Offener Brief an Jens Spahn

In meiner Familie gibt es unter anderem zwei Zahnärzte. Es sind zwei von der anständigen Sorte, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Sie gehören nicht zu denen, die in den 1990er Jahren für ihre dreisten Forderungen an die Politik berüchtigt waren, und über die Seehofer, damals noch Gesundheitsminister, im Fernsehen nur sagen brauchte, „die wollen bloß Geld“, und ein ganzes Volk nickte mit dem Kopf.

Heute, drei Jahrzehnte später, ist das Pendel zur anderen Seite ausgeschlagen. In der Coronakrise sind die Zahnärzte zurecht sauer, weil sie nicht über die erforderliche Schutzausrüstung verfügen, wenn sie – hochgradig infektionsgefährdet – in intimer Distanz zum Mund des Patienten den Bohrer ansetzen. Während die ärztlichen Standesvertreter gegen den Mangel an virensicheren Schutzmasken gegenwärtig Sturm laufen, sind die obersten Vertreter der Zahnärzte in dieser Situation derart brav und harmlos, dass man den Eindruck gewinnt, sie stellen sich im Wettlauf um die wenigen verfügbaren Masken gleich klaglos hinten an.

Außerdem wurden die Zahnärzte aus dem Kreis der durch das Covid-19-Entlastungsgesetz unterstützten Ärzte und Psychotherapeuten ausgeschlossen. Daher bekam Jens Spahn gestern Post vom Denkraum.

Es geht um Recht und Gerechtigkeit. Mit dem Ausschluss der Zahnärzte aus seinem Corona-Entlastungsgesetz hat der Minister einen gravierenden Fehler gemacht und sich verfassungsrechtlich in arge Bredouille begeben. Dies wurde ihm vor Augen geführt – sachlich, aber bestimmt.

 

„Alle, die im Gesundheitswesen arbeiten, brauchen gerade jetzt unsere volle Unterstützung.“
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn

So steht es, sehr geehrter Herr Minister Spahn, groß und unübersehbar auf der Internet­seite Ihres Ministeriums, direkt neben einem Foto von Ihnen, das Sie in energischer Pose und dynamischer Aktion zeigt. Aber befolgen Sie selbst Ihre vorbildliche Maxime gegenüber allen wesentlichen Berufsgruppen im Gesundheitswesen, die täglich die medizinische Versorgung in unserem Land sicherstellen? In Ihrem soeben verabschiedeten „Covid-19 Krankenhausentlastungsgesetz“ ist jedenfalls eine große Gruppe „ausgespart“, was wohl im Wortsinne zu verstehen ist: Ärzte, nicht einmal mit einer geeigneten Schutzausrüstung ausgestattet, die täglich mit hohem eigenen gesundheitlichen Risiko ihre Patienten von Schmerzen befreien und die erforderlichen Behandlungen bei ihnen vornehmen.

Mit großer Bestürzung mussten Deutschlands Zahnärzte erkennen, dass sie – anders als Ärzte und Psychotherapeuten – in dem von Ihrem Ministerium erarbeiteten „Gesetz zum Ausgleich Covid-19 bedingter finanzieller Belastungen der Krankenhäuser und weiterer Gesundheitseinrichtungen“ nicht berücksichtigt werden. In einer Presseerklärung Ihres Hauses vom 23. März 2020 heißt es, mit diesem Gesetz sollen „die wirtschaftlichen Folgen für Krankenhäuser und Vertragsärzte aufgefangen“ und „Honorareinbußen der niedergelas­senen Ärzte abgefedert werden.“ Daher würden „niedergelassene Ärzte sowie Psycho­therapeuten (…) bei einer zu hohen Umsatzminderung aufgrund einer geringeren Inan­spruchnahme durch Patienten mit Ausgleichszahlungen sowie mit zeitnahen Anpassungen der Honorarverteilung geschützt.“

Anfänglich glaubte man auf Seiten der Zahnärzte an ein bloßes Versehen Ihres Ministe­riums, das der Eile geschuldet war, mit der das Gesetz zustande kam. Doch man musste erkennen, dass die Berufsgruppe der Zahnärzte ganz bewusst und voller Absicht von den Unterstützungsmaßnahmen ausgenommen wurde. Dies, obwohl allgemein bekannt ist, dass dieser Beruf einer der am meisten gefährdeten Gesundheitsberufe ist, wenn Zahnärzte nicht sogar dem höchsten Infektionsrisiko innerhalb der gesamten Ärzteschaft ausgesetzt sind.

Zahnärzte sind tagtäglich sogenannten Aerosolen ausgesetzt, einer Sprühnebelwolke, die bei der Behandlung mit rotierenden Instrumenten im Mund ihrer Patienten unter Zufuhr von Wasser unvermeidlich entsteht. Wir wissen zudem, dass ein Vielfaches der identifizierten Covid-19-Erkrankten unerkannt infiziert ist und sich daher in dieser Hinsicht völlig ahnungslos in zahnärztliche Behandlung begibt. Nach Untersuchungen des US-Arbeitsministeriums sind Zahnärzte daher am stärksten gefährdet, an Covid-19 zu erkranken.

Überdies müssen sie als mögliche Infektionsmultiplikatoren gelten, was der Bevölkerung nur allzu bewusst ist. Dies führt derzeit dazu, dass die Patienten einen Großteil der vereinbarten Behandlungstermine absagen, aus Sorge vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus. Die Praxisumsätze gehen daher um bis zu 80 % zurück. Da die Kosten weiterlaufen, gehen derzeit auch die niedergelassenen Zahnärzte einem finanziellen Desaster entgegen.

In dieser Situation ist der Ausschluss dieser Berufsgruppe aus den neuen gesetzlichen Regelungen nicht nur in hohem Maße ungerecht, er ist juristisch betrachtet auch absolut ungerechtfertigt. Die Nichtberücksichtigung der Zahnärzte in diesem Gesetz stellt eine gravierende, vollkommen illegitime und mit nichts zu rechtfertigende Diskriminierung dieses Berufsstandes dar.

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bindet der allgemeine Gleichheitssatz in Artikel 3 Abs. 1 unseres Grundgesetzes nicht nur die Verwaltung und Rechtsprechung, sondern auch den Gesetzgeber (Rechtssetzungsgleichheit). Auch für ihn gilt, dass wesentlich Gleiches nicht willkürlich ungleich behandelt werden darf. „Gleiche Fälle sollen gleiche Regeln treffen“, so hat es ein renommierter Rechtswissenschaftler aus­gedrückt. Dies gilt insbesondere in Fällen von Ungleichbehandlung vergleichbarer Per­sonengruppen. Unser Grundgesetz verbietet es dem Gesetzgeber, Personengruppen in mit­einander vergleichbaren Fällen nach unterschiedlichen Grundsätzen zu behandeln.

Das Bundesverfassungsgericht hat dies in einem Urteil vom 7. Februar 2012 in juristischer Sprache so formuliert:

„Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. BVerfGE 98, 365 <385>). Er gilt sowohl für ungleiche Belastungen als auch für un­gleiche Begünstigungen (vgl. BVerfGE 79, 1 <17>; 126, 400 <416> m.w.N.; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 21. Juni 2011 – 1 BvR 2035/07 -, juris Rn. 76). Dabei verwehrt Art. 3 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber nicht jede Differenzierung. Differ­enzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind (vgl. BVerfGE 124, 199 <220>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 21. Juni 2011 – 1 BvR 2035/07 -, juris Rn. 77). Der Gleichheitssatz ist dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behand­lung rechtfertigen können.“

Es ist schwer vorstellbar, dass sich mit Blick auf das Regelungsziel des neuen Gesetzes Unterschiede zwischen Vertragsärzten und Vertragszahnärzten von solcher Art und solchem Gewicht konstruieren lassen, dass sie die unterschiedliche Behandlung recht­fertigen könnten. Nicht zu reden von den im Gesetz berücksichtigten Psychotherapeuten, bei denen die Einhaltung einer gewissen körperlichen Distanz zu ihren Klienten bereits zum Berufsethos gehört, und deren Hilfeleistung auch in Corona-Zeiten weiterhin gut nach­gefragt sein dürfte.

Nach allem wird sich kein sachgerechter Differenzierungsgrund zwischen Ärzten und Psychotherapeuten einerseits und Zahnärzten andererseits finden lassen, der rechtfertigen würde, Vertragszahnärzte nicht an den Unterstützungsmaßnahmen des neuen Gesetzes teilhaben zu lassen, zumal in diesem Fall strenge Anforderungen an eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines Ausschlusses der Zahnärzte zu stellen wären.

Aber muss es in dieser Situation zu einem verfassungsrechtlichen Rechtsstreit zwischen den Zahnärzten und der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch Ihr Ministerium, wirklich kommen? Wäre es nicht möglich, sehr geehrter Herr Minister Spahn, dass Sie sich dieser Berufsgruppe ebenso ver­pflichtet fühlen würden wie den anderen Gesundheitsberufen? In diesem Sinn kann man nur an Sie appellieren, zu einer sachgerechten und gerechten Gleichbehandlung zurückzu­kehren und den Zahnärzten die Unterstützung des Covid-19-Entlastungsgesetzes nicht vor­zuenthalten.

Außerdem:

  • Zahnärzte in der Corona-Krise: „Wir fühlen uns allein gelassen“ – Meike Hickmann – ZDF, 24.03.2020
    • Zahnärzte sind einem hohen Ansteckungsrisiko mit Covid-19 ausgesetzt. Es fehlt an Schutzausrüstung. Zudem gibt es für sie bisher keinen Rettungsschirm bei immer weniger Patienten.
  • Höchste Infektionsgefahr, keine Hilfe vom StaatSabine Menkens –  Welt, 27.03.2020
    • Zahnärzte sind in der Corona-Krise besonders gefährdet sich anzustecken. Schutzausrüstung ist Mangelware, im Entlastungsgesetz von Gesundheitsminister Spahn werden sie aber nicht berücksichtigt. Die Opposition spricht von „nicht verantwortbaren“ Zuständen.
  • Eine Katastrophe für unsere 350.000 Mitarbeiter – Siegfried Marquardt – The European, 30.03.2020
    • Die deutschen Zahnarztpraxen schlagen Alarm. Sie bekommen keine Schutzausrüstungen, ihre Mitarbeiter sind aber besonders ansteckungsgefährdet. Sie erhalten keine staatlichen Hilfen und keine Unterstützung durch die Politik. Sollen alle jetzt zwangsschließen? Man bekommt dieser Tage besser keine Zahnschmerzen.
  • Keine Hilfe für Zahnärzte (Video ca. 3 Min.) – Abendschau ∙ rbb Fernsehen – 04.04.2020 
    • In vielen Zahnarztpraxen herrscht gerade gähnende Leere: Die Patienten haben Angst vor Ansteckung. Trotz eines Umsatzrückgangs von bis zu 80 Prozent sind Zahnärzte vom Rettungsschirm für niedergelassene Ärzte ausgeschlossen. Ein Beitrag von Jörn Kersten

Parallelen 1919 – 2019

Die heutzutage allmorgendlich von zahlreichen Medien via Mail versandten „Morning Briefings“ sind in aller Regel allein für den jeweiligen Tag geschrieben. Zumeist präsentieren sie aktuelle politische Ereignisse in Kurzform und weisen auf eingehendere Beiträge dazu in der jeweiligen Publikation hin. „Morning Briefings“ sollen nicht zuletzt unterhalten, daher fügen die Autoren zumeist ihre eigenen möglichst originellen Kommentare hinzu.

Als ungekrönter König dieses Genres kann gewiss der ehemalige Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart gelten, der sein tägliches Morning Briefing mit seinen scharfsinnigen, eloquent formulierten Anmerkungen zu einer Form journalistischer Kleinkunst entwickelte und damit zur Popularisierung dieses Formats wesentlich beitrug. Mit einem allzu bissigen, vielerseits als niederträchtig empfundenen Kommentar zum damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Schulz im Februar letzten Jahres vergaloppierte Steingart sich jedoch total und wurde von Handelsblatt-Verleger Holtzbrinck daraufhin unverzüglich gefeuert. Inzwischen hat Steingart seine tägliche Morgengabe noch um Podcasts erweitert und darum herum ein eigenes Medienunternehmen aufgebaut.

Eine ganz andere Variante dieses Genres konnte man am Sylvestertag im täglichen Morning Briefing des Spiegel („Zur Lage“) lesen. Der stellvertretende Chefredakteur des Blattes, Dirk Kurbjuweit, erteilte eine niveauvolle Geschichtsstunde, interessant und lehrreich über den Tag hinaus.

Zum bevorstehenden Jahreswechsel verglich er die gegenwärtige weltpolitische Lage mit dem Jahr 1919, dem ersten nach Ende des I. Weltkriegs, und einem, wie Kurbjuweit zurecht feststellt, „der großen, wichtigen Jahre der Weltgeschichte“. Der Autor erkennt verblüffende Parallelen zur heutigen weltpolitischen Situation und denkt darüber nach, welche Lehren aus den vor hundert Jahren erfolgten unheilvollen Weichenstellungen heute zu ziehen wären. Damals habe „die Welt ihre große Chance“ gehabt, sie aber nicht zu nutzen verstanden, mit weitreichenden, katastrophalen Folgen.

Ergänzt durch Verweise zu einschlägigen Hintergrundinformationen dokumentiert der „Denkraum“ wesentliche Teile der klugen, geschichtskundigen Gedanken des Spiegel-Journalisten.

„Eben wurde der Erste Weltkrieg beendet, die Weltordnung brach zusammen. Vier große Reiche gingen zugrunde, das Deutsche Kaiserreich, Österreich-Ungarn, das Zarenreich, das Osmanische Reich. Die alte Welt lag in Trümmern, und gleichzeitig keimten gewaltige Hoffnungen.

Die russischen Bolschewisten hatten ein neues Zauberwort in die Welt gerufen: Selbstbestimmungsrecht. Die Völker sollten selbst entscheiden, in was für einem Staat sie leben wollten. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson machte es sich zu eigen und wurde zum Superstar der damaligen Politik, ähnlich wie Barack Obama zu Beginn seiner Amtszeit. Neue Staaten entstanden, und viele wurden Demokratien.

Auch Emanzipation war ein großes Thema. Die Kolonien von Frankreich und Großbritannien hatten Soldaten nach Europa geschickt, hatten einen hohen Blutzoll gezahlt, nun wollten sie mit Freiheiten belohnt werden. Schwarze in den USA drängten auf Gleichberechtigung. Weil die Männer im Krieg waren, mussten die Frauen daheim andere Rollen übernehmen. Auch die feministischen Anführerinnen drängten mit neuem Selbstbewusstsein auf gleiche Rechte.

All diese Hoffnungen richteten sich auf Paris. Dort begann am 18. Januar 1919 die große Friedenskonferenz. Als Wilson anreiste, strömten die Massen auf die Straßen und jubelten. Wilson wollte einen Völkerbund etablieren, einen neuen Mechanismus für einen ewigen Frieden. Die Freiheits- und Emanzipationsbewegungen schickten Delegationen. Die Welt hatte Anfang 1919 ihre ganz große Chance.

In einem Buch des schwedischen Schriftstellers Per Olov Enquist las ich vor vielen Jahren einen Satz, den ich nicht vergessen habe, an den ich manchmal denken muss, bei privaten, aber auch bei politischen Ereignissen. Er lautet: „Wenn alles so gut angefangen hatte, wie konnte es so schlimm enden.“ Das ist auch ein Satz für das Jahr 1919 und die Zeit danach.

Das erste wichtige Ergebnis der Pariser Konferenz war der Versailler Vertrag, der am 28. Juni 1919 zähneknirschend von der deutschen Delegation unterzeichnet wurde. Es waren Bedingungen, die der blutjungen deutschen Demokratie das Leben schwer machten, wirtschaftlich, aber vor allem psychologisch – viele Deutsche fühlten sich gegängelt und gedemütigt. Auch von Versailles führte ein Weg zu Hitler, aber natürlich nicht der einzige.

Der amerikanische Kongress ratifizierte den Vertrag nicht, die USA traten dem Völkerbund nicht bei. Es folgte keine Phase der Isolation, aber doch der Zurückhaltung. Europa blieb weitgehend sich selbst überlassen. Bis Ende der Dreißigerjahre hatten sich viele Demokratien in autoritäre Staaten verwandelt. Auch von der Emanzipation blieb nicht viel übrig, nicht für die Kolonien, nicht für die schwarzen Amerikaner.

Die Hoffnungen der Araber auf einen großen eigenen Staat wurden ebenfalls enttäuscht. Briten und Franzosen teilten den Nahen Osten in Einflusszonen auf, mit Folgen bis heute. (…)

Das alles wussten die Menschen zu Silvester 1918/19 nicht. Sie betrauerten ihre Toten, litten Hunger, kämpften gegen die Spanische Grippe, dachten vielleicht, dass es nur besser werden kann. Die Deutschen hofften auf einen „Wilson-Frieden“, wie sie damals sagten, einen gnädigen Frieden, aber wie fast alle Heilsbringer in der Politik war Wilson eine Enttäuschung (Obama in anderen Verhältnissen ebenfalls).

Kurbjuweit ist überzeugt, dass wir „hundert Jahre später noch immer in einer Welt (leben)“, die von den damals erfolgten weltpolitischen Weichenstellungen, „von Paris und den anderen Konferenzen nach dem Ersten Weltkrieg“, stark geprägt ist. Es gehe uns zwar heute weit besser als den Menschen damals, aber vielleicht hätten wir gerade deshalb heute weniger Hoffnung, dass es besser wird, sondern eher Angst, es werde schlechter kommen.

Aus den Auswirkungen des Jahres 1919 und der Zeit danach leitet der Spiegel-Journalist auch seine „politischen Wünsche für das neue Jahr (…) her“ – Empfehlungen, in denen Kurbjuweit aus der Geschichte Lehren für die heutige Weltpolitik abzuleiten versucht. Die darin zum Ausdruck kommenden politischen Denkmuster sind zum Teil gewiss diskussionsbedürftig, aber immerhin diskussionswürdig (s. Kommentare).

„Erstens: Junge Demokratien brauchen Hilfe, brauchen Anleitung, man kann sie nicht sich selbst überlassen. In Europa ist das nicht mehr Sache der US-Amerikaner, sondern der Europäischen Union. Sie nimmt diese Aufgabe gegenüber Polen oder Ungarn an, aber nicht entschlossen genug, zum Teil aus parteipolitischen Interessen. Das muss sich ändern.

Zweitens: Der Flirt mit autoritären Gedanken ist gefährlich. Man sollte immer bedenken: Ein autoritäres System hat nach den Erfahrungen der Geschichte eine weit höhere Affinität zum Krieg, gerade zum großen Krieg, als eine liberale Demokratie.

Drittens: Amerika wird gebraucht. Es gab vielleicht schon 1919 die Chance, einen großen Westen zu etablieren, mit Deutschland, mit den anderen jungen Demokratien, unter amerikanischer Führung. Die Geschichte wäre anders verlaufen. In unseren Zeiten ist der Westen stark von autoritären Regimen herausgefordert, von China, von Russland. Der Westen braucht Geschlossenheit und ein starkes, an Europa interessiertes Amerika, um bestehen zu können.

„Wenn diese Wünsche erfüllt würden“, so schließt Kurbjuweit, anknüpfend an dem zitierten Gedanken des Schriftstellers Per Olov Enquist, seine Überlegungen, dann „müsste das, was gut angefangen hat, nicht schlimm enden“.

