verärgert – über die Raffzahnmethoden mancher Banken, über die noch immer große Intransparenz der Lebensmittelkonzerne, über die Riesenlücke, die bei der Deutschen Bahn AG zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft, über den Schindluder, den die Internetfirmen mit ihren Daten und Algorithmen treiben und über die Unverfrorenheit mit der manche private Krankenversicherer die Beiträge erhöhen.

In diesem Sinne ist die verunsicherte Gesellschaft eine mündige Gesellschaft, die ihre Interessen versteht und wahrnimmt. Unzufriedenheit ist so gesehen kein zu beklagender Endzustand, sondern Ausgangspunkt der Erneuerung. Schauen Sie mit Selbstbewusstsein und Stolz auf diese basisdemokratische Erhebung der Verbraucher, deren Teil Sie sind. Ihre Mission ist es, aus Betroffenen Beteiligte zu machen, denjenigen Stimme und Macht zu geben, die in der Wirtschaft allzu oft keine Stimme und erst recht keine Macht besitzen.

Weiter so, möchte ich daher den deutschen Verbraucherschützern zurufen. Oder um es mit Oscar Wilde zu sagen: „Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut wird, dann war’s noch nicht das Ende.“

Außerdem:
  • “Die Welt ist aus den Fugen”: Von der Macht der Finanzwirtschaft und der Ohnmacht der Politik – Denkraum, 27.08.2011
    • In einem brillanten politischen Essay, der die hoffnungslos verfahrenen Verhältnisse unserer heutigen Welt treffend beschreibt, diagnostiziert Tissy Bruns, damalige Chefkorrespondentin des Berliner Tagesspiegel und im Februar 2013 61jährig leider viel zu früh verstorben, eine Tragödie Shakespeareschen Ausmaßes: „Die Welt ist aus den Fugen – Im Krisensommer 2011 offenbart sich der desaströse Zustand unserer Demokratien. Eine übermächtige Finanzwirtschaft führt Politik und Eliten vor.”