„Geheimakte Finanzkrise“ – Augenöffner im ZDF

Gestern am späten Abend sendete das ZDF eine exzellente Dokumentation über die Finanzkrise 2008, über deren Ursachen, Mechanismen und Abläufe, vor allem auch über die bislang nur Insidern bekannte desaströse Rolle der Deutschen Bank in dieser Krise, die das Weltfinanzsystem damals beinahe zum Einsturz gebracht hätte:

Geheimakte Finanzkrise – Droht der nächste Jahrhundert-Crash? – Ein Film von Dirk Laabs   (Video verfügbar bis zum 10. Oktober 2019)

Der „Denkraum“ kommentierte die nunmehr 10 Jahre zurückliegende Finanzkrise seinerzeit ausführlich. Unter anderem wurde im Beitrag „Finanzsystemkrise“ die für Nicht-Investmentbanker schwer durchschaubare Funktionsweise der hoch riskanten Bankgeschäfte erläutert, die letztlich zum Zusammenbruch der amerikanischen Großbank Lehman Brothers führten. Dieser Beitrag ist bis heute der meistgelesene des Blogs.

Aus der Ankündigung des ZDF zur Doku „Geheimakte Finanzkrise“:

Die Insolvenz der Lehman-Bank am 15. September 2008 führte die Welt an den Abgrund. Doch wie kam es zu der Krise? Und welche Rolle spielte die Deutsche Bank?

Die „ZDFzoom“-Doku zeigt erstmals, dass Deutschlands größte Bank nicht nur die Krise wesentlich mit ausgelöst hat, sondern selbst auch um ihr Überleben kämpfte – während sie sich öffentlich rühmte, als einziges europäisches Finanzinstitut stabil dazustehen.

Es stellen sich zehn Jahre nach der Krise gleich mehrere Fragen: Ist die Deutsche Bank heute so schwach, weil sie schon in der Krise das Ausmaß ihrer Probleme vertuscht hatte? Und welche Folgen hat die Rettungspolitik der Länder? Um Banken wie das Institut aus Deutschland und die Weltwirtschaft vor dem Absturz zu retten, mussten sich die Staaten weltweit verschulden. Die öffentliche Verschuldung ist auch deshalb seit 2008 rasant gestiegen (…).

Die Null-Zins-Politik der EZB erlaubte es zudem nationalen Banken und bankrotten Unternehmen, sich über Wasser zu halten. Darum gibt es in Europa mittlerweile Hunderte von untoten Firmen, sogenannte „Zombie“-Unternehmen, die gerade in Italien eine wirkliche Abkehr von zu viel Schulden unmöglich zu machen scheinen.

Die beängstigende Prognose: Den wahren Preis für die Finanzkrise hat Europa noch immer nicht gezahlt.

Autor Dirk Laabs, der für das ZDF bereits mehrere preisgekrönte Dokumentationen über die Deutsche Bank gedreht hat, spricht auch mit den ehemaligen Finanzministern Hans Eichel und Wolfgang Schäuble. Sie warnen, „die nächste Krise kommt bestimmt“. Nach Auffassung von Jürgen Stark, ehemals Mitglied des EZB-Präsidiums, könnte sie schlimmer werden als die letzte.

Wolfgang Schäuble ist überzeugt: „Das Niveau an Verschuldung weltweit (…) ist höher als am Ende des zweiten Weltkriegs. Und es legt natürlich die Gefahr und die Vermutung nahe, dass wir bei in der nächsten Krise weniger Spielraum haben, um zu reagieren.“

Über den einstigen Branchenprimus meint Schäuble: „Wenn Sie sich die aktuelle Situation der Deutschen Bank anschauen, ganz übern Berg, um es höflich zu sagen, sind sie immer noch nicht. Deswegen hätten sie früher mit ein bisschen mehr Demut vielleicht ein bisschen von den großen Schäden, die eingetreten sind, vermeiden können.“

Was war im Hintergrund passiert? Die Deutsche Bank hat Kreditbündel in aller Welt geschnürt – auch in Deutschland – obwohl man wusste, dass viele faule Hypotheken darunter waren. Bis in den Juli 2007 verkaufte man die Papiere auch an die deutsche IKB – bis die insolvent wurde. Als die IKB in jenem Sommer finanzielle Hilfe brauchte, strich die Deutsche Bank die Kreditlinie.

Welche Rolle spielte Josef Ackermann? Ingrid Matthäus-Maier, damals die Chefin der Staatsbank KfW – Anteilseignern der IKB – spricht im Interview mit dem ZDF erstmals offen über diese Zeit und Deutsche Bank Chef Josef Ackermann:

„Er hat diese Krise erst selber ausgelöst, um dann die anderen Beteiligten zu treiben, dass sie die Krise lösen, und zwar ohne dass die Privaten bluten. Wir fühlten uns erpresst als KfW-Vorstand insbesondere von Ackermann. Er war mit Sicherheit der Brandstifter, der war weder integer noch war er anständig. Er war skrupellos und hat sich das Problem vom Hals gehalten.“

Auch aus der Deutschen Bank kommt scharfe Kritik. Erstmals gibt der aktuelle Chefökonom David Folkerts-Landau ein ausführliches Fernsehinterview. Die Strategie Ackermanns, um jeden Preis den Umsatz zu steigern, eine Eigenkapitalrendite von 25 Prozent zu fordern, sei „töricht“ gewesen: „Die Expansion der Deutschen Bank ab 2003, insbesondere in den Handelsbereichen, konnte die Bank mit ihrer Infrastruktur nicht bewältigen. So voraus zu stürmen, war also ein großes Risiko“.

Geheime Unterlagen der Bank belegen, wieviel Risiko die Bank auf sich geladen hatte und wie schlecht es ihr schon im Oktober 2008 ging. Doch Vorstandschef Josef Ackermann sagte damals: „Es wäre eine Schande, wenn wir einräumen müssten, dass wir Geld vom Steuerzahler brauchen.“ (…) Folkerts-Landau dazu:

„Ich war bei dieser Telefonkonferenz dabei, als Joe [Ackermann] diesen Satz sagte. Es war eine der egozentrischsten politischen Entscheidungen, die ich je von einem leitenden Banker gesehen habe. Wenn wir das Geld genommen hätten, wäre Joe [Ackermann] seinen Job wohl losgeworden. Aber das hatte er offenbar so nicht vorgesehen.“

So sei verhindert worden, dass die Bank rechtzeitig aufgeräumt wurde, ist Folkerts-Landau sicher:

„Das war so ein schwerer politischer Fehler. Es ist einfach völlig unverständlich, wie ein hochrangiges Mitglied der Finanzindustrie diese Entscheidung treffen konnte.“

Der Wettbewerbsvorteil der Bank (…) sei hauptsächlich gewesen, dass der Markt wusste: Am Ende stehe der Staat für die Deutsche Bank ein. 

Die damals führenden Manager der Deutschen Bank erfreuen sich heute allesamt wieder gut dotierter Positionen. Chefökonom Folkerts-Landau:

„Wenn jemand vom Mars hier her käme, wäre er erstaunt: Es gibt also Banker, nicht nur die von der Deutschen Bank, die gewaltige Verluste gemacht haben, die dabei offensichtlich Entscheidungen getroffen haben, die absolut falsch waren. Doch der Markt bestraft das nicht genug. Die Banker suchen sich einfach neue Jobs, und das Leben geht weiter. Das finde ich sehr enttäuschend.“

Außerdem:
  • Markus Lanz vom 12. September 2018 – ZDF Mediathek
    • Dirk Laabs, Journalist – In der Sendung ergänzt Laabs interessante Details aus der Recherche zu seinem Film und äußert sich zum aktuellen Zustand der Finanzwelt.
  • Finanzsystemkrise – Denkraum, Oktober 2008
    • „Die gravierenden Probleme, die das globale Finanzsystem in seiner derzeitigen Struktur generiert, halte ich für den größten Krisenherd, der uns gegenwärtig bedroht. Es handelt sich um eine Systemkrise des globalen Finanzsystems in seiner heutigen, auch als Finanzkapitalismus bezeichneten Form. Sie ist nicht zuletzt deshalb so gefährlich, weil ihre Wirkmechanismen so schwer durchschaubar sind.“
  • „Wie es zur Finanzkrise kam – die ultimative Erklärung“
    • In einem fiktiven Interview eines Fernsehjournalisten mit einem Investmentbanker erklären John Bird und John Fortune, zwei englische Komiker, durchaus korrekt, wie es zur Finanzkrise kam. Satire vom Feinsten. (engl.)
  • „Es ist ein Horror“ – Saskia Sassen über die Finanzkrise – taz, 22.09.2008
    • „Mit einem Floh, der von einem Wirt zum nächsten hüpft, vergleicht Saskia Sassen die Urheber der Finanzkrise. Die Stadtsoziologin und Globalisierungstheoretikerin erklärt, wie es dazu kommen konnte.“
  • Schreiben von Bundesbank und Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) an Bundesfinanzminister Steinbrück vom 29. Sept. 2008 zu den notwendigen Rettungsmaßnahmen für die Hypo Real Estate
  • Die drohende Weltherrschaft des internationalen Finanzkomplexes – Denkraum, 15.08.2011
    • „Vor der drohenden Weltherrschaft des internationalen Finanzkomplexes warnt zurecht Michael Spreng, profilierter Journalist, Politikberater und wahrlich kein Linker, in seinem Blog Sprengsatz in einem lesenswerten Beitrag, der das bedrängende Problem prägnant darlegt. Das Primat der Politik sei Anfang des 21. Jahrhunderts verloren gegangen. Die Politik habe mit ihrer Schuldensucht an ihrer eigenen Abdankung mitgewirkt. Jetzt drohe eine „Weltkrise der Demokratien“.„Die Politik hatte ein Dinosaurierei ausgebrütet und wunderte sich dann darüber, dass die Dinosaurier die Welt beherrschen wollten. (…) Vor 2008 wussten es viele Politiker nicht besser und ließen sich vom neoliberalen Zeitgeist treiben, nach 2008 aber versagte die Politik im vollen Wissen um die Ursachen des Desasters. (…) So übergab die Politik die Macht an demokratisch nicht legitimierte, von Gier und Habgier getriebene Finanzmanager, die noch nie einen Mehrwert geschaffen haben, die kein Brot backen, kein Auto herstellen und keine Maschine bauen können. Und die nicht für Hungerlöhne Demenzkranke pflegen.
  • Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken – Denkraum, 18.10.2011
  • „Banker – damals und heute“ – Gedicht, angeregt durch Erich Kästners „Hymnus auf die Bankiers“ – Denkraum, 27.11.2012
  • Jede Familie zahlt 3000 Euro für Finanzkrise – Cerstin Gammelin – Süddeutsche Zeitung, 12.09.2018
    • „Die Finanzkrise wird die deutschen Steuerzahler wohl mehr als 68 Milliarden Euro kosten. Das zeigen Zahlen, die die Bundesregierung erstmals herausgegeben hat. Die Folgen der Krise sind demnach auch nach zehn Jahren noch nicht bewältigt. Bund, Länder und Kommunen sind weiter damit beschäftigt, heimische Banken zu stützen.“
  • Abrechnung mit Ackermann im ZDF: „Er war mit Sicherheit der Brandstifter“ der Finanzkrise – Felix Holtermann – Handelsblatt, 12.09.2018
    • „Eine ZDF-Doku rechnet mit dem ehemaligen Deutsche-Bank-Chef ab. Ackermann erscheint darin als skrupelloser „Brandstifter“ der Finanzkrise.“

US-Präsident Trump: angezählt und angeschlagen

Nahezu ein Jahr nach seinem Amtsantritt ist Donald Trump politisch angezählt. Seine Zustimmungsrate („approval rating“) in der Bevölkerung liegt derzeit unter 40 Prozent und somit niedriger als bei allen anderen Präsidenten am Ende des ersten Jahres ihrer Präsidentschaft seit Anfang der 1950er Jahre. presidential_approval_december

Zudem wird immer offenkundiger, dass die mentale Gesundheit des US-Präsidenten schwer angeschlagen ist. Während bis vor kurzem vorwiegend Fragen des Ausmaßes und der Krankheitswertigkeit einer Narzisstischen Persönlichkeitsstörung Trumps diskutiert wurden, werden in letzter Zeit zunehmend auch neurologische Beeinträchtigungen erkennbar, die auf ein frühes Stadium einer Demenz beim US-Präsidenten hindeuten.

Vor wenigen Tagen veröffentlichte das renommierte New York Magazine einen detaillierten Bericht über die gegenwärtige mentale Verfassung Donald Trumps. Höchst anschaulich wird dem Leser dessen eingeschränkte Funktionsfähigkeit in seinem Arbeitsalltag vor Augen geführt. Seine Mitarbeiter sind offenbar bemüht, den Präsidenten angesichts seiner gefürchteten Impulsivität so gut es geht zu führen und „in Schach zu halten“. Vollkommen grotesk erscheint, dass – wie der Autor schreibt – „ein pathologischer Narzisst mit Demenz im Anfangsstadium (…), der nur peripheren Kontakt mit der Realität hat“, über die alleinige Kommandogewalt über das Atomwaffenarsenal der Vereinigten Staaten verfügt. Genauer ist dies eine hochgefährliche Situation. 

Lesen Sie den Artikel „The President Is Mentally Unwell — and Everyone Around Him Knows It“ von Eric Levitz, erschienen am 4. Januar 2018 in der „Daily Intelligencer“-Rubrik des New York Magazine nachstehend in deutscher Übersetzung. (Übersetzung und Hervorhebungen von mir. MW)

Der Präsident ist psychisch krank – und jeder in seiner Umgebung weiß es

Von Eric Levitz

Bis vor kurzem konzentrierte sich die Debatte über die psychische Gesundheit unseres Präsidenten auf Fragestellungen aus dem Bereich der Psychopathologie: Summieren sich Donald Trumps auffälliger Narzissmus, seine Genusssucht und seine Selbsttäuschungen zu einer malignen Persönlichkeit oder zu einer malignen Persönlichkeitsstörung?

Eine große Zahl psychiatrischer Experten sagt das Letztere. Einige ihrer Kollegen – und eine große Anzahl von Laien – haben darauf bestanden, dass die Angelegenheit nur von einem Psychiater entschieden werden kann, der den Präsidenten persönlich untersucht und diagnostiziert hat. Dieses Argument habe ich immer als töricht empfunden.

Es gibt keinen diagnostischen Bluttest oder Gehirn-Scan für eine Narzisstische Persönlichkeitsstörung; es gibt nur eine Liste beobachtbarer Merkmale. Ein Psychiater untersucht einfach die Denkweisen und Verhaltensmuster eines Patienten und beurteilt, ob sie der Checkliste der Symptome einer Narzisstischen Persönlichkeitsstörung entsprechen. Es ist absurd zu glauben, ein Psychiater, der ein paar Stunden mit einem Patienten in einem Büro gesprochen hat, sei qualifiziert, diese Diagnose zu stellen, aber einer mit Zugang zu Hunderten von Interviewstunden und improvisierten Bemerkungen eines Patienten, zudem einer kleinen Bibliothek mit biographischen Informationen und Zeugnissen seiner engsten Vertrauten, sei es nicht. Das hieße, die psychiatrische Praxis zu mystifizieren. Es soll so getan werden, als gäbe es ein gewisses schamanistisches Wissen, auf das psychiatrische Experten nur zugreifen können, wenn man ihnen eine Extrazahlung gewährt.

Wenn wir beschließen, ein bestimmtes psychologisches Profil als „Störung“ zu bezeichnen, beinhaltet dies zudem immer ein Werturteil darüber, was es bedeutet, in unserer Gesellschaft in gesunder Weise zu funktionieren. Wenn die Unfähigkeit, sich auf Tests zu konzentrieren, jemanden für eine psychische Störung qualifiziert, so ist schwer zu verstehen, weshalb Trumps offensichtliche Unfähigkeit, seinen Hunger nach Bestätigung und Aufmerksamkeit grundlegenden sozialen Normen unterzuordnen, dies nicht tun würde. Wenn ein Junge aus der Mittelschule Donald Trumps geringes Maß an Impulskontrolle im Klassenzimmer zeigte, gäbe es wenig Zweifel, dass er als psychisch gestört gelten würde.

Ungeachtet dessen haben sich in den letzten Wochen Befürchtungen über die kognitiven Fähigkeiten des Oberbefehlshabers der mehr alltäglichen und objektiv bestimmbaren Frage eines neurologischen Verfalls zugewandt. Die undeutliche Sprache des Präsidenten, als er seine Entscheidung bekannt gab, Jerusalem als Israels Hauptstadt anzuerkennen; die außergewöhnliche Inkohärenz seines jüngsten Interviews mit der New York Times; und zunehmend erratische (und Freudsche) Tweets brachten den Frontallappen des Gehirns unseres Präsidenten in den Vordergrund der öffentlichen Diskussion.

Und dann erzählte Michael Wolff uns, was er letztes Jahr beim Herumhängen im Westflügel [des Weißen Hauses] erfahren hatte. Nachdem er das Vertrauen der Administration gewonnen hatte (…), bekam der Reporter außergewöhnlich offenen Zugang zu den engsten Beratern des Präsidenten. Im Hollywood Reporter fügte er am Donnerstag dem Porträt des Geisteszustandes unseres Präsidenten einige neue Details hinzu:

„Jeder [im Weißen Haus] war sich schmerzlich der zunehmenden Geschwindigkeit seiner Wiederholungen bewusst. Noch vor einiger Zeit wiederholte er die gleichen drei Geschichten, Wort für Wort und Ausdruck für Ausdruck, innerhalb von 30 Minuten – nun innerhalb von 10 Minuten. Viele seiner Tweets waren das Produkt seiner Wiederholungen – er konnte einfach nicht aufhören, etwas wieder und wieder zu sagen.“

„… Das Beste hoffend, hinsichtlich ihrer persönlichen Zukunft und der Zukunft des Landes von dieser Hoffnung abhängig, ist mein unauslöschlicher Eindruck aus ihrer Beobachtung während der meisten Zeit des ersten Jahres seiner Präsidentschaft und aus den Gesprächen mit ihnen, dass sie alle – 100 Prozent – zu der Überzeugung gekommen sind, dass er außerstande war, seinen Job auszuführen [„incapable of functioning in his job“].“

„In Mar-a-Lago, kurz vor Neujahr, gelang es einem stark geschminkten Trump nicht, eine Reihe alter Freunde zu erkennen.“

Die einhellige Beurteilung derjenigen, die Trump aus unmittelbarer Nähe erleben, wird von Klinikern geteilt, die ihn aus der Ferne beobachten. Als Reaktion auf Trumps Tweet über die Größe und Macht seines Buttons zur Auslösung eines Atomangriffs unterschrieben am Mittwoch 100 Gesundheitsexperten folgendes Statement mit ihrem Namen:

„Wir glauben, dass er jetzt weiter außer Kontrolle gerät, in einer Art und Weise, die zu seinen angriffslustigen nuklearen Drohungen beiträgt … Wir drängen darauf, dass die Menschen um ihn herum und allgemein unsere gewählten Vertreter dringend Maßnahmen ergreifen, um sein Verhalten in Schranken zu halten und die potenzielle nukleare Katastrophe abzuwenden, die nicht nur Korea und die Vereinigten Staaten, sondern die ganze Menschheit gefährdet. „

Am Mittwoch enthüllte Politico, dass einer der Unterzeichner der Erklärung im letzten Dezember mehr als ein Dutzend Kongressmitglieder (alle Demokraten, außer einem ungenannten republikanischen Senator) über den (düsternen) Zustand von Trumps mentaler Gesundheit informiert hatte. Ungefähr zur gleichen Zeit diagnostizierte Ford Vox, ein auf Gehirnverletzungen spezialisierter Arzt, Trumps Zustand und forderte den Präsidenten in einer Stat-Kolumne auf, sich einer neurologischen Untersuchung zu unterziehen:

„Sprache ist eng mit Kognition verbunden, und die Sprachmuster des Präsidenten sind zunehmend repetitiv, fragmentiert, ohne Inhalt und eingeschränkt im Wortschatz. Trumps übermäßige Nutzung von Superlativen wie enorm, fantastisch und unglaublich sind nicht nur Elemente seines persönlichen Stils. Diese Füllwörter spiegeln eine reduzierte Wortgewandtheit wider …

„Sie nennen Orte wie Malaysia, Indonesien und Sie sagen, wie viele Menschen haben Sie? Und es ist erstaunlich, wie viele Leute sie haben. “ Der Präsident machte diese Bemerkung als Antwort auf eine Frage über den idealen Körperschaftssteuersatz, und demonstrierte damit das Ausmaß, in dem sein Denken abdriftet …

Wenn ich auf der Grundlage dessen, was ich beobachtet habe, eine Differentialdiagnose stellen sollte, würde sie „Leichte kognitive Beeinträchtigung“ lauten, auch bekannt als „Milde neurokognitive Störung“ oder Prädemenz … Das Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen leichter kognitiver Beeinträchtigung und Demenz ist, ob der Verfall beginnt, wesentliche alltägliche Funktionen zu beeinträchtigen. Bei einem Milliardär, typischerweise von Assistenten umgeben und jetzt als Präsident von noch mehr Assistenten umgeben, kann es schwierig sein zu beurteilen, ob Trump seine notwendigen täglichen Aufgaben selbständig erfüllen kann.

Wolffs Berichterstattung weist nach, dass Trumps Verfall sein tägliches Funktionieren sehr stark beeinträchtigt – und somit, dass seine kognitive Beeinträchtigung wahrscheinlich in Richtung Demenz voranschreitet. Unterdessen ist Vox‘ Behauptung, dass der unzusammenhängende, von Superlativen durchdrungene Rhetorikstil des Präsidenten kein vorsätzliches Gehabe ist, sondern ein Produkt des kognitiven Niedergangs, für jedermann offensichtlich, der alte Interviews von Trump anschaut, in denen er Gelassenheit, Kohärenz und (relative) Redegewandheit zeigt, was seiner gegenwärtigen Person völlig fremd ist.

Während der meisten Zeit seiner Präsidentschaft war die Konversation über Trumps mentales Wohlbefinden und die daraus resultierende Fähigkeit, die Aufgaben seines Amtes zu erfüllen, von einer gewollten Naivität geprägt. Die Zeichen der Senilität des Präsidenten sind nicht subtil. Sein narzisstisches Selbstbewusstsein ist nicht leicht wahnhaft; seine Impulskontrolle ist nicht nur gering eingeschränkt. Im Oktober verglich ein republikanischer Senator das Weiße Haus mit einer Tagesklinik für Erwachsene; er sagte, er wisse „als Tatsache, dass jeder einzelne Tag im Weißen Haus erneut der Versuch ist, ihn in Schach zu halten“; und er beharrte darauf, die meisten seiner GOP-Kollegen würden diese Einschätzung insgeheim teilen. Wolffs Berichterstattung legt nahe, dass praktisch jeder in Trumps innerem Kreis Anzeichen für seinen geistigen Verfall erlebt hat und ihn für untauglich hält, sein Amt auszuüben.

In der Praxis haben die Liberalen dem 25. Verfassungszusatz übermäßige Aufmerksamkeit gewidmet, einer Bestimmung der Verfassung, die es erlaubtden Präsidenten seines Amtes zu entheben, wenn er körperlich oder geistig „die Befugnisse seines Amtes nicht erfüllen und den damit verbundenen Pflichten nicht nachkommen kann“ (im Unterschied zu einem Schuldspruch wegen Straftaten).

Obwohl oberflächlich betrachtet attraktiv, bringt uns die Lösung „25. Verfassungszusatz“ nicht wirklich über die Hürde, die eine Amtsenthebung blockiert: Die Republikaner im Kongress wollen Trump nicht aus dem Amt entfernen. Ein engagierter Kongress hätte keine Schwierigkeiten, einen glaubhaften Vorwand zu finden, diesen Präsidenten anzuklagen. Sie wollen es einfach nicht. Und der 25. Zusatzartikel würde erfordern, dass zwei Drittel des Kongresses dafür stimmen würden, Trump aus Gründen fehlender Tauglichkeit aus dem Amt zu entfernen – nachdem eine Mehrheit seiner handverlesenen Kabinettsmitglieder öffentlich ihren Wunsch geäussert hat, so zu verfahren. Angesichts des derzeitigen politischen Klimas ist es eine wahnhafte Vorstellung, dass dies ein plausibles Szenario ist.

Und doch ist die Fixierung der Progressiven auf den 25. Verfassungszusatz weit weniger verblendet als die Rationalisierungen, die die Republikaner davon abhalten, sich darauf zu berufen. Nach allem, was man hört, erkennen die meisten Republikaner im Kongress an, dass Donald Trump ein pathologischer Narzisst mit Demenz im Anfangsstadium ist, der nur peripheren Kontakt mit der Realität hat – und trotz allem haben sie sich entschieden, ihm die alleinige Kommandogewalt über das größte Atomwaffenarsenal auf der Erde zu überlassen, weil es politisch und persönlich unbequem wäre, seinen Finger von diesem Knopf zu entfernen.

Man braucht keinen Abschluss in Psychiatrie, um das verrückt zu nennen.

Außerdem:
  • Ist Trumps Narzissmus gefährlich? – Interview mit dem Psychiater Professor Claas-Hinrich Lammers – Wissenschaftsmagazin „Spektrum“, 05.01.2017
    • „Frohes neues Jahr im Weißen Haus! Erst frotzelte der US-Präsident auf Twitter, er habe einen viel größeren Atomknopf als Diktator Kim Jong Un, dann ließ er in einem offiziellen Statement verlauten, sein im Sommer entlassener Chefstratege Steve Bannon habe nicht nur den Job verloren, sondern obendrein noch den Verstand. Was besagen solche Äußerungen über die Persönlichkeit des mächtigsten Mannes der Welt – und müssen wir uns vor seiner narzisstischen, impulsiven Veranlagung fürchten?“
  • The Psychiatrist Telling Congress Trump Could Be Involuntarily Committed – Elaine Godfrey – The Atlantic, 12.01.2018
    • A Yale professor says she’s telling lawmakers that the president may actually be “dangerous.”
  • Trumps Mitarbeiter versuchen, „das Land vor ihm zu beschützen“ – Zeit Online, 10.01.2018
    • „Im Gespräch mit der ZEIT berichtet Michael Wolff von seinen Recherchen im Weißen Haus. Trumps Anwälte hatten versucht, die Publikation von „Fire and Fury“ zu verhindern.“
  • So verrückt wie eh und je –  Yascha Mounk – Zeit Online, 09.01.2018
    • „Der Plan, Trump wegen seines vermeintlichen mentalen Verfalls aus dem Amt zu jagen, wird kaum aufgehen. Er birgt mehr Risiken als Chancen für die Demokratie.“
  • Das Weiße IrrenhausJakob Augstein – Spiegel Online, 08.01.2018
    • „Das Skandalbuch „Fire and Fury“ bestärkt den Verdacht: Donald Trump ist auf dem Weg in die Demenz. Amerika muss ihn loswerden.“
  • The Increasing Unfitness of Donald TrumpDavid Remnick – The New Yorker, 06.01.2018
    • „The West Wing has come to resemble the dankest realms of Twitter, in which everyone is racked with paranoia and everyone despises everyone else.“
    • „Chaotic, corrupt, incurious, infantile, grandiose, and obsessed with gaudy real estate, Donald Trump is of a Neronic temperament. He has always craved attention. Now the whole world is his audience. In earlier times, Trump cultivated, among others, the proprietors and editors of the New York tabloids, Fox News, TMZ, and the National Enquirer. Now Twitter is his principal outlet, with no mediation necessary.“
    • „In the meantime, there is little doubt about who Donald Trump is, the harm he has done already, and the greater harm he threatens. He is unfit to hold any public office, much less the highest in the land. This is not merely an orthodoxy of the opposition; his panicked courtiers have been leaking word of it from his first weeks in office. The President of the United States has become a leading security threat to the United States.“
  • Incoherent, authoritarian, uninformed: Trump’s New York Times interview is a scary readEzra Klein – Vox, 29.12.2017
    • „The president of the United States is not well.“

König Donalds Wahnsinn

„Though this be madness, yet there is method in’t.“ („Ist es auch Wahnsinn, hat es doch Methode“), lässt Shakespeare den Oberkämmerer Polonius sagen, als dieser den Hintersinn im Verhalten des scheinbar verwirrten Hamlet erkennt. Denn Hamlets Wahnsinn ist nur vorgetäuscht, eine wohlerwogene List.

Je nach politischer Einstellung  könnte man sich nun wünschen oder aber befürchten, es gäbe bei Donald Trump ebenfalls irgendeinen wohlerwogenen Hintersinn, eine verborgene, aber immerhin rational durchdachte Strategie. Aber Fehlanzeige – da ist nichts. Der Mann ist einfach nur genau der inkompetente, dilettantische, substanz- und niveaulose Phrasendrescher, als der er den meisten Menschen erscheint.

Weitaus gefährlicher sind indes Eigenschaften Trumps aus dem Bereich der Psychopathologie: die Folgen seiner gravierenden narzisstischen und paranoiden Persönlichkeitsstörung.

Unter dem Titel „The Madness of King Donald“ veröffentlichte Elizabeth Drew, eine angesehene amerikanische Journalistin und Buchautorin, am 4. Dezember 2017 in dem führenden, in mehrere Sprachen übersetzten Meinungs- und Kommentarportal „Project Syndicate“ ein Porträt über das Verhalten Donald Trumps in den letzten Tagen und Wochen, in dem sie eine besorgniserregende Zuspitzung seiner psychischen und geistigen Defizite konstatiert, über die auch amerikanische Medien bereits berichtet hatten.

Die mitgeteilten Beobachtungen dürften nicht nur psychiatrische Experten alarmieren. Daher nachfolgend Ausschnitte daraus (Übersetzung aus dem Englischen: Eva Göllner).

In den letzten Tagen hat sich Präsident Donald Trump bizarrer verhalten als je zuvor, und die selten ausgesprochene Frage, die sich Politiker und Bürger gleichermaßen stellen, ist: Was kann man mit diesem Mann tun? Können es sich die Vereinigten Staaten wirklich leisten zu warten, bis Sonderermittler Robert Mueller seine Untersuchungen abschließt (angenommen, er beweist, dass der Präsident sich etwas hat zuschulden kommen lassen)? Das kann noch dauern.

Die Zeitfrage wird immer dringender angesichts der erhöhten Gefahr, dass die USA absichtlich oder unabsichtlich ein einen Krieg mit Nordkorea geraten. Dieses Risiko in Verbindung mit Trumps zunehmend eigenartigem Verhalten macht Washington nervöser, als ich es jemals zuvor gesehen habe, einschließlich der dunklen Tage von Watergate. Um es beim Namen zu nennen: es herrscht die Sorge, dass ein geistig umnachteter Präsident die USA in einen Atomkrieg führt.

Allein in der vergangenen Woche häuften sich die Beweise für Trumps Instabilität. Bei einer Zeremonie zu Ehren von Navajo-Veteranen des Zweiten Weltkriegs beleidigte er die Kriegshelden mit einem rassistischen Kommentar. Er brach einen beispiellosen und unnötigen Streit mit der Premierministerin von Großbritannien vom Zaun, eigentlich Amerikas engste Verbündete, indem er die anti-muslimischen Posts einer neofaschistischen britischen Gruppe via Twitter teilte. Mit der Absicht, die Stimme einer demokratischen Senatorin für seine bevorstehende Steuerreform zu gewinnen, ist er in ihren Bundesstaat gereist und hat Lügen über sie verbreitet (obwohl die Steuerreform das reichste eine Prozent der Amerikaner begünstigt, weshalb kein demokratischer Senator zugestimmt hat). Und er provoziert weiterhin den nordkoreanischen Machthaber Kim Jong-Un, der ähnlich labil zu sein scheint.

Gleichzeitig veröffentlichten sowohl die Washington Post als auch die New York Times Artikel mit verstörenden Berichten über das private Verhalten des Präsidenten. Trump hat angeblich ihm nahe stehenden Personen gegenüber behauptet, die berüchtigte „Access Hollywood”-Aufnahme von ihm, auf der man hört, wie er mit sexueller Belästigung prahlt, sei ein Betrug – obwohl er nach der Veröffentlichung der Aufnahmen durch die Washington Post in den letzten Wochen des Wahlkampfes deren Authentizität bereits zugegeben und sich entschuldigt hatte.

Trump hat auch seine verlogene Behauptung, Barack Obama sei nicht in den USA geboren, wiederaufgenommen, die freie Erfindung, mit der seine politische Karriere begann, und die er unter dem Druck seiner Berater kurz vor der Wahl zurücknahm. Dann schrieb er in einem Tweet, er habe einen Vorschlag des Time Magazins, ihn zur „Persönlichkeit des Jahres” zu ernennen, zurückgewiesen, weil der nicht definitiv gewesen sei. (Trump legt großen Wert darauf, auf dem Cover von Time zu erscheinen). Ein Sprecher von Time gab jedoch an, es sei nichts dergleichen vorgefallen.

Die Tatsache, dass Trump eine psychische Störung zu haben scheint, treibt Psychiater, Politiker und Journalisten gleichermaßen um. Einer Regel der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung zufolge dürfen ihre Mitglieder keine Ferndiagnosen erstellen. Aber angesichts einer Situation, die für einige Psychiater eine nationale Notsituation darstellt, haben viele diese Regel gebrochen und öffentlich über ihre professionelle Bewertung seines geistigen Zustands gesprochen oder geschrieben.

Weitgehend akzeptiert ist, dass er an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung leidet, die viel ernster ist als einfach ein Narzisst zu sein. Laut der Mayo Clinic handelt es sich bei Störungen dieser Art um „einen mentalen Zustand, bei welchem die Betroffenen eine übertriebene Meinung von ihrer eigenen Bedeutung, ein tiefes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Bewunderung, ein gestörtes Verhältnis zu anderen und fehlende Empathie haben.” Zudem „liegt hinter dieser Maske extremen Selbstvertrauens ein schwaches Selbstbewusstsein, das durch Kritik leicht verwundbar ist.” Diese Definition stimmt nur allzu genau mit Eigenschaften überein, die Trump regelmäßig zeigt.

Eine andere Ansicht, die verschiedene Ärzte teilen, und die auf dem Vergleich von Interviews beruht, die Trump in den späten 1980ern und heute gegeben hat, ist, dass der Präsident, der heute mit einem viel beschränkterem Vokabular und viel weniger flüssig spricht, an den Anfängen einer Demenz leidet. Nach der hoch respektierten medizinischen Referenz UpToDate, einem Abonnementservice für Ärzte, gehören zu den Symptomen einer Demenz Unruhe, Aggressivität, Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Apathie und Enthemmung.

Zahlreiche republikanische Kongressmitglieder sind zutiefst besorgt über Trumps Unfähigkeit, mit der Präsidentschaft umzugehen – einem enorm anspruchsvollen Job. Man erzählt sich, Außenminister Rex Tillerson, der bald abgesetzt werden soll, habe Trump einen Idioten („moron“) genannt.

Trumps verstärktes fehlerhaftes Verhalten in den letzten Tagen wurde seiner wachsenden Sorge über die Ermittlungen von Mueller zugeschrieben, der eine mögliche Absprache von Trump und seiner Kampagne mit Russland untersucht. (…) Dies zunehmend bizarre Verhalten begann indes noch vor der Nachricht am 1. Dezember, dass Trumps erster nationaler Sicherheitsberater und vertrauter Wahlkampfberater, der ehemalige General Michael Flynn, mit dem FBI kooperieren will.

Außerdem:
  • Trump’s Way – Inside Trump’s Hour-By-Hour Battle For Self-PreservationMaggie Haberman, Glenn Thrush and Peter Baker – New York Times, 09.12.2017
    • „With Twitter as his Excalibur, the president takes on his doubters, powered by long spells of cable news and a dozen Diet Cokes. But if Mr. Trump has yet to bend the presidency to his will, he is at least wrestling it to a draw.“
  • Deutsche Psychiater rechtfertigen Ferndiagnose: „Ich halte Trump für gefährlich“ – Focus, 01.11.2017
    • „Sabine Herpertz, Direktorin der Psychiatrie am Universitätsklinikum Heidelberg sagt gegenüber der „Zeit“, dass sie sich normalerweise nicht zu öffentlichen Personen äußere: „Aber in dem Fall habe ich eine Verantwortung, auch als Wissenschaftlerin.“ Die Psychiatrieprofessorin sagt weiter wörtlich: Ich halte Trump für gefährlich. Deswegen kann ich mich meinen amerikanischen Kollegen nur anschließen.“ Zur Frage, ob die psychiatrische Ferndiagnose „krankhafter Narzissmus“ legitim sei, sagt Herpertz: „Trump ist ja ein sehr exponierter Mensch, der viel von sich zeigt. Das macht eine Ferndiagnose leichter, zumal das Bild, das er von sich entwirft, sehr einheitlich ist.““
    • „Claas-Hinrich Lammers, Chefpsychiater an der Hamburger Asklepios Klinik Nord-Ochsenzoll, meint dazu: „Die Kriterien sind extra so definiert, dass die Diagnose aus ganz klar beobachtbaren Phänomenen gestellt werden kann. Deswegen ist es auch gut möglich, die narzisstische Persönlichkeitsstörung aus der Distanz zu diagnostizieren.“ Trump erfülle alle Kriterien „in einer solchen Prägnanz und Deutlichkeit, dass es schon faszinierend ist“.“
  • „Ist Trump böse, verrückt oder beides?“ – Rolf Maag – 20minuten (Schweiz), 16.12.2017
    • „27 Psychiater und Psychologen finden, US-Präsident Donald Trump müsse seines Amtes enthoben werden.“

Global Wealth Report 2017: 1 % besitzen 50,1 % des weltweiten Privatvermögens

Weltweite VermögensverteilungNach Berechnungen des am 14.11.2017 veröffentlichten diesjährigen Global Wealth Report der Schweizer Großbank Credit Suisse verfügt das oberste Prozent der weltweiten Vermögensbesitzer inzwischen über 50,1 Prozent des gesamten Privatvermögens. Anfang des neuen Jahrtausends lag diese Zahl noch bei 45,5 Prozent.

Die obersten 5 % der Reichen besitzen gegenwärtig 76 % des weltweiten Vermögens, die obersten 10 % kontrollieren 88 %. Dagegen verfügt die ärmere Hälfte der erwachsenen Weltbevölkerung gerade mal über 1 Prozent des gesamten Vermögens, und 76 % besitzen ein Vermögen von unter 10.000,- US-Dollar.Neue Millionäre seit 2007

Die Studie führt die weiter gestiegene Ungleichheit der Vermögensverhältnisse vorwiegend auf den Wertzuwachs der seit 2007 erheblich gestiegenen Aktienmärkte zurück.

Außerdem:
  • Der Wohlstandsreport – Empfehlenswerter Film von Ulrike Bremer in der Sendereihe „Die Story im Ersten“ – ARD, 20.11.2017 – Video in der Mediathek (44 Min.) bis zum 20.11.2018
    • „Für den „Wohlstandsreport“ fragt die Autorin Ulrike Bremer genau nach: Wie steht es wirklich um den alten und neuen Slogan der Politik: „Wohlstand für alle!“? Gibt es in einem der reichsten Länder der Welt wirklich Armut? Und was bedeutet „Armut“ heutzutage in Deutschland? (…) „Der Wohlstandsreport“ schaut auf die Ursachen, vergleicht Statistiken und zeigt, wo die Segregation der Klassen in Deutschland voranschreitet.“ (Was ist eigentlich Segregation? – Deutsches Institut für Urbanistik)
    • „Beispiel Finanzplatz Frankfurt am Main: Die Stadt schafft für die stetig zuziehenden wohlhabenden Bürger adäquaten Wohnraum: urban, zentrumsnah und teuer. Den Wohnungsbau für Geringverdiener hat sie aber über Jahrzehnte vernachlässigt. Es entstehen klar abgegrenzte Stadtteile, deren Bewohner keinen Kontakt miteinander haben.“
    • „Und die Mittelschicht? Auch sie muss kämpfen, um in der Stadt gut leben zu können. Auch sie gibt fast die Hälfte des Nettoeinkommens für Miete aus, es bleibt wenig zum Sparen und Vorsorgen.
    • „Der „Wohlstandsreport“ fragt: Ist die Politik ungerecht? Ja, meint Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin): Die Ungleichheit verfestige sich durch proportional höhere Steuerbelastungen der unteren 40 Prozent.“
  • Die reichsten 1 Prozent besitzen mehr als 50 Prozent des globalen Vermögens – Florian Rötzer – Telepolis, 15.11.2017
    • „Besonders nach der Finanzkrise 2007 haben es die Reichen und Superreichen geschafft, ihr Vermögen kräftig zu vergrößern. Es ist eintönig, weil sich am Trend nichts ändert. Die Reichen, vor allem die Superreichen, werden immer reicher und lassen den Rest der Weltbevölkerung immer weiter hinter sich.“

KT ante portas: Alles wieder gutt?

Karl Theodor zu Guttenberg macht wieder Wahlkampf in Bayern und ist von Horst Seehofer, wie man lesen kann, bereits als CSU-Minister in Berlin vorgesehen. Nachdem der fränkische Freiherr sich vor ca. 6 Jahren für ein derartiges Amt gründlich disqualifiziert hatte, drängt sich die Frage auf, warum er denn heute dafür geeignet sein sollte. Erleben wir einen grundlegend geläuterten KT, oder droht ein zweites Mal die Verwechslung von Inhalt und Verpackung? – Reminiszenzen an einen gescheiterten Politiker und Impressionen vom heutigen Wahlkämpfer (mit einem Seitenblick auf Max Frischs Roman „Stiller“).

Karl-Theodor zu Guttenberg

Karl Theodor zu Guttenberg steht möglicherweise vor seinem Comeback in die Bundespolitik. Sein früherer Ziehvater Seehofer lobt ihn im „Spiegel“ über den grünen Klee und will „den hervorragenden Politiker“ wieder als Minister in Berlin sehen („der spielt in einer ganz eigenen Liga“). CSU-Wähler in seiner fränkischen Heimat stürmen die Bierzelte, wenn KT, wie sie ihn nennen, Wahlkampfauftritte für seine Partei zelebriert. Sie bejubeln ihn wie damals, als der Freiherr zwei Jahre lang der Shooting Star der deutschen Politik war, mit Popularitätswerten, die jene der Bundeskanzlerin weit übertrafen.

Vor sechseinhalb Jahren dann der tiefe Fall: Man wies dem Überflieger nach, dass seine gesamte Doktorarbeit im Wesentlichen eine Collage aus Texten anderer Wissenschaftler war, die Guttenberg z.T. seitenweise wörtlich übernommen hatte. „Ein deprimierend eindeutiger Fall eines Plagiats“ (Norbert Lammert). Der Freiherr versuchte sich damit herauszureden, er habe infolge Arbeitsüberlastung den Überblick über seine Textdateien verloren und fremde Texte nicht mehr von seinen eigenen unterscheiden können. Während seine Fangemeinde weiterhin fest zu ihm hielt (ein Phänomen, das man auch von Donald Trump kennt), regte sich vor allem in akademischen Kreisen rasch erheblicher Unmut über den eloquenten, charismatischen Politstar, der es bis zum Verteidigungsminister gebracht hatte.

Die Anschuldigungen waren gravierend. Der Nachfolger von Guttenbergs Doktorvater an der Universität Bayreuth, Prof. Oliver Lepsius, empörte sich öffentlich, man sei „einem Betrüger aufgesessen“, der mit einer „Dreistigkeit ohnegleichen (…) honorige Personen der Universität hintergangen“ habe. Es sei absurd, dass Guttenberg nicht wahrhaben wolle, vorsätzlich getäuscht zu haben: „Der Minister leidet unter Realitätsverlust. Er kompiliert planmäßig und systematisch Plagiate, und behauptet, nicht zu wissen, was er tut.“ Hier liege „die politische Dimension des Skandals„: die unverantwortliche vorgeschobene Ahnungslosigkeit, das mangelnde Unrechtsbewusstsein des Freiherrn sowie dessen Realitätsverlust ließen sich mit einem Ministeramt nicht vereinbaren. Die Plagiatsfrage werde zur Charakterfrage.

Guttenbergs Rücktritt war schließlich unumgänglich, lediglich den Marsch, der ihm beim Großen Zapfenstreich geblasen wurde, durfte er sich noch aussuchen. Der Doktortitel wurde ihm von der Universität Bayreuth aberkannt.

„Hang, die Wahrheit zu biegen“

Der Frage nach dem Charakter, nach der Persönlichkeit, nach dem wahren KT gingen investigative Journalisten indes weiter nach. Es gab nämlich ein Dissonanzerlebnis: Da war einerseits das öffentliche Bild des smarten, intelligenten und in der Bevölkerung überaus beliebten Politikers, der schon als möglicher Nachfolger Angela Merkels gehandelt wurde. Andererseits verdichteten sich die Hinweise, dass in dem Freiherrn in Wahrheit ein chronischer Blender mit einer gehörigen Neigung zum Hochstapler steckte. Nachdem man beispielsweise seinen offiziellen, auf seiner Internetseite veröffentlichten Lebenslauf einem Faktencheck unterzogen hatte, konstatierte die „Zeit“ unter der Überschrift „Der Lügenbaron“ bei Guttenberg einen „Hang, die Wahrheit zu biegen“:

„Bereits zum Beginn seiner Amtszeit als Wirtschaftsminister strapazierte er die Wahrheit: „Ein teilwirtschaftliches Fundament durfte ich mir in der Zeit vor der Politik bereits aneignen durch die Verantwortung, die ich im Familienunternehmen getragen habe“, sagte er damals. Das klingt erfahren und seriös. Guttenberg führte tatsächlich die Guttenberg GmbH, ein Unternehmen mit drei Mitarbeitern, das 2000 einen Jahresumsatz von gerade einmal 25.000 Euro erwirtschaftet haben soll. Der CSU-Politiker berichtete zudem, er habe von 1996 bis 2002 dem Aufsichtsrat der Rhön-Klinikum AG angehört. Aktiv oder engagiert soll er in dem Gremium jedoch nie gewesen sein, berichteten andere Mitglieder. Die Familie Guttenberg hielt 26,5 Prozent der Stammaktien und war deswegen im Kontrollgremium vertreten. Eine eigene Leistung des Freiherrn war mit der Berufung nicht verbunden.

Das Magazin Panorama des NDR-Fernsehens spießte darüber hinaus 2009 auf, wie Guttenberg seine Berufserfahrung in der freien Wirtschaft darstellte. „Ich durfte im Zuge dessen mit teilnehmen an einem Gang, den die Familie mit begleitet hat – und zwar federführend mit begleitet hat – eines großen Konzerns, der an die Börse geführt wurde, und der ein M-Dax Unternehmen wurde. Ihnen werden die Rhön-Kliniken etwas sagen“, verkündete der Minister Anfang 2009 verschwurbelt. Die Rhön-Kliniken gingen allerdings bereits 1989 an die Börse. Das war wenige Tage vor Guttenbergs 18. Geburtstag. „Andere lernen in diesem Alter gerade Autofahren“, stellte die Panorama -Redaktion süffisant fest. In seinem Lebenslauf finden sich weitere Belege dafür, wie Guttenberg mit der Wahrheit umgeht: „Freier Journalist bei der Tageszeitung Die Welt „, steht dort. Doch beim Axel-Springer-Konzern, dem Verlag der Welt, heißt es, Guttenberg sei Praktikant in der Redaktion gewesen. Mehr könne nicht bestätigt werden. Auch weitere Stationen scheint der Politiker aufgehübscht zu haben: So berichtet die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, dass aus Praktika als Student in der Vita „berufliche Stationen in Frankfurt und New York“ wurden.“

Als schließlich noch weitere Plagiate Guttenbergs ausfindig gemacht wurden, war dessen tiefgehende Neigung, im Interesse seiner Selbstinszenierung die Wahrheit zu biegen, schön zu färben und hoch zu stapeln, unübersehbar geworden.

Auch die politischen Leistungen des zurückgetretenen Ministers wurden nun genauer unter die Lupe genommen. Es stellte sich heraus, dass es vorwiegend er selbst war, der sein Wirken als Verteidigungsminister als außergewöhnlich erfolgreich dargestellt hatte – vor allem die in seine Amtszeit fallende Abschaffung der Wehrpflicht und die von ihm eingeleitete Bundeswehrreform. Während sich erstere ohnehin schon länger abgezeichnet hatte, erwies sich Guttenbergs Planung der Bundeswehrreform als nicht machbar – ein Schuss in den Ofen, wie unter seinem Nachfolger Thomas de Maiziere bald offenkundig wurde. Sigmar Gabriel ließ es sich nicht nehmen, kürzlich zu resümieren, Guttenberg sei als Verteidigungsminister „ungefähr so sorgsam mit der Bundeswehr umgegangen wie mit seiner Doktorarbeit“.

Gleichwohl holte Horst Seehofer seinen politischen Ziehsohn aus der amerikanischen Versenkung in den Bundestagswahlkampf. Er ahnte, dass der charismatische Populist in fränkischen Bierzelten immer noch gut ankommen würde. Überdies suchte er eine weitere, ihm treu ergebene Figur für die ebenso dünne wie spannungsreiche Führungsriege der CSU.

Ministrabel durch Zeitablauf?

Dem kritischen Beobachter drängt sich eine besorgte Frage auf: Ist der Plagiator, Wissenschaftsbetrüger und gescheiterte Verteidigungsminister plötzlich wieder ministrabel, allein aufgrund des Zeitablaufs? Kann man dem smarten, eloquenten Selbstinszenierer, in dem zahlreiche CSU-Wähler immer noch ein politisches Idol sehen, wieder ein hohes Staatsamt anvertrauen? Ist er inzwischen tatsächlich der anständige Kerl geworden, als der er sich fortwährend dargestellt hat? Oder steckt in ihm immer noch der substanzlose Blender, Schwindler und Schaumschläger von damals?

Für einen Horst Seehofer sind derlei Fragen irrelevant. Wie bei Franz Josef Strauß hat Politik für ihn mit moralischen Kategorien wenig zu tun. Der bezweckte Erfolg heiligt die Mittel. Die politische Kultur bleibt auf der Strecke.

Es war übrigens Guttenberg selbst, der sich gleich in seiner ersten Rede im heimischen Kulmbach die Absolution erteilte:

„Danke, danke für diesen Empfang, den ich nie erwarten durfte und konnte. Es ist schön dahoim“, ruft Guttenberg, und der Saal tobt. Und dann, nach kaum fünf Minuten, sagt er schon jene Sätze, die an diesem Abend wohl seine wichtigste Botschaft sind und auf die auch im Publikum viele gewartet haben: „Ich habe alle Konsequenzen gezogen und ertragen. Aber ich darf auch nach so langer Zeit für mich sagen, jetzt ist auch mal irgendwann gut.“ Der Jubel der CSU-Anhänger im Saal könnte größer nicht sein: Ihr Held ist wieder da. Katharsis abgeschlossen.“ (FAZ, 31.08.2017)

Dass der frühere Spitzenpolitiker nach seinem unrühmlichen Abgang im Frühjahr 2011 Konsequenzen ziehen und ertragen musste, liegt in der Natur der Sache. Beschämt über seinen tiefen Fall tauchte er jahrelang in die USA ab. Wenn er nun suggerieren möchte, er habe für sein Fehlverhalten somit eine Strafe verbüßt und müsse jetzt als resozialisiert gelten, so ist dies ausgemachter Humbug. Und wenn er „nach langer Zeit für (sich) selbst“ meint sagen zu können, „irgendwann ist auch mal wieder gut“, dann hat er das Wesentliche nicht verstanden. Entscheidend ist seine charakterliche Eignung für ein politisches Amt. Die war damals nicht gegeben, und die erwirbt man nicht, indem man einige Jahre von der Bildfläche verschwindet. Oder hat der Freiherr die Zeit genutzt und durch einen Prozess grundlegender Läuterung und Persönlichkeitsreifung seine damalige Tricksterpersönlichkeit überwunden?

Mund abgewischt und aufgestanden

Verfolgt man die Berichterstattung über die Wahlkampfauftritte Guttenbergs, kann man daran nur zweifeln. Einige Pressezitate aus den letzten Tagen:

„KT trägt ein dunkelblaues Jackett, hat den obersten Hemdknopf offen gelassen und spricht frei, ohne Notizen: „Ich turne hier herum und nicht am Rednerpult, weil ich sonst Gefahr liefe, eine abgeschriebene Rede vorzulesen.“ Guttenberg, Entertainer und Selbstdarsteller, hat in Amerika nichts verlernt. „ (Zeit Online, 31.08.2017)

„Aber war da nicht mal was? Die abgeschriebene Doktorarbeit, der einstweilige Abschied von politischen Ämtern, die Übersiedlung in die USA? Guttenberg wandelt das heikle Thema in einen Lacher. Er begrüßt einen der anwesenden CSU-Honoratioren ausdrücklich mit dessen Doktortitel. „Da muss ich besonderen Wert darauf legen“, sagt Guttenberg. Im Zelt finden sie das witzig.“ – Ansonsten gibt sich der ehemalige Bundesminister reumütig: Er habe „dunkle Stunden“ durchlebt, die seien „selbstverschuldet“ gewesen. Nach dem Hinfallen habe er sich aber den Mund abgewischt und sei aufgestanden. Auch in diesem Motiv ist Guttenberg sehr amerikanisch: Der Mann, der nach dem Fehler eine zweite Chance verdient hat.“ (Spiegel Online, 04.09.2017)

„Zu hören ist auch, dass sich viele KT-Jubler wohl vom „von und zu“ blenden ließen. Sie gingen allzu bereitwillig darüber hinweg, wie locker und scheinbar ohne echte Reue Guttenberg heute mit seiner abgeschriebenen Doktorarbeit kokettiere.“ (Neue Presse, 08.09.2017)

„Die Neigung, Politik mit einem Touch von Theater zu verbinden – in diesem Fall Kabarett – hat der Baron konserviert. Zum Beispiel wenn er erzählt, wie US-Präsident Trump eine Glühbirne eindrehe: „Er steigt auf einen Stuhl und wartet, dass sich die Welt um ihn dreht.“ (…) Guttenberg zieht über Politiker her, Kim Jon Il nennt er einen „Dickmops mit lustigem Haarschnitt“. Sigmar Gabriel mache gerade eine „Verschlankung“ durch, er hoffe, der Außenminister fange nicht auch noch an mit Marathonläufen und ende wie Joschka Fischer als „Dörrzwetschge“. Zwischen seinen Kalauern nimmt Guttenberg sein Publikum mit auf eine Reise durch die Welt: „Wir hatten den Brexit, eine interessante Wahl in den USA, eine besorgniserregende Krise mit und um Nordkorea, der Nahe Osten steht noch immer in Flammen, Venezuela droht zu zerbröseln.“ (Zeit Online, 31.08.2017)

„Richtig laut wird es in der Halle aber besonders dann, wenn er sich als Meister der Verkürzung zeigt. Gegenüber der Türkei müsse man Härte zeigen: „Die Verhandlungen zur Zollunion mit der Türkei auf Eis legen und zwar komplett!“ Nach den G20-Krawallen gelte in Hamburg offensichtlich, Täterschutz gehe vor Opferschutz. Und klar sei für ihn: „Ein Christkindlmarkt ist kein Winterfest, ein Sankt-Martins-Umzug ist kein Lichterfest.“ Burka und Niqab hätten in Deutschland nichts verloren. (…) Dass solche mitteltiefen Weltanalysen in einer durchschnittlichen Wahlkampfrede an der CSU-Basis so bejubelt werden, zeigt auch, wie sehr die letzten Jahre an die Substanz der Partei gegangen sind.“ (Zeit Online, 31.08.2017)

Guttenberg habe einen „unglaublich großen Wortschatz, aber wenig Substanz“, lautet ein weiteres Urteil. Er sei einer für den Stimmenfang, aber keiner, dem man Partei oder Land anvertrauen sollte. Die aktuelle Heimholung und die damit verbundenen Spekulationen seien ein „typischer Seehofer“. (Neue Presse, 08.09.2017)

„Da tritt einer wegen einer gefälschten Doktorarbeit zurück, klinkt sich jahrelang aus dem politischen Betrieb aus, fliegt zu neun Wahlkampfauftritten nach Bayern ein und zieht die Massen sofort wieder in seinen Bann. Allerdings, auch das gehört zu diesem Phänomen: Je mehr der Beifall an der Basis anschwillt, desto lauter wird das Grummeln in den höheren Partei-Etagen. „Die CSU-Offiziere sehen Guttenberg deutlich kritischer als die kleinen Leute“, sagt ein Abgeordneter. Sie bezweifeln, dass Guttenbergs politische Substanz mit seiner rhetorischen Kraft mitzuhalten vermag. Auch der Missmut über Horst Seehofer wächst. (Süddeutsche Zeitung, 05.09.2017)

Denn natürlich passt eine mögliche Rückkehr nicht jedem. Die Stimmen, die Guttenberg für einen eitlen Geck ohne Format halten, gibt es auch in der CSU. (Zeit Online, 31.08.2017)

Wiederkehr des Gleichen

Max Frischs 1954 erschienener erster Roman „Stiller“ behandelt ein Thema, das den Autor zeitlebens beschäftigt hat – die Auseinandersetzung mit dem Spannungsverhältnis zwischen der objektiven Identität und den subjektiven Vorstellungen eines Menschen von sich selbst: Einerseits ist da die reale Person, deren Lebensverlauf und soziale Identität von ihren eigenen Grenzen, aber auch von dem Bild, das Andere von ihr haben, beeinflusst wird, und andererseits gibt es den Wunsch, eben nicht auf eine bestimmte Identität und Lebensgeschichte festgelegt zu sein, sondern sich jederzeit neu wählen, neu definieren zu können. Der Protagonist des Romans, Stiller, hatte sich in der Schweiz in Probleme verstrickt und war daraufhin in die USA verschwunden. Als er nach sieben Jahren zurückkehrte, behauptete er, verwechselt zu werden. Er sei nicht der gesuchte Stiller, sondern ein Mann namens White. „Ich bin nicht Stiller“, lautet der erste Satz des Romans. Er will nicht der sein, der er ist, sein früheres Leben ist ihm verhasst, er möchte noch einmal neu beginnen, als unbeschriebenes Blatt („White“), nicht festgelegt durch seine Vergangenheit. Dies erweist sich als unmöglich, denn die Gesellschaft entlässt ihn nicht aus seiner objektiven Identität als Person mit einer faktischen Lebensgeschichte. Sie schafft eine erdrückende Beweislage, der er sich schließlich beugt und sein Leben auf der Grundlage seiner realen, mit seinem ursprünglichen Namen verbundenen Identität fortsetzt.

Der Protagonist dieser Überlegungen versucht eine andere Lösung. Er war nicht vor sich selbst geflohen, wie Stiller, sondern vor uns, seinem Publikum, vor dem er sich ziemlich unmöglich gemacht und das sich „not amused“ gezeigt hatte. Zwischen ihm und uns, den Zeugen seines Scheiterns, musste erst einmal große räumliche Distanz gebracht werden. Nun, nach fast sieben Jahren, kommt er zurück auf die Bühne, probeweise. Aber er kann nur den gleichen KT geben wie damals – einen anderen, neuen, authentischen und geläuterten gibt es nicht. Also setzt er da wieder an, wo er aufgehört hat. Die gleiche Rhetorik, die gleiche Art der Selbstdarstellung: viel politischer Populismus, kaum tiefer gehende Analyse, mit jugendlich sympathischer Frische vorgetragen. Zudem werden wohlerzogener Anstand und Demut dargeboten. So wünscht sich der CSU-Wähler seinen Schwiegersohn, und so war er schließlich schon einmal erfolgreich. Dann gab’s da diesen Ausrutscher – ach, lange her. Ein bisschen Selbstironie, und schon hat er die Lacher wieder auf seiner Seite. Das ist die Lösung des Blenders, des Tricksters, des Selbstinszenierers. Zumindest im Bierzelt scheint sie zu verfangen.

Man darf gespannt sein, ob sie nur dort funktioniert, oder ob der Plan seines Steigbügelhalters Seehofer am Ende aufgeht und wir KT bald wieder in höheren Ämtern sehen. Vorerst will er jedenfalls in die USA zurückkehren.

Hier zwei Empfehlungen für seine Reiselektüre: „Inszenierung als Beruf – Der Fall Guttenberg“, herausgegeben von Oliver Lepsius und Reinhart Meyer-Kalkus, edition suhrkamp, 2011. Und den „Stiller“ von Max Frisch.

Nachtrag am 06.10.2017:

Weiter unten (s. „Außerdem“) finden Sie Hinweise auf die aktuelle Berichterstattung, die dubiose Firma Guttenbergs – Spitzberg Partners – betreffend.

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Gabor Steingart: „Die überforderte Gesellschaft“

Ein „Impulsreferat“ zum Thema „Die verunsicherte Gesellschaft“ hielt Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart beim Deutschen Verbrauchertag am 19. Juni 2017 in Berlin  – nach der Rede der Bundeskanzlerin und vor der Rede von Martin Schulz.

Dieser inhaltlich höchst bemerkenswerte und rhetorisch brillante Vortrag wird hier nicht nur verlinkt, sondern in weiten Teilen wiedergegeben, denn Denkraum-Leser sind erfahrungsgemäß eher geneigt, einen Blogbeitrag zu lesen als einen Link anzuklicken.  – Hervorhebungen von mir.

(…) Die verunsicherte Gesellschaft“, lautet mein Thema und ich werde damit beginnen, dass ich die Gesellschaft vor diesem – von mir selbst gewählten – Titel in Schutz nehme. Die Bevölkerung ist nicht verunsichert. Sie ist lediglich realistisch. Die Menschen schätzen die Lage richtig ein, indem sie feststellen: Wir alle sind überfordert. Wir als Individuum, aber auch der Staat, die Wirtschaft und die Parteien leiden an Überforderungssymptomen, selbst wenn die Kanzlerin das erst in ihren Memoiren zugeben kann.

Wir leben im Zeitalter von Hyperkomplexität, Hochgeschwindigkeit, ökonomischer Besinnungslosigkeit und erleben eine schier endlos scheinende Folge von Kontrollverlusten. Erst verloren die Banken die Kontrolle über ihre Bilanzen, dann die Politiker die Kontrolle über unsere Außengrenzen. Der US-Präsident hat schon mit der Selbstkontrolle größte Schwierigkeiten. Ihm können wir – das unterscheidet ihn von Angela Merkel – bei der Überforderung regelrecht zuschauen.

Das Zeitalter der Überforderung erkennen wir schon daran, dass die nähere Zukunft sich jeder Vorhersehbarkeit entzieht. Wer das bestreitet ist entweder Narr oder Hochstapler. Wir wissen nicht, ob die Höchststände an den Weltbörsen die Anleger reich machen oder die Vorboten einer neuen Finanzkrise und damit ihrer Verarmung sind. Wir wissen nicht, ob uns angesichts der vielen Brandherde weltweit ein neuer Krieg ins Haus steht.

Schwer zu ermessen, ob die Welle des Populismus ihren Höhepunkt erreicht hat, oder ob wir uns das nur wünschen. Welche Auswirkungen die sich selbst beschleunigende Digitalisierung auf unser Leben als Gesellschaft hat, wissen nicht mal die Akteure im Silicon Valley, weshalb sie beschlossen haben, darüber gar nicht erst nachzudenken. Fest steht derzeit nur, was Thomas Friedman in seinem neuen Buch „Thank you for being late“ schreibt: Die Innovationsgeschwindigkeit übertrifft unsere menschliche Adaptionsgeschwindigkeit.

Ein neuer Machbarkeitswahn hat sich als Geschäftsmodell durchgesetzt. Kann sein, dass das alles zu einem bequemeren und längeren Leben führt; was wir hoffen. Aber es kann genauso sein, dass alles wie ein Fluch über uns kommt und die neue Titanic aussieht wie ein iPhone. Vielleicht stellen wir eines Tages entsetzt fest: Hurra wir saufen ab – in einem Meer aus Daten, verkaufter Privatheit und flüchtiger Kommunikation in der alle senden und keiner mehr zuhört. Jeder ist sein eigener Programmdirektor, sagen die Propheten der neuen Zeit. Aber vielleicht ist jeder auch nur sein eigener Depp.

Diese Fragen aufzuwerfen heißt noch nicht sie zu beantworten. Es geht heute Morgen nicht darum, der Idiotie derer, die immer genau wissen was kommt und wo es langgeht, eine eigene Idiotie der Verzagtheit entgegenzusetzen. Zukunft ist – und nur darum geht es an dieser Stelle – kein Wort mehr, das von alleine Besserung verspricht. Wir werden etwas dafür tun müssen, dass das wieder so wird.

Das Verlässliche unserer Zeit besteht derzeit darin, dass es keine Verlässlichkeit mehr gibt. In immer kürzerer Abfolge werden wir Zeuge dessen, was die Amerikaner „Freak Event“ nennen; das Verrückte wird normal und die Normalität spielt verrückt. Glück ist, wenn man zur richtigen Zeit auf dem falschen Weihnachtsmarkt ist.

Die Freak Events – von Lehman-Pleite über Brexit bis hin zur Bombe am Ende eines Popkonzerts – haben etwas Systemisches an sich. Das lässt sich schwer leugnen. Der Terrorismus ist kein Zufall, sondern ein gezielter Angriff auf unsere Vorstellung von Liberalität und Freiheit. Das Finanzsystem dient keineswegs automatisch der Realwirtschaft, sondern bedroht sie oft. Politik ist – im Weißen Haus erleben wir das derzeit täglich – nicht mehr automatisch das Kümmern um die Angelegenheiten der Res publica, sondern zuweilen eben nur die Verfolgung des Eigeninteresses mit den Mitteln des Staates.

Auf unsere altwürdigen politischen Parteien ist in dieser Lage kein Verlass. Politik beklagt die Klimaerwärmung und heizt sie weiter an. Man schwört überall im Westen auf die Prinzipien von Sparsamkeit und seriöser Finanzplanung und feiert eine Orgie des Kredits. Seit dem Zusammenbruch des Bankhauses Lehman Brothers hat sich die Verschuldung der westlichen Welt um mehr als 50 Prozent gesteigert.

Unsere Spitzenpolitiker, auch das ist eine Beobachtung, die kein Vertrauen einflößt, haben vielfach das Zuhören verlernt, eine professionelle Deformation ist zu besichtigen; drei Münder, kein Ohr. Wenn die Kanzlerin oder ihr Gegenkandidat mich fragen würden, was ich Ihnen raten würde, dann vor allem dieses: Stellt nicht immer neue Sprecher ein, sondern lieber einen professionellen Zuhörer. Setzt dem Regierungssprecher einen Regierungszuhörer an die Seite. Das löst nicht alle Probleme, aber es hilft zumindest sie zu verstehen.

Wir sollten es der Gesellschaft jedenfalls nicht verübeln, dass sie merkt, dass die Welt bebt und dabei ist, aus den Fugen zu geraten. Oder um es mit Kurt Tucholsky zu sagen: „Das Volk versteht das meiste falsch, aber es fühlt das meiste richtig.“

Vielleicht ist diese Gesellschaft gar nicht verunsichert, sondern nur wachsam und sauer darüber, dass die anderen, die für ihre Wachsamkeit bezahlt werden – die Parteien, die Finanzaufsicht, die Lebensmittelkontrolleure und jene Menschen, die sich beim Bundesamt für Kraftfahrzeuge mit Dieselmotoren und ihren Schadstoffen befassen – so gar nichts merken. Die Mehrheit der Menschen sehnt sich nicht nach mehr Regulierung, aber nach einer die funktioniert. Sie wollen Fortschritt, aber Fortschritt und Wohlergehen für viele. Sie wollen Manager, die mehr im Kopf haben als die Planzahl fürs nächste Quartal und sie sehnen sich nach Politikern, die das meinen, was sie sagen und das tun, was sie versprechen. Und sie wollen Medien, die sich mit ihren Lesern gemein machen und nicht mit den Mächtigen.

Das klingt verdammt links und auch ein bisschen verrückt, wobei ich denen – die das so sehen – den Literaturnobelpreisträger George Bernard Shaw entgegenhalte: „Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute. Seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben.“

Womit ich bei der Zuversicht angelangt bin, die für mich zwingend aus dem bisher Gesagten folgt. Denn: Die angeblich so verunsicherte Gesellschaft ist im besten Sinne des Wortes eine selbstbewusste Gesellschaft. Wir haben es mit einer Gesellschaft zu tun, die sich ihrer Lage selbst bewusst ist. Und auch wenn die Lage kompliziert und zuweilen unkomfortabel ist, so ist doch das Bewusstsein genau dieser unkomfortablen Komplexität der erste Schritt zur Überwindung dieser Zustände.

Zwischenfrage an uns selbst: Warum schaffen es die deutschen Firmen eigentlich in dieser unfriedlichen, fragil gewordenen Welt im ersten Quartal schon wieder Rekordgewinne und Rekordbeschäftigung zu erzeugen?

Antwort: Weil unsere Firmen Kulturen hervorgebracht haben, die mit der Fragilität und dem Unfrieden auf der Welt gelernt haben zu leben. Wir denken, die bei Daimler produzieren Autos, die bei SAP Software und bei Bayer Aspirin. Aber in Wahrheit sind das alles Organismen, die Risiken sehen, verstehen und ausbalancieren. Läuft Russland schlecht, wird der Einsatz in China erhöht. Schwächelt Europa, steigt das Investment in den USA. Und umgekehrt. Das Sehen und Verstehen von Risiko ist die Voraussetzung zum Erkennen und Nutzen von Chancen.

Die Bevölkerung verhält sich sehr ähnlich wie die Vorstände der Dax-30-Konzerne. Sie riecht, fühlt und spürt die tektonischen Verschiebungen auf der Welt, sie braucht keinen Geheimdienst um sich ihr Urteil über Trump, Putin und Erdogan zu bilden; sie benötigt keine volkswirtschaftliche Abteilung, um die Risiken der Nullzinspolitik zu verstehen. Sie weiß wie Risikoausgleich funktioniert, ohne je ein Seminar über Risk-Management besucht zu haben.

Je hochtouriger Trump dreht, desto vorsichtiger und bedachtsamer wird gewählt. So kam es jetzt in Frankreich zum Risikoausgleich: Der Wahlsieg Macrons und die Verrücktheiten, die uns täglich aus Washington erreichen, sind die zwei Seiten der einen Medaille. Auch die europakritischen Bewegungen haben nach dem Brexit-Votum ihre Tonalität verändert. Und da wo sie das nicht taten, wurden sie vom Wähler abgestraft. Die Front National erreicht in der neuen französischen Nationalversammlung nicht einmal mehr den Fraktionsstatus.

Eine Prognose sei gewagt: Dieses Ausbalancieren der globalen Risiken durch die Bevölkerung wird auch die Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl dominieren. Bei ruhigem Seegang gelten andere Kriterien: Wieviel Vision und Erneuerungskraft besitzt ein Kanzlerkandidat, würde dann gefragt. Doch bei orkanartigen Böen und globaler Tsunami-Gefahr suchen die Wähler jemanden, der das Steuerrad fest in der Hand hält und die Strudel der internationalen Politik kennt. Ein Neuling auf der bundespolitischen Bühne, noch dazu einer ohne Regierungserfahrung, hat in dieser Situation keine Chance.

Gleichzeitig entzieht die Gesellschaft den politischen Parteien auch weiterhin politische Energie. Aber diese Energie geht nicht einfach verloren. Es kommt nicht zur Entpolitisierung. Die Bevölkerung setzt lediglich das Vertrauen, dass bei CDU/CSU und SPD verloren gegangen ist, an anderer Stelle wieder ein, zum Beispiel bei den Nichtregierungsorganisationen, auch und insbesondere bei denen, die sich heute so leidenschaftlich und so professionell mit Verbraucherschutz beschäftigen. Es gibt also keinen Rückzug aus dem politischen, nur eine Neudefinition dessen, was die Bevölkerung unter politisch versteht.

Die Menschen sind eben nicht planlos verunsichert, sondern sind aus guten Gründen besorgt und verärgert – über die Raffzahnmethoden mancher Banken, über die noch immer große Intransparenz der Lebensmittelkonzerne, über die Riesenlücke, die bei der Deutschen Bahn AG zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft, über den Schindluder, den die Internetfirmen mit ihren Daten und Algorithmen treiben und über die Unverfrorenheit mit der manche private Krankenversicherer die Beiträge erhöhen.

In diesem Sinne ist die verunsicherte Gesellschaft eine mündige Gesellschaft, die ihre Interessen versteht und wahrnimmt. Unzufriedenheit ist so gesehen kein zu beklagender Endzustand, sondern Ausgangspunkt der Erneuerung. Schauen Sie mit Selbstbewusstsein und Stolz auf diese basisdemokratische Erhebung der Verbraucher, deren Teil Sie sind. Ihre Mission ist es, aus Betroffenen Beteiligte zu machen, denjenigen Stimme und Macht zu geben, die in der Wirtschaft allzu oft keine Stimme und erst recht keine Macht besitzen.

Weiter so, möchte ich daher den deutschen Verbraucherschützern zurufen. Oder um es mit Oscar Wilde zu sagen: „Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut wird, dann war’s noch nicht das Ende.“

Außerdem:
  • “Die Welt ist aus den Fugen”: Von der Macht der Finanzwirtschaft und der Ohnmacht der Politik – Denkraum, 27.08.2011
    • In einem brillanten politischen Essay, der die hoffnungslos verfahrenen Verhältnisse unserer heutigen Welt treffend beschreibt, diagnostiziert Tissy Bruns, damalige Chefkorrespondentin des Berliner Tagesspiegel und im Februar 2013 61jährig leider viel zu früh verstorben, eine Tragödie Shakespeareschen Ausmaßes: „Die Welt ist aus den Fugen – Im Krisensommer 2011 offenbart sich der desaströse Zustand unserer Demokratien. Eine übermächtige Finanzwirtschaft führt Politik und Eliten vor.”

Vertiefendes zum psychischen Gesundheitszustand Donald Trumps

In mehreren Beiträgen hat sich der „Denkraum“ mit der Frage auseinandergesetzt, ob Donald Trump trotz auffälliger, für jedermann offenkundiger „narzisstischer“ Persönlichkeitseigenschaften die Fähigkeit besitzt, das Amt des US-Präsidenten auszuüben. Nun wurde – angestoßen durch verschiedene in der New York Times veröffentlichte Leserbriefe amerikanischer Psychiater – die weitergehendere Frage, ob es sich bei diesen besorgniserregenden Eigenschaften Trumps um eine psychische Krankheit handelt, in den letzten Tagen in der Weltpresse eifrig diskutiert (z.B. hierhier und hier), und zwar kontrovers und zum wiederholten Mal. Die Süddeutsche Zeitung berichtete darüber ebenfalls und heute auch die FAZ.

Die Kontroversen psychiatrischer Experten über den psychischen Gesundheitszustand des amerikanischen Präsidenten hinterlassen die Öffentlichkeit mehr oder weniger ratlos, da sie zu keinen eindeutigen Ergebnissen führen. Warum dies so ist, warum also auch Fachleute so unterschiedlich darüber urteilen, ob es sich bei den psychischen Auffälligkeiten Trumps um krankheitswertige Störungen handelt oder nur um bizarre Persönlichkeitseigenschaften, die aber nicht das Etikett „Krankheit“ rechtfertigen, diese Problematik soll im Folgenden näher aufgeklärt werden. Der Autor dieses Blogartikels ist selbst Psychotherapeut und Psychoanalytiker, sollte zu einer solchen Klärung also beitragen können.

Gibt es eindeutige Kriterien, durch die psychische Krankheit von psychischer Gesundheit zu unterscheiden ist?

Stellen Sie sich vor, Sie sind erkältet. Sind Sie dann krank? Das hängt von dem Ausmaß ab, von dem Schweregrad der Erkältung, werden Sie sagen. Einen leichten Schnupfen wird man kaum als Krankheit bezeichnen. Liegt man aber mit starkem Husten, Fieber und Gliederschmerzen im Bett, so dürfte die Sache klar sein und eine ärztliche Krankschreibung kein Problem darstellen. Wo aber verläuft die Grenze? Gibt es eine solche Grenze überhaupt, existieren also klare, eindeutige Kriterien, anhand derer zu entscheiden ist, in welchen Fällen Ihre gesundheitliche Beeinträchtigung als Krankheit zu werten ist und in welchen nicht? Oder hängt es in einer gewissen Grauzone vielleicht vorwiegend von der Großzügigkeit und Tageslaune Ihres Arztes oder Ihrer langjährigen Beziehung zu ihm ab, ob er Sie krank schreibt oder nicht?

Aber einige Kriterien gibt es schon, werden Sie sagen, denn schließlich ist es doch ein Unterschied, ob ich nur einen Schnupfen habe oder eben auch Fieber, Gliederschmerzen und womöglich Schüttelfrost. OK, in den Extremzonen des Kontinuums, auf dem man Ihre Erkältungssymptome anordnen kann, fällt die Entscheidung nicht schwer. Aber lässt sich auch außerhalb der Extrembereiche exakt definieren, wann ein Arzt eine Erkältung von Krankheitswert diagnostizieren würde (die er dann vermutlich grippalen Infekt nennen würde)? Existieren trennscharfe Kriterien, die diese Grenze zu definieren erlauben?

Offenbar gibt es hinsichtlich der Bewertung „noch gesund“ oder „schon krank“ bei zahlreichen gesundheitlichen Problemen, die hinsichtlich ihres Schweregrads auf einem Kontinuum angesiedelt sind (natürlich nicht, wenn Sie sich Hals und Bein gebrochen haben), eine Grauzone und einen gewissen ärztlichen Ermessensspielraum. Und ich sage Ihnen schon jetzt, im Bereich psychischer Störungen ist die entsprechende Beurteilung noch schwieriger. Allerdings gilt auch dort: die Entscheidung wird umso einfacher, je stärker ausgeprägt die Symptomatik ist. Aber das haben Sie sich wahrscheinlich schon selbst gedacht.

Die Klassifikationssysteme medizinischer Diagnosen – des Rätsels Lösung?

In dem Bemühen, Krankheitsdiagnosen objektiver und einheitlicher zu gestalten, wurden Diagnoseklassifikationen bzw. -manuale entwickelt, die von Fachkommissionen immer mal wieder überarbeitet und weiterentwickelt werden. Die wichtigste, weltweit angewandte Klassifikation ist die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebene „International Statistical Classification of Diseases“ (ICD – aktuelle Ausgabe ICD-10).  Kapitel V der ICD-10 behandelt die Psychischen und Verhaltenstörungen. Während europäische Psychiater noch vorwiegend mit dieser Klassifikation arbeiten, werden psychische Störungen in den Vereinigten Staaten ausschließlich anhand des im Auftrag der American Psychiatric Association   entwickelten „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ diagnostiziert, das seit 2013 in der fünften Version vorliegt (DSM-5). Aber auch in Europa wird das DSM in den letzten Jahren zunehmend populär.

Einer der Experten, der die gegenwärtige Kontroverse mit seinem Leserbrief an die New York Times, den auch die FAZ heute abdruckte, wesentlich beeinflusst hat, ist Allen Frances, ein international bekannter Professor für Psychiatrie, der die Expertenkommission leitete, die das 1994 veröffentlichte DSM IV entwickelte. Prof. Frances war es, der Donald Trump am 13. Februar 2017 in der New York Times mit den Worten gesund schrieb: I wrote the criteria that define this disorder, and Mr. Trump doesn’t meet them.“ („Ich schrieb die Kriterien, die diese Krankheit definieren, und Mr. Trump erfüllt sie nicht.“).  Und weiter: „Er ist vielleicht ein Weltklasse-Narzisst, aber das bedeutet nicht, dass er psychisch krank („mentally ill“) ist, denn er leidet nicht unter den Belastungen und Beeinträchtigungen, was erforderlich wäre, um eine psychische Erkrankung („mental disorder“) zu diagnostizieren. Mr. Trump verursacht eher schwerwiegende Belastungen als dass er sie erlebt, und ist für seine Grandiosität, Selbstbezogenheit und das Fehlen von Empathie reich belohnt worden, nicht bestraft.“ Nach Überzeugung von Prof. Frances ist also eine notwendige Bedingung für die Diagnose einer psychischen Erkrankung, dass der Betroffene unter den Symptomen seiner Störung selbst leidet bzw. einen persönlichen Leidensdruck empfindet.

Dazu sollten Sie jedoch wissen, dass Prof. Frances seit Jahren eine ganz eigene Agenda verfolgt. Er ist nämlich der Auffassung, dass seine Kollegen, die das DSM-5 entwickelt haben, die Nachfolgeversion der von ihm verantworteten DSM IV, einen Riesenfehler begangen haben: Sie erhöhten die Zahl legitimer psychiatrischer Diagnosen drastisch. Sein dazu auch bei uns erschienenes Buch richtete sich daher schon im Untertitel „gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen“, und eine Schweizer Zeitung nannte Allen Frances einen „Kämpfer wider den Diagnosewahn“. Klar also, dass der in jedem Fall dagegen ist, Donald Trump als psychisch krank zu bezeichnen.

Um es vorwegzunehmen, ich bin ebenfalls dagegen, aber vor allem deshalb, weil ich dies im Fall des US-Präsidenten für eine unergiebige Frage halte (es sei denn, man will versuchen, ihn mit dieser Begründung abzusetzen, was man aber nicht tun wird). Die Begründung, die Prof. Frances in seinem scheinbar so einleuchtenden und weltweit rezipierten Leserbrief für seine Feststellung gegeben hat, Trump erfülle nicht die Kriterien für eine Persönlichkeitsstörung, ist jedoch falsch.

Schauen wir uns die Kriterien an, die nach dem derzeit gültigen DSM-5 erfüllt sein müssen, um eine Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren, unabhängig davon, um welche Art es sich handelt. Demnach ist eine Persönlichkeitsstörung…

…ein überdauerndes Muster von innerem  Erleben und Verhalten, das merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweicht. Dieses Muster manifestiert sich in mindestens zwei der folgenden Bereichen:

  • Kognition (d.h. die Art, sich selbst, andere Menschen und Ereignisse wahrzunehmen und zu interpretieren),

  • Affektivität (d.h. die Variationsbreite, Intensität, Labilität und Angemessenheit emotionaler Reaktionen),

  • Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen.

  • Impulskontrolle.

  • Das überdauernde Muster führt in klinisch bedeutsamer Weise zu Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

  • Das Muster ist stabil und lang andauernd, und sein Beginn ist mindestens bis in die Adoleszenz oder ins frühe Erwachsenenalter zurückzuverfolgen, es lässt sich nicht besser als Manifestation oder Folge einer anderen psychischen Störung erklären, ist nicht Folge der physiologischen Wirkung einer Substanz oder eines medizinischen Krankheitsfaktors (z. B. Hirnverletzung) und es ist unflexibel und tiefgreifend in einem weiten Bereich persönlicher und sozialer Situationen.

Das fettgedruckte Kriterium ist natürlich deshalb fettgedruckt, weil es den casus knacksus enthält: Das betreffende überdauernde Erlebens- und Verhaltensmuster, das merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweicht, muss, um gemäß DSM-5 eine Persönlichkeitsstörung darzustellen, „in klinisch bedeutsamer Weise zu Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen“ führen.

Zu Leiden oder Beeinträchtigungen, nicht zu Leiden und Beeinträchtigungen, wie Prof. Frances in seinem Leserbrief schreibt, und sich dabei ausschließlich auf subjektives Leiden bezieht. Das sei aber bei Mr. Trump nicht erkennbar, der sei doch im Gegenteil für seine narzisstischen Charakterzüge reich belohnt worden. Wie indes jedermann weiß, können Beeinträchtigungen bestimmter Persönlichkeitsfunktionen eines Menschen jedoch in den verschiedensten Lebensbereichen auftreten, ohne dass der Betroffene subjektiv darunter leidet. Gehen Sie mal in Gedanken all die Menschen durch, die Sie als schwierig empfinden, und fragen sich, welche davon unter den betreffenden „schwierigen“ Eigenschaften selbst subjektiv leiden, und in welchen Fällen es eher die Anderen sind, die leiden.

Deshalb fordert das DSM-5 als notwendige Voraussetzung für die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung – wie übrigens auch die ICD-10 – ausdrücklich nicht „subjektives Leiden“ des Betroffenen, sondern lässt auch  „Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen“ gelten, ob der Betroffene nun subjektiv darunter leidet oder nicht. 

Nach eben diesem Kriterium hat man in der Psychiatrie bzw. klinischen Psychologie lange Zeit eine sehr bedeutsame Unterscheidung getroffen, nämlich die zwischen Symptom- und Charakterneurosen. Als Symptomneurosen wurden diejenigen neurotischen Störungen bezeichnet, die von den Betroffenen als störend, fremd und nicht zu ihrer Persönlichkeit gehörend empfunden werden (ich-dyston) und die Leidensdruck mit sich brachten (Ängste, Zwangsgedanken oder -handlungen wie z.B. ein Waschzwang etc.). Charakterneurosen – heute als Persönlichkeitsstörungen bezeichnet – waren dadurch charakterisiert, dass die Betroffenen ihr von anderen Personen als störend und abweichend erlebtes Verhalten selbst als normal und zu ihrer Persönlichkeit gehörig erlebten (ich-synton). Die soziale Umgebung der Betroffenen hatte unter deren Verhalten zu leiden, sie selbst aber nicht. 

Doch schauen wir weiter, wie das DSM-5 nun den speziellen Fall einer Narzisstischen Persönlichkeitsstörung definiert. Dabei kommt es im wesentlichen auf diejenigen Persönlichkeitseigenschaften an, die in den fettgedruckten Zeilen beschrieben werden:

A. Signifikante Beeinträchtigung in der Funktionalität der Persönlichkeit, die zum Ausdruck kommt durch:

1. Beeinträchtigung der Selbstfunktionen (a oder b):
a. Identität: Exzessive Bezugnahme auf andere für die Selbst-Definition und für die Regulierung des Selbstwertgefühls; übertriebene Selbsteinschätzung, kann überhöht oder abgesenkt sein oder zwischen Extremen schwanken; emotionale Regulierung spiegelt Schwankungen im Selbstwertgefühl wider.
b. Selbstlenkung: Ziele werden abhängig von der Zustimmung anderer gesetzt; persönliche Standards sind unvernünftig hoch, damit man sich selbst als außergewöhnlich ansehen kann, oder zu niedrig, jeweils abhängig von den Ansprüchen, zu denen man sich berechtigt fühlt.
und
2. Beeinträchtigung der interpersonalen Funktionen (a oder b):
a. Empathie: Beeinträchtigte Fähigkeit, die Gefühle und Bedürfnisse anderer wahrzunehmen oder zu erkennen; übermäßig auf die Reaktionen anderer abgestimmt, jedoch nur, wenn diese Reaktionen als relevant für einen selbst wahrgenommen werden; Über- oder Unterschätzung der eigenen Wirkung auf andere.
b. Intimität: Beziehungen weitgehend oberflächlich und werden unterhalten, soweit sie der Regulation des Selbstwertgefühls dienen; beschränkte Gegenseitigkeit, weil kein echtes Interesse an den Erfahrungen anderer besteht, und Überwiegen des Bedürfnisses nach persönlichem Gewinn.

B. Pathologische Persönlichkeitszüge in den folgenden Bereichen:

1. Zwiespältigkeit, charakterisiert durch:
a. Überzogenes Selbstwertgefühl: Berechtigungsdenken, entweder offen oder verdeckt; Selbst-Zentriertheit; fest davon überzeugt, dass man selbst besser ist als andere; herablassend gegenüber anderen.
b. Aufmerksamkeit heischend: Übermäßiges Bemühen, die Aufmerksamkeit anderer zu erringen und zu erhalten; Heischen von Bewunderung.

C. Die Beeinträchtigungen der Persönlichkeitsfunktionalität und des Ausdrucks der Persönlichkeit sind über die Zeit und über unterschiedliche Situationen hinweg relativ stabil. (Die im Original noch folgenden Punkte D und E sind für unsere Betrachtung nicht relevant.)

Ich will Sie um Gottes Willen nicht verleiten, aufgrund dieser Beschreibung einschlägiger, von Experten entwickelter und weltweit verwendeter Kriterien für eine Narzisstische Persönlichkeitsstörung nun Ihrerseits – vermutlich im wesentlichen auf Basis der Fernsehnachrichten über Trump – eine Ferndiagnose zu stellen. Allemal dann nicht, wenn Sie nicht wie ich viel CNN schauen, wo man erheblich mehr Trump live erlebt als auf unseren Sendern. Aber niemand hindert Sie natürlich, mal ganz en passent ein wenig darüber nachzudenken, welche der oben aufgeführten Eigenschaften sich Ihrer Beobachtung nach bei Mr. Trump finden und welche nicht.

Und dann fragen Sie sich nicht, ob der Präsident aufgrund dieser Eigenschaften denn nun ärztlicherseits als psychisch krank zu erklären ist, sondern überlegen Sie doch besser, ob Sie ihn für fähig halten, das Präsidentenamt auszuüben. Denn das ist doch der entscheidende Punkt. Zur Frage der Abgrenzung einer krankheitswertigen von einer nicht-krankheitswertigen Persönlichkeitsstörung gibt es unter den Experten die unterschiedlichsten Ansichten, und die im Bereich der Psyche rein symptomorientiert aufgebauten Diagnosemanuale werden von vielen Fachleuten ganz grundsätzlich kritisiert.

So schrieb der ehemalige langjährige Direktor des National Institutes of Mental HealthThomas Insel, anlässlich der Einführung des DSM-5 im Jahr 2013 in seinem Blog über dieses Diagnosesystem (Hervorhebungen von mir):

„Das Ziel dieses neuen Manuals, wie auch aller vorhergehenden Versionen, ist es, eine gemeinsame Sprache zur Beschreibung der Psychopathologie zur Verfügung zu stellen. Obwohl das DSM oft als „Bibel der Psychiatrie“ bezeichnet wird, ist es bestenfalls ein Wörterbuch, das eine Gruppe von Etiketten [für psychische Störungen] kreiert und jedes Etikett definiert. Die Stärke aller Versionen des DSM liegt in ihrer Reliabilität, d. h., es wurde sichergestellt, dass die Ärzte dieselben Begriffe auf die gleiche Weise benutzen. Seine Schwäche ist jedoch der Mangel an Validität. Im Unterschied zu den Definitionen [körperlicher Erkrankungen] beruhen die DSM-Diagnosen auf einem Expertenkonsens über Bündel (cluster) klinischer Symptome, nicht auf objektiven Laborbefunden. In der restlichen Medizin wäre diese Vorgehensweise damit gleichbedeutend, diagnostische Systeme auf der Grundlage der Natur von Brustschmerzen oder der Qualität von Fieber zu entwickeln. Symptombasierte Diagnosen wurden in den letzten 50 Jahren weitgehend ersetzt (…)“ 

Mein Fazit: Anstatt sich mit dem Problem zu beschäftigen, ob man einen mit wahrlich bemerkenswert auffälligen Persönlichkeitseigenschaften ausgestatteten Menschen wie Donald Trump nun als krank bezeichnen will, sollte man sich mit der viel näherliegenden Frage befassen, ob man ihn für fähig hält, den Anforderungen, die das Amt des Präsidenten der USA an die Person stellt, die es ausübt, gerecht zu werden. Hat er die entsprechenden fachlichen und persönlichen Qualifikationen oder nicht? Ist Donald Trump in der Lage, Amerika zu regieren? Ein Urteil darüber ist das Wesentliche, und ich persönlich finde es auch nicht schwierig.

Für noch interessanter halte ich indes die Frage, wie es möglich war, dass ca. 63 Mill. wahlberechtigte Amerikaner Mr. Trump den Job offenbar zutrauten und ihn gewählt haben. Oder haben ihn möglicherweise viele gewählt, ohne auf die Frage der Qualifikation den geringsten Gedanken zu verwenden? Und wenn ja, warum ist das so?

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Ist Donald Trump psychisch krank, nur persönlichkeitsgestört oder gesund?

Nachdem die Psychiater, Psychologen und Psychoanalytiker der Vereinigten Staaten, die „Mental Health Professionals“, zur Frage der psychischen Verfassung des derzeitigen Präsidenten bisher weitestgehend geschwiegen hatten, ihrer 1973 selbstgesetzen Goldwater Rule folgend, gibt es in den letzten Tagen eine Kontroverse über den psychischen Gesundheitszustand des Präsidenten auf den Opinion Pages der New York Times.

Am 13. Februar 2017 teilten 33 Mental Health Professionals in einem Offenen Brief an die Zeitung ihre Auffassung mit, Donald Trump sei aufgrund seiner gravierenden emotionalen Instabilität außerstande, in zuverlässiger Weise als amerikanischer Präsident zu fungieren (vgl. Amerikanische Psychiater bezweifeln öffentlich Trumps Amtsfähigkeit, Denkraum-Beitrag vom 15. Februar 2017).

Einen Tag später widersprach der Vorsitzende der Expertenkommission, die das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders IV (DSM-IV) entwickelt hatte – viele Jahre lang die Bibel der amerikanischen Psychiater (seit 2013 gibt es das DSM V). Allen Frances, inzwischen emeritierter Professor für Psychiatrie am Duke University Medical College, erklärte zur üblichen Diagnose des Präsidenten – Narzisstische Persönlichkeitsstörung – klipp und klar: „I wrote the criteria that define this disorder, and Mr. Trump doesn’t meet them.“ Trump sei vielleicht ein Weltklasse-Narzisst, aber das bedeute mitnichten, dass er psychisch krank („mentally ill“) sei, denn er leide nicht an den Belastungen und Beeinträchtigungen, die erforderlich seien, um eine psychische Krankheit („mental disorder“) zu diagnostizieren.

„Mr. Trump verursacht eher schwerwiegende Belastungen als dass er sie erlebt, und er wurde für seine Grandiosität, Selbstbezogenheit und das Fehlen von Empathie reich belohnt, nicht bestraft.“ Es sei, so Prof. Frances, eine stigmatisierende Beleidigung gegenüber psychisch Kranken, die meistens wohlmeinend seien und sich gesittet benehmen würden, mit Mr. Trump in einen Topf geworfen zu werden, auf den dies nicht zutreffe.

Nach Auffassung des prominenten Nervenarztes sei „die Zuschreibung psychiatrischer Diagnosen eine unzweckmäßige Methode, Trumps Angriff auf die Demokratie entgegenzutreten.“ Er könne und solle angemessener „wegen seiner Ignoranz, Inkompetenz, Impulsivität und seinem Streben nach diktatorischer Macht angeprangert werden“.

Der Professor schließt mit dem Gedanken, die psychologischen Motive Trumps seien zu offensichtlich, als dass sie interessant wären, und sie zu analysieren werde „seine plötzliche Machtergreifung nicht beenden. Das Gegengift gegen ein dunkles, dystopisches trumpsches Zeitalter ist politisch, nicht psychologisch.“

Hintergrund der Kontroverse der Mental Health-Experten über die Frage, ob gewisse charakterliche Besonderheiten des derzeitigen US-Präsidenten lediglich extreme Ausprägungen weit verbreiteter Persönlichkeitseigenschaften sind oder aber Symptome einer krankheitswertigen psychischen Störung, ist das letztlich ungelöste Problem, wie psychische Krankheit definiert und abgegrenzt werden sollte. Über die betreffenden Kriterien sind die Fachleute, die zumeist entweder dem Lager der verhaltenstheoretisch orientierten oder aber der psychoanalytischen Schulrichtung angehören, alles andere als einig.

Allen Frances vertritt seit Jahren sehr engagiert und exponiert die Auffassung, psychischen Auffälligkeiten nur ausgesprochen restriktiv Krankheitswert zuzuerkennen und kritisiert vor allem die Ausweitung psychiatrischer Diagnosen in dem 2013 fertiggestellten DSM V im Vergleich zu dem unter seiner Leitung erarbeiteten DSM IV.

Außerdem:
  • Ein Kämpfer wider den Diagnosewahn – Felix Straumann – Der Bund, 08.12.2012
    • „Allen Frances war einst einer der einflussreichsten Psychiater der Welt. Heute kritisiert er, seine Kollegen würden immer mehr normale Verhaltensweisen zu psychischen Störungen erklären.“
  • Allen Frances: Normal – Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen – DuMont Verlag, 2013
    • „Vor einer Inflation der Diagnosen in der Psychiatrie warnt (…) der international renommierte Psychiater Allen Frances. Er zeigt auf, welche brisanten Konsequenzen die Veröffentlichung (des DSM-5) haben wird: Alltägliche und zum Leben gehörende Sorgen und Seelenzustände werden als behandlungsbedürftige, geistige Krankheiten kategorisiert. Verständlich und kenntnisreich schildert Allen Frances, was diese Änderungen bedeuten, wie es zu der überhandnehmenden Pathologisierung allgemein menschlicher Verhaltensweisen kommen konnte, welche Interessen dahinterstecken und welche Gegenmaßnahmen es gibt. Ein fundamentales Buch über Geschichte, Gegenwart und Zukunft psychiatrischer Diagnosen sowie über die Grenzen der Psychiatrie – und ein eindrückliches Plädoyer für das Recht, normal zu sein.“
    • Amazon-Seite von Allen Frances
  • Andreas Heinz: Der Begriff der psychischen Krankheit – Suhrkamp, 2014
    • „Im Rahmen der Überarbeitung zentraler Handbücher zur Diagnose und Einordnung psychischer Erkrankungen wird momentan heftig darüber gestritten, wie lange beispielsweise ein Mensch nach dem Tod eines nahen Angehörigen trauern darf, ohne als depressiv oder anderweitig psychisch krank zu gelten. In der Debatte stehen Versorgungsansprüche der Betroffenen sowie deren Ängste vor Pathologisierung und Bevormundung einer medizinischen Wissenschaft gegenüber, die festlegen muss, was als »normal« gelten darf. Der Mediziner und Philosoph Andreas Heinz plädiert angesichts der Diversität menschlicher Lebensformen für einen philosophisch informierten Krankheitsbegriff, der Krankheit als Störung wesentlicher Organfunktionen definiert, die für die betroffene Person schädlich sind oder erhebliches Leid verursachen.“
  • Ist Trumps Narzissmus gefährlich? – Interview mit dem Psychiater Professor Claas-Hinrich Lammers – Wissenschaftsmagazin „Spektrum“, 05.01.2017
    • „Frohes neues Jahr im Weißen Haus! Erst frotzelte der US-Präsident auf Twitter, er habe einen viel größeren Atomknopf als Diktator Kim Jong Un, dann ließ er in einem offiziellen Statement verlauten, sein im Sommer entlassener Chefstratege Steve Bannon habe nicht nur den Job verloren, sondern obendrein noch den Verstand. Was besagen solche Äußerungen über die Persönlichkeit des mächtigsten Mannes der Welt – und müssen wir uns vor seiner narzisstischen, impulsiven Veranlagung fürchten?“

Amerikanische Psychiater bezweifeln öffentlich Trumps Amtsfähigkeit

 

In einem Schreiben an die New York Times, das die Zeitung am 13. Februar 2017 veröffentlichte, bringen 33 US-amerikanische Psychiater und Psychoanalytiker ihre Überzeugung zum Ausdruck, Donald Trump sei infolge seiner gravierenden emotionalen Instabilität außerstande, das Präsidentenamt auszuüben.

Sie beziehen sich zunächst auf einen Meinungsbeitrag des New-York-Times-Kolumnisten Charles M. Blow vom 9. Februar 2017 (s.u.), der Trumps fortwährendes Bedürfnis beschrieben hatte, Opposition gegen ihn „am Boden zu zermahlen“ („He always wants to grind the opposition underfoot“). Diese Besorgnis würden sie als „mental health professionals“ teilen.

Das Schweigen der Mental-Health-Organisationen des Landes sei auf eine selbstauferlegte Entscheidung der American Psychiatric Association aus dem Jahre 1973 zurückzuführen, Personen des öffentlichen Lebens nicht psychiatrisch zu beurteilen – die sogenannte Goldwater Rule. Aber dieses Schweigen habe zur Folge, dass man es in dieser kritischen Zeit unterlasse, die eigene Expertise besorgten Journalisten und Kongressabgeordneten zur Verfügung zu stellen. „Wir fürchten, es steht zuviel auf dem Spiel, als dass weiteres Schweigen gerechtfertigt wäre.“

Die Psychiater fahren fort,

Mr. Trumps Reden und Handlungen zeigen die Unfähigkeit, Ansichten zu tolerieren, die von seinen eigenen abweichen, was [bei ihm stattdessen] wütende Reaktionen nach sich zieht. Seine Äußerungen und sein Verhalten legen eine tiefgreifende Unfähigkeit nahe, sich [in andere Menschen] einzufühlen. Personen mit diesen Eigenschaften verzerren die Realität, damit sie ihrem psychischen Zustand entspricht, indem sie Tatsachen nicht wahr haben wollen und diejenigen angreifen, die diese Fakten offenlegen (Journalisten, Wissenschaftler).

Bei einer mächtigen Führungspersönlichkeit nehmen diese Angriffe wahrscheinlich weiter zu, wenn sich ihr persönlicher Größenmythos zu bestätigen scheint. Wir glauben, dass die gravierende emotionale Instabilität, die sich in Mr. Trumps Redeweise und in seinen Handlungen äußert, ihn unfähig macht, zuverlässig als Präsident zu fungieren. („We believe that the grave emotional instability indicated by Mr. Trump’s speech and actions makes him incapable of serving safely as president“).

(mehr …)

Trumps „Flammenwerfer“ im Video: Senior Advisor Stephen Miller

Die FAZ nennt ihn „Trumps Flammenwerfer“, der Focus seinen „Brandbeschleuniger“. Stephen Miller gilt als der schärfste Hund unter den Chefberatern Donald Trumps im Weißen Haus. Schon im Wahlkampf sein Redenschreiber, war er, wie man inzwischen weiß, auch der wesentliche Autor von Trumps höchst umstrittener, mit alttestamentarischer Rhetorik angereicherter Rede zur Amtseinführung.

Am Wochenende gab Stephen Miller gleich mehreren US-Fernsehsendern Interviews, um die Aktionen seines Präsidenten zu verteidigen. Er tat dies mit einer Schärfe, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt und gestandenen amerikanischen TV-Moderatoren wie Joe Scarborough („Morning Joe“) im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache verschlug. Miller verteidigte Donald Trump nicht nur, er griff auch die Gerichte scharf an, die nicht befugt seien, den Einreisestop des Präsidenten zu blockieren, und verherrlichte die überwältigende militärische Macht der Vereinigten Staaten. Trump sei übrigens „einhundert Prozent korrekt“, ebenso wie sein Pressesprecher.

Die ersten Minuten des Morning-Joe-Videos vermitteln ein eindrucksvolles Bild dieses grässlichen Senior Advisors des US-Präsidenten – ein Zusammenschnitt von Interviewäußerungen Millers am Wochenende, gefolgt von der entsetzten Reaktion von Joe Scarborough und seinen Gästen in der heutigen Sendung.

Einer fand Stephen Miller allerdings richtig toll:

Congratulations Stephen Miller- on representing me this morning on the various Sunday morning shows. Great job!

— Donald J. Trump (@realDonaldTrump) February 12, 2017

Außerdem:

Präsident Donald Trump: Chronik eines vorhersehbaren Scheiterns (2)

In meinem Beitrag vom 23. Januar 2017 habe ich die Auffassung vertreten, Donald Trump werde noch vor dem Ende seiner Amtszeit als US-Präsident scheitern, weil er aufgrund seiner erheblichen Persönlichkeitsstörungen dem Präsidentenamt nicht gewachsen ist, was im Laufe der Zeit auch für eine breite Öffentlichkeit erkennbar werden wird. Inzwischen denke ich, Trump wird nicht einmal das erste Jahr im Präsidentenamt überstehen.

Ein treffendes Beispiel für gravierende persönlichkeitsbedingte Einschränkungen der rationalen, vernunftgesteuerten Handlungfähigkeit Trumps ist sein Telefongespräch mit dem australischen Premierminister Turnbull am vergangenen Samstag, über das jetzt Details bekannt werden. Australien ist bekanntlich einer der engsten Verbündeten der Vereinigten Staaten. Trump ärgerte sich über ein noch mit der Obama-Administration ausgehandeltes Abkommen zwischen beiden Ländern, in dem die USA sich verpflichtet hatte, Australien 1.250 Flüchtlinge abzunehmen. Seinen Ärger darüber ließ Trump unverblümt an Premier Turnbull aus, erklärte ihm u.a., dies sei „mit Abstand das schlimmste Telefonat“ (“this was the worst call by far”), das er heute geführt habe, nach Telefonaten u.a. mit Putin und Angela Merkel, und beendete das auf eine Stunde angesetzte Gespräch abrupt und wütend nach 25 Minuten.

Das Problem ist, dass Trump nicht in der Lage ist, in derartigen Gesprächen bzw. trump-spiegeltitelVerhandlungen von seiner Person abzusehen und sich auf die Sache zu konzentrieren, dass er viel zu emotional reagiert und seinen Ärger und seine Ungeduld nicht zu kontrollieren vermag. In seiner grenzenlosen Selbstbezogenheit verwendet er auch diese Gelegenheiten z.B. zu vollkommen deplazierten Prahlereien mit seinen Wahlerfolgen. Mitarbeiter im Weißen Haus bezeichnen sein Verhalten in derartigen Gesprächen als „naiv“ (s. Links oben).

Irgendwann werden auch Trumps Wähler merken, dass dessen großspurige Wahlversprechen weitgehend leere Versprechungen eines von Größenphantasien besessenen Psychopathen waren.

Zunehmend werden jetzt auch in den Vereinigten Staaten Stellungnahmen von Psychotherapeuten („shrinks“) und Psychiatern veröffentlicht, die bei Donald Trump eine „mental illness“ diagnostizieren und es als ihre Aufgabe ansehen, die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, welche Gefahren damit verbunden sind, wenn eine Person mit derart gravierenden psychischen Störungen das Amt des US-Präsidenten bekleidet.

  • Temperament Tantrum – Susan Milligan – US News, 27.01.2017
    • „Some say President Donald Trump’s personality isn’t just flawed, it’s dangerous.“
  • President Trump exhibits classic signs of mental illness, including ‚malignant narcissism,‘ shrinks say – Gersh Kuntzman – New York Daily News, 29.01.2017
    • „The time has come to say it: there is something psychologically wrong with the President.“
    • „(…) frightened by the President’s hubris, narcissism, defensiveness, belief in untrue things, conspiratorial reflexiveness and attacks on opponents, mental health professionals are finally speaking out. The goal is not merely to define the Madness of King Donald, but to warn the public where it will inevitably lead.“
    • A top psychotherapist affiliated with the esteemed Johns Hopkins University Medical School said Trump „is dangerously mentally ill and temperamentally incapable of being president.” The expert, John D. Gartner, went on to diagnose Trump with “malignant narcissism.”
    • In an earlier effort just after the election, thousands of shrinks joined a new group called „Citizen Therapists Against Trumpism,“ which quickly released a „Public Manifesto“ to warn America about its leader’s apparent psychosis.
    • „We cannot remain silent as we witness the rise of an American form of fascism,“ the manifesto states. The psychological warning signs? „Scapegoating …, degrading, ridiculing, and demeaning rivals and critics, fostering a cult of the Strong Man who appeals to fear and anger, promises to solve our problems if we just trust in him, reinvents history and has little concern for truth (and) sees no need for rational persuasion.“
  • ‘Crazy like a fox’: Mental health experts try to get inside Trump’s mindSharon BegleySTAT, 30.01.2017
    • „STAT interviewed 10 psychiatrists and psychologists — some supporters of Trump, some not — about the president’s behavior and what it might say about his personality and mental health. All are respected in their field and close observers of Trump. They based their views on his books, public statements, appearances, and tweets, but emphasized that they have no firsthand knowledge of Trump.“
  • Why psychiatrists are speaking out about Donald Trump’s mental health – Independent, 31.01.2017
    • „We cannot remain silent as we witness the rise of an American form of fascism“

In einem interessanten Artikel setzt sich Gersh Kuntzman (s.o.) aus einer psychologischen Perspektive eingehend mit der Frage auseinander, warum Donald Trump so viele Wähler überzeugen konnte, ihm ihre Stimme zu geben, und befragt dazu mehrere Experten.

  • Basic ‘lizard brain’ psychology can explain the rise of Donald Trump – Gersh Kuntzman – New York Daily News, 01.02.2017
    • „On Sunday, I told you what’s wrong with him. Today, we need to examine what’s wrong with us. Indeed, if almost half of America supports a President who more and more psychological experts believe has a personality disorder bordering on mental illness, there must certainly be something wrong with those supporters, too. There is: They crave a strongman above all else — even above democracy itself. Call it what you will — the „Authoritarian Dynamic,“ basic Freudianism, fear, insecurity, tribalism or even the rise of the „lizard brain“ — but Donald Trump’s rise follows a well-documented psychological path.“

Der gleichen Fragestellung ging ich in einem Beitrag aus dem Februar 2016 nach:

  • Donald Trump und der republikanische Wähler – Denkraum, 06.02.2016
    • „Der Erfolg eines Rechtspopulisten wie Donald Trump beruht letztlich auf der Mentalität seiner Anhänger. Trumps rüdes, selbstherrliches Auftreten als Ausdruck seiner narzisstischen Persönlichkeitsstruktur und die psychische Struktur seiner republikanischen Wähler passen zusammen wie ein Schlüssel zum Schloss.“

Inzwischen kommen zunehmend auch Kommentatoren in den Vereinigten Staaten zu der Überzeugung, die Präsidentschaft Donald Trumps werde ein vorzeitiges Ende nehmen.  

  • A Clarifying Moment in American History – Eliot A. Cohen – The Atlantic, 29.01.2017
    • „There should be nothing surprising about what Donald Trump has done in his first week—but he has underestimated the resilience of Americans and their institutions.“
    • „Many conservative foreign-policy and national-security experts saw the dangers last spring and summer, which is why we signed letters denouncing not Trump’s policies but his temperament; not his program but his character. We were right. (…) Precisely because the problem is one of temperament and character, it will not get better. It will get worse, as power intoxicates Trump and those around him. It will probably end in calamity—substantial domestic protest and violence, a breakdown of international economic relationships, the collapse of major alliances, or perhaps one or more new wars (even with China) on top of the ones we already have. It will not be surprising in the slightest if his term ends not in four or in eight years, but sooner, with impeachment or removal under the 25th Amendment. The sooner Americans get used to these likelihoods, the better.“
    • „In the end, however, he will fail. He will fail because however shrewd his tactics are, his strategy is terrible—The New York Times, the CIA, Mexican Americans, and all the others he has attacked are not going away. With every act he makes new enemies for himself and strengthens their commitment; he has his followers, but he gains no new friends. He will fail because he cannot corrupt the courts, and because even the most timid senator sooner or later will say “enough.” He will fail most of all because at the end of the day most Americans, including most of those who voted for him, are decent people who have no desire to live in an American version of Tayyip Erdogan’s Turkey, or Viktor Orban’s Hungary, or Vladimir Putin’s Russia. There was nothing unanticipated in this first disturbing week of the Trump administration. It will not get better. Americans should therefore steel themselves, and hold their representatives to account. Those in a position to take a stand should do so, and those who are not should lay the groundwork for a better day. There is nothing great about the America that Trump thinks he is going to make; but in the end, it is the greatness of America that will stop him.
  • The Inevitability Of Impeachment – After just one week. – Robert Kuttner – Huffington Post, 29.01.2017
    • „Trump has been trying to govern by impulse, on whim, for personal retribution, for profit, by decree ― as if he had been elected dictator. It doesn’t work, and the wheels are coming off the bus. After a week! Impeachment is gaining ground because it is the only way to get him out, and because Republicans are already deserting this president in droves, and because the man is psychiatrically incapable of checking whether something is legal before he does it. Impeachment is gaining ground because it’s so horribly clear that Trump is unfit for office. The grownups around Trump, even the most slavishly loyal ones, spend half their time trying to rein him in, but it can’t be done.“
  • Why Trump Won’t Serve His Full First Term – Fabrizio Moreira – Huffington Post, 30.01.2017
    • „We’re just one week into the administration of the 45th President of the United States and already we’ve seen signs the end might be near.“
  • Former Nixon lawyer predicts Trump presidency ‚will end in calamity‘ – Politico, 31.01.2017
    • „Noting the turbulence that characterized Trump’s first week in office, John Dean, the former White House counsel to Richard Nixon, predicted that [Trump’s] presidency will end in disaster.“
      • „Donald Trump is in the process of trashing the American presidency. He is just getting started. He thinks he is bigger than the office.“
      • „Because Trump has no empathy he doesn’t understand it in others. He’s one cold heartless dude. Ripping families apart is not mean to Trump.“

Präsident Donald Trump: Chronik eines vorhersehbaren Scheiterns

Aus psychologischer Sicht wird die Prognose begründet, Donald Trump werde noch vor Ende seiner Amtszeit scheitern, weil er aufgrund seiner gravierenden Persönlichkeitsstörungen dem Präsidentenamt nicht gewachsen sein wird, was im Laufe der Zeit auch für eine breite Öffentlichkeit zunehmend erkennbar werden wird. Die Folgen der narzisstischen und paranoiden Persönlichkeitsanteile Donald Trumps für seine Amtsführung werden beschrieben, ebenso seine erheblichen Arbeitsstörungen.

Die Erfordernisse, die das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten an den Amtsinhaber notwendigerweise stellt und die Persönlichkeit Donald Trumps sind inkompatibel. Trump wird dem Amt nicht gewachsen sein. Das Diktum „Man wächst mit seinen Aufgaben“ wird auf ihn nicht zutreffen, weil seine Erlebens- und Verhaltensschemata weitgehend durch seine gravierende narzisstische Persönlichkeitsstörung in Verbindung mit erheblichen paranoiden Tendenzen festgelegt („constrained“) sind. Er wird sich nur in höchst begrenztem Maße als lernfähig erweisen und daher auch nicht in der Lage sein, in das Präsidentenamt hineinzuwachsen.

Die Aufgabe, ein Land zu regieren und internationale Beziehungen zu gestalten, erfordert Kompetenzen, die im Regelfall bereits über die Fähigkeiten eines psychisch gesunden, erfolgreichen Immobilienunternehmers weit hinausgehen (einen Berufsstand, den man bei uns im Volksmund auch als „Baulöwen“ bezeichnet). Donald Trump verfügt über diese Kompetenzen schon deshalb nicht, weil seine Anpassungsfähigkeit an die Aufgaben, die sein Amt mit sich bringt, infolge tiefgreifender psychopathologischer Persönlichkeitskomponenten erheblich eingeschränkt ist. Insbesondere seine selbstherrliche Egozentrik und die damit verbundene Unfähigkeit, die Dinge auch aus der Perspektive der Anderen – seiner Verhandlungspartner, politischen Gegenspieler etc. – wahrnehmen zu können und die eigene Perspektive dadurch verändern zu lassen, werden einem erfolgreichen politischen Agieren im Wege stehen.

Psychologisch ausgedrückt fehlt Trump weitgehend die Fähigkeit zur kognitiven Akkomodation: „Wenn eine bestimmte Wahrnehmung nicht mehr in die bestehenden Schemata eingeordnet werden kann (Assimilation), modifiziert das Individuum bestehende Schemata oder schafft neue, passt also sein Inneres an die sich verändernde Außenwelt an.“ [Akkommodation (Lernpsychologie)]. Diese Fähigkeit zur Anpassung der eigenen Denkschemata an Wirklichkeitsaspekte, die mit den vorhandenen, gewohnten Interpretationen der Realität nicht angemessen zu verstehen und zu bewältigen sind (eine grundlegende Form, aus Erfahrungen zu lernen), steht einem Menschen, der wie Trump ganz darauf ausgerichtet ist, seiner Umwelt das eigene Denken, die eigene Sichtweise aufzuoktoyieren, nur höchst eingeschränkt zur Verfügung.


Narzisstische Persönlichkeitseigenschaften (Zusammenfassung nach Wikipedia): Menschen mit einer Narzisstischen Persönlichkeitsstörung sind durch folgende Eigenschaften in ihrer persönlichen Funktionsfähigkeit eingeschränkt:

  • Überzogenes Selbstwertgefühl: Gefühl der Großartigkeit der eigenen Person; grandioses Verständnis der eigenen Wichtigkeit; Überzeugung, „besonders“ und einzigartig zu sein; Talente und Leistungen werden übertrieben; Erwartung, auch ohne entsprechende Leistungen als überlegen anerkannt zu werden. Viele Narzissten sind jedoch, zumeist im Berufsleben, sehr erfolgreich und rechtfertigen damit ihre hohe Selbsteinschätzung.
  • Phantasien grenzenlosen Erfolgs, grenzenloser Macht und Brillanz.
  • Bedürfnis nach exzessiver Aufmerksamkeit und Bewunderung („narzisstische Zufuhr“)
  • Hohe Kränkbarkeit: Auf Kritik, Niederlagen, Zurückweisung oder Beschämung  („narzisstische Kränkungen“) reagieren Narzissten intensiver als andere Menschen. Die Reaktion auf Kritik besteht meist in einer scharfen Attacke gegen die kritisierende Person.
  • Selbstbezogenheit; Mangel an Empathie bzw. Einfühlungsvermögen; kein echtes Interesse an den Bedürfnissen und Gefühlen Anderer; die Bereitschaft fehlt, darauf Rücksicht zu nehmen bzw. einzugehen.
  • Anspruchs- und Berechtigungsdenken; Erwartung an eine bevorzugte Behandlung und das Gefühl, dazu berechtigt zu sein. Infolge ihres mangelnden Einfühlungsvermögen und ihres Berechtigungsdenken sind Narzissten für zwischenmenschliche Konflikte prädestiniert, die schnell eskalieren und in Wutanfälle münden können.
  • Ausbeuterischer Beziehungsstil; Mangel an gleichberechtigter Gegenseitigkeit; Andere dienen allein dazu, eigene Ziele zu erreichen.
  • Arrogant und hochmütig; herablassend gegenüber anderen.

Der Rest der Welt wird nicht bereit sein, sich den eigenwilligen, teilweise bizarren Spielregeln zu unterwerfen, nach denen Trump Politik zu machen gedenkt. Man wird ihn zu umgehen versuchen, ihn auflaufen lassen oder ausbremsen, aber sich nicht den Bedingungen und Implikationen einer simplifizierenden „America first“-Machtpolitik beugen. Trump wird von der Komplexität des realpolitischen Alltags weitgehend überfordert sein und diese Komplexität weder rational erfassen und analysieren können, noch ihr mit dem Methodenrepertoire, das ihm aus dem Geschäftsleben vertraut ist, gerecht werden können. Er wird versuchen, sie auf undifferenzierte, holzschnittartige Weise zu vereinfachen, die in aller Regel von seinen grundlegenden, charakterbedingten Überzeugungen eingefärbt sein wird (aktuelles Beispiel:“75 % aller gesetzlichen Auflagen und Regularien für Unternehmer können abgeschafft werden, wenn nicht mehr“).

Trumps Urteilsbildung wird nicht auf der Grundlage sorgfältiger Analysen der Konsequenzen erfolgen, die seine Entscheidungen nach sich ziehen, nicht zu reden von der Berücksichtigung möglicher Neben- und Sekundärfolgen. Das Durchspielen verschiedener Szenarien, die vorausschauende, abwägende Beschäftigung mit den Schachzügen, mit denen die anderen politischen Player auf seine Entscheidungen reagieren könnten, das nüchterne Einkalkulieren auch unerwünschter Handlungsfolgen und deren Berücksichtigung bereits im Vorfeld der eigenen Entscheidung: all das wird die Sache Trumps nicht sein, und sollte er entsprechende Briefings mit seinen Mitarbeitern überhaupt durchführen oder deren vorbereitende Papiere lesen, so wird er sich darüber hinwegsetzen und seinen eigenen Einschätzungen und Urteilen den Vorzug geben. Trumps Urteilsbildung wird weitgehend von seiner Lust an Machtausübung und der Demonstration eigener Stärke geprägt sein, und sein Handeln wird Züge von ideosynkratischer Willkür aufweisen, wie bereits in seiner ersten Arbeitswoche im Amt des Präsidenten überdeutlich wurde.

Man mag sich nicht vorstellen, wie die Kubakrise verlaufen wäre, wenn damals Trump anstatt Kennedy US-Präsident gewesen wäre.


„He could be a daring and ruthlessly aggressive decision maker who desperately desires to create the strongest, tallest, shiniest, and most awesome result—and who never thinks twice about the collateral damage he will leave behind.“ (Dan P. McAdams, The Mind of Donald Trump, The Atlantic, Juni 2016)


Im Wahlkampf hat er es immer wieder gesagt: er will, „dass Amerika wieder gewinnt“. So wie er als Unternehmer in zahllose Rechtsstreitigkeiten verstrickt war und, wie er sagte, kein „Settler“ sei, also keine Vergleiche schließen, sondern die Prozesse gewinnen wollte, so will er auch politische Konflikte aus einer Position der Stärke heraus „gewinnen“ – notfalls auch militärisch. Die politische Arena erscheint ihm als Kampfplatz, auf dem es darum geht, als Sieger vom Platz zu gehen. Nicht von ungefähr bekannte seine Frau in einem Interview freimütig, oft unter dem Eindruck zu stehen, es zuhause mit zwei 10jährigen zu tun zu haben.

Trump ist somit das absolute Gegenteil eines Friedenspolitikers wie z.B. Willy Brandt, und es würde mich keineswegs wundern, wenn er die Vereinigten Staaten wieder in einen Krieg führen würde. Folgerichtig ist eine massive militärische Aufrüstung der USA eines seiner vorrangigsten Ziele.

Eine weitere Eigenschaft des gegenwärtigen amerikanischen Präsidenten führt tief in den Bereich der Psychopathologie: Er neigt dazu, Verschwörungstheorien anzuhängen, von denen er jahrelang überzeugt sein kann und sich auch öffentlich für die betreffenden Thesen engagiert. So war er über mehrere Jahre ein prominenter Vertreter der sogenannten Birther-Bewegung in den Vereinigten Staaten, die behauptete, Barack Obama sei kein natural born citizen und daher nicht wählbar. Derzeit schlägt die Überzeugung Trumps in den USA hohe Wellen, bei der Präsidentenwahl hätten ca. 3 – 5 Millionen illegale Wählerstimmen den Ausschlag dafür gegeben, dass er nicht auch die sog. „popular vote“ gewonnen habe. Die These, es habe bei den Präsidentenwahlen Wahlbetrug in einer nennenswerten Größenordnung gegeben, wird in den USA von Fachleuten und Politikern einmütig für abwegig gehalten. Trump will nun eine offizielle Untersuchung in Auftrag geben, die seine Überzeigung bestätigen soll.

Der Begriff „Verschwörungstheorie“ ist insofern irreführend, als die betreffenden paranoiden Vorstellungen in vielen Fällen nicht um konspirative Verschwörungen im engeren Sinn kreisen, sondern in allgemeinerer Form auf der Überzeugung einer Vielfalt von verborgenen, verdeckten feindseligen Tendenzen in der Welt beruhen, die dann bestimmten Akteuren zugeschrieben werden: „the dishonest press“, „the mexicans“, „the muslims“ etc.. Ein Mensch mit einer paranoiden Mentalität geht ständig davon aus, andere wollten ihn, seinen Besitz oder sein Land bedrohen, schädigen oder betrügen. Er präsentiert dafür dann auch„Beweise“, die ihm völlig überzeugend erscheinen, auch wenn er mit Tatsachen konfrontiert wird, die seine Vorstellungen widerlegen.


 – 30.01.2017


Derartige Überzeugungen haben zumeist den Charakter überwertiger Ideen, sie erscheinen den Betroffenen als außerordentlich bedeutungsvoll und haben für ihr geistig-seelisches Leben einen hohen Stellenwert. Die Vorstellung, dass der amerikanische Präsident zu solcherart bizarren, realitätsfernen Vorstellungen neigt und seine Entscheidungen und sein Handeln davon beeinflusst werden, ja dass er davon geradezu besessen sein kann, diese Erkenntnis ist außerordentlich beunruhigend.


Einige Charakteristika paranoider Persönlichkeitseigenschaften (nach Rainer Sachse, Persönlichkeitsstörungen sowie Wikipedia):

  • Allgemeines Gefühl der Bedrohung von nicht näher spezifizierten „Mächten“; die Art der Bedrohung ist oft kaum konkretisierbar („something is going on…“)
  • Misstrauen: Argwohn gegenüber Anderen, denen feindselige und böswillige Motive unterstellt werden; dies kann sich habituell auf weite Teile der sozialen Umwelt des Betroffenen beziehen oder sich weitgehend auf bestimmte Personengruppen (Feindbilder) beschränken, wie Farbige, Muslime, Juden oder Journalisten; Neigung zur Fehlinterpretation des Verhaltens Anderer als feindselig und bedrohlich („the muslims hate us“); aufgrund dieser Missdeutungen reagiert das paranoide Individuum seinerseits feindselig, und es entstehen Teufelskreise im Sinne von sich selbst erfüllenden Prophezeihungen
  • Neigung, sich hintergangen, ausgenutzt, geschädigt oder getäuscht zu fühlen
  • häufige Beschäftigung mit unbegründeten Gedanken an Verschwörungen als Erklärungen für Ereignisse in der näheren oder weiteren Umwelt
  • überhöhtes Selbstwertgefühl und ausgeprägte Selbstbezogenheit; Erleben eigener Stärke in Verbindung mit dem Gefühl, sich nur auf sich selbst verlassen zu können; Überheblichkeit
  • starkes Bedürfnis nach Autonomie und der Definition und Verteidigung eigener Grenzen bzw. des eigenen Territoriums (Besitzes, Landes etc); das eigene Territorium muss von anderen unbedingt respektiert werden, seine Grenzen dürfen nicht unbefugt überschritten werden („we will build the wall“); in Bezug darauf permanenter Alarmzustand und ständige Kampfbereitschaft 
  • Tendenz zu übermäßiger Empfindlichkeit und Kränkbarkeit, daher häufige Konflikte mit dem sozialen Umfeld; die Betroffenen fühlen sich extrem leicht angegriffen und reagieren zornig bzw. mit Gegenangriff („Counterpuncher“)
  • Neigung zu lang andauerndem Groll; nachtragend; subjektiv erlebte Kränkungen, Beleidigungen oder Herabsetzungen werden nicht verziehen
  • Streitbarkeit; Rechthaberei bis hin zu querulatorischen Tendenzen; beharrliches, situationsunangemessenes Bestehen auf eigenen Rechten;
  • Neigung zu Schwarz – Weiß-Denken; „für mich oder gegen mich“
  • Tendenz zu hartem, kompromisslosen Vorgehen

Last not least gibt es erste Berichte über gravierende Arbeitsstörungen des Präsidenten (s.u. „Trump struggles to shake his erratic campaign habits“) wie die Tendenz, sich bei der Erörterung komplexer Themen rasch zu langweilen und viel Zeit mit exzessivem Fernsehkonsum zu verbringen. Er habe eine geringe Aufmerksamkeitsspanne und tue sich schwer, sich längere Zeit konzentriert mit einem Thema zu befassen. Wenn die Dinge nicht so laufen, wie er es sich vorstellt, werde er schnell wütend und neige dann zu impulsiven aggressiven Reaktionen. Es sei ausgeschlossen, ihn mit Irrtümern zu konfrontieren, wenn Dritte im Raum sind, da er in einer solchen Situation einen Irrtum oder Fehler niemals einräumen werde. Allenfalls in Gesprächen unter vier Augen sei er dafür ansatzweise aufnahmebereit. Von Insidern wird er nach seiner ersten Woche im Amt mit einem launischen Teenager verglichen.

Überdies halte ich es für wahrscheinlich, dass der neugewählte Präsident Leichen im Keller hat, die im Laufe der Zeit auffliegen dürften (vgl. den Aufruf von WikiLeaks an potenzielle Whistleblower hinsichtlich der von Trump unter Verschluss gehaltenen Tax Returns).

Die bereits in der Endphase des Wahlkampfs von seinem engsten Umfeld, im wesentlichen von seiner Familie, praktizierte enge Begleitung durch einen persönlichen Vertrauten Donald Trumps als permanenten Einflüsterer und Aufpasser wird auf die Dauer nicht tragfähig sein. Es ist eine Illusion zu glauben, ein Präsident Trump sei gewissermaßen als Marionette seiner Tochter Ivanca oder seines Schwiegersohns Kushner politisch überlebensfähig.

Ebenso halte ich den Gedanken, sein Kabinett oder sein Stab könnten ihn lenken und leiten, für eine Illusion. Eine derartige tendenzielle Entmachtung würde ein von Grandiositäts- und Omnipotenzvorstellungen durchdrungener Narzisst nicht zulassen. Der Einwand, die eigentliche Politik werde ohnehin von der Administration gemacht, der Präsident selbst sei nur das Aushängeschild, verkennt ebenfalls, dass Trump sich darauf nicht reduzieren lassen wird. Zudem ist es der Präsident selbst, der von den Medien auf Schritt und (Fehl-) Tritt beobachtet und kommentiert werden wird, und der zumindest als Aushängeschild einigermaßen „funktionieren“ müsste, wie es z.B. Ronald Reagan in hervorragender Weise gelang. Von Trump hingegen ist eher zu erwarten, dass er kaum ein Fettnäpfchen auslassen wird.

Es bleibt abzuwarten, wie sich die Stimmung in der amerikanischen Öffentlichkeit entwickelt, wenn zunehmend deutlich wird, dass der drastische Autoritarismus (s. auch hier), der Donald Trumps Persönlichkeit prägt, von einer rechtsextremen Mentalität und faschistoiden Tendenzen (s. auch hier) kaum mehr zu unterscheiden ist. Es ist gut denkbar, dass ein erheblicher Teil derjenigen Wähler, die ihm ihre Stimme nur deshalb gegeben haben, weil sie das Washingtoner Establishment abwählen wollten, die aber keine genuinen Trump-Anhänger sind, sich von ihm abwendet, wenn das ganze Ausmaß an Irrationalität und Psychopathologie zutage tritt, das die Persönlichkeit und das Handeln des amerikanischen Präsidenten bestimmt.

Aufgrund dieser – hier nur kursorisch umrissenen – Faktoren prognostiziere ich ein Scheitern Trumps noch vor dem Ende seiner Amtszeit. Schritte auf diesem Weg werden an dieser Stelle weiterhin dokumentiert und kommentiert werden.

Diese Prognose bezieht sich auf die Person Donald Trump. Für den Fall, dass er eines Tages gezwungen sein würde, zurückzutreten (wie Nixon wegen der Watergate-Affaire) und Vizepräsident Mike Pence Präsident werden würde, würden die hier genannten Faktoren entfallen und die Karten neu gemischt werden.

  • Zur Persönlichkeit Donald Trumps
  • Zunehmend werden in den Vereinigten Staaten Stellungnahmen von Psychotherapeuten („shrinks“) veröffentlicht, die Donald Trump eine „mental illness“ bescheinigen und es als ihre Aufgabe ansehen, die Öffentlichkeit angesichts Machtfülle des amerikanischen Präsidenten über die Gefahren aufzuklären, die damit verbunden sind, wenn eine Person mit gravierenden Persönlichkeitsstörungen dieses Amt bekleidet. 
  • President Trump exhibits classic signs of mental illness, including ‚malignant narcissism,‘ shrinks say – Gersh Kuntzman – New York Daily News, 29.01.2017
    • „The time has come to say it: there is something psychologically wrong with the President.“
    • „(…) frightened by the President’s hubris, narcissism, defensiveness, belief in untrue things, conspiratorial reflexiveness and attacks on opponents, mental health professionals are finally speaking out. The goal is not merely to define the Madness of King Donald, but to warn the public where it will inevitably lead.“
    • A top psychotherapist affiliated with the esteemed Johns Hopkins University Medical School said Trump „is dangerously mentally ill and temperamentally incapable of being president.” The expert, John D. Gartner, went on to diagnose Trump with “malignant narcissism.”
    • In an earlier effort just after the election, thousands of shrinks joined a new group called „Citizen Therapists Against Trumpism,“ which quickly released a „Public Manifesto“ to warn America about its leader’s apparent psychosis.
    • „We cannot remain silent as we witness the rise of an American form of fascism,“ the manifesto states. The psychological warning signs? „Scapegoating …, degrading, ridiculing, and demeaning rivals and critics, fostering a cult of the Strong Man who appeals to fear and anger, promises to solve our problems if we just trust in him, reinvents history and has little concern for truth (and) sees no need for rational persuasion.“
  • Zur Möglichkeit eines Amtsenthebungsverfahrens (impeachment):
  • Trumps erste Skandale an „day two
    • sein misslungener Auftritt bei der CIA
      • Trumps hat eine in geradezu grotesker Weise unpassende Rede vor den CIA-Mitarbeitern u.a. dazu verwendet, über die „unehrenhaften Medien“ herzuziehen, die falsche Angaben über die Zuschauerzahlen bei seiner Amtseinführung gemacht hätten, damit zu prahlen, wie oft er im letzten Jahr auf dem Titelblatt des Time-Magazins abgebildet war, und zu bedauern, dass man seinerzeit nicht Iraks Öl „genommen“ hat – aber vielleicht werde es eine zweite Chance geben. Sein Auftritt brachte ihm u.a. eine vernichtende Kritik des ehemaligen CIA-Direktors Brennan ein („he should be ashamed of himself“).
    • sein wahrheitswidriges Bestehen darauf, das Publikum bei seiner Inauguration sei zahlenmäßig größer gewesen als bei allen anderen Präsidenten.
  • Dear Mr President: welcome to the real world – David A. Andelman, CNN, 20.01.2017
    • David A. Andelman, editor emeritus of World Policy Journal and member of the board of contributors of USA Today, is the author of „A Shattered Peace: Versailles 1919 and the Price We Pay Today.“
    • „The US could lose the new Cold War before it’s even started“
  • Trumps erster Tag: Narziss und Schoßhund – Kolumne von Christian Stöcker – Spiegel Online, 22.01.2017
    • „Donald Trump ist ein Narzisst, das war klar. Wie kränkbar der neue US-Präsident ist, verblüfft dann aber doch. Wie sein Sprecher für ihn lügen muss, auch. Trumps erster Tag in Zitaten.“
  • Streit über Amtseinführung: Trumps Kampf um die Bilder – Tagesschau, 22.02.2017
    • „Enttäuschend wenige Besucher bei der Amtseinführung? Der neue US-Präsident Trump findet derlei Berichte empörend. Sein Sprecher drohte der Presse mit Konsequenzen. Und auch ein versöhnlich gemeinter Besuch bei der CIA löst eine Kontroverse aus.“
  • Trumps Pressesprecher: Vier Falschaussagen in fünf Minuten – Bayerischer Rundfunk, 22.01.2017
    • „Es war ein denkwürdiger Auftritt: Knapp fünf Minuten redete der neue Pressesprecher des Weißen Hauses bei seiner Premiere. Dabei verdrehte Sean Spicer mindestens vier mal die Fakten zu seinen Gunsten.“
  • Ex-CIA-Chef: Trump sollte sich schämen – ntv, 22.01.2017
    • „Der frühere CIA-Direktor Brennan ist tieftraurig und verärgert über Donald Trumps verabscheuenswürdige Darstellung der Selbstverherrlichung vor der CIA-Gedenkwand mit den Helden der Agentur“, twitterte der frühere stellvertretende CIA-Stabschef Nick Shapiro. „Brennan sagt, dass Trump sich schämen solle.“

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Gabor Steingart: Die USA nach Trumps Amtseinführung

In seinem heutigen Morning Briefing kommentiert Handelsblatt-Herausgeber und USA-Kenner Gabor Steingart die tolldreiste Rede Donald Trumps zu seiner Amtseinführung  (Video mit deutscher Übersetzung) und die nun entstandene politische Lage in den USA. Er beschreibt aber auch auch den Gegenwind, mit dem Trump im eigenen Land zu rechnen hat, und die Möglichkeit eines frühen Amtsenthebungsverfahrens.

„Was wir gestern von Donald Trump gehört haben, war keine präsidiale Rede, sondern eine president-donald-trumpKampfansage. Übellaunig im Ton. Eisenhart in der Sache. Change minus Hope. Donald Trump nutzte seine Antrittsrede zur Abrechnung mit dem politischen Establishment und lieferte dabei nichts Geringeres als ein populistisches Manifest.

Bisher hätten die Eliten sich immer nur selbst gefeiert, sagte er: „Ihre Siege waren nicht eure Siege, ihre Triumphe waren nicht eure Triumphe“. Diesmal werde die Macht nicht von einer Partei an die nächste, sondern von Washington direkt an das Volk übergeben. In dessen Auftrag will er seine Amerika-First-Politik durchsetzen, das heißt Fabriken „zurückholen“, den Islamismus„ausrotten“, das von Drogengangs angerichtete „Blutbad“ in den Städten beenden, und die Nato-Partner sollen für ihre Sicherheit künftig selbst zahlen. Die Trump-Agenda klingt nach Bürgerkrieg im Innern und Eiszeit in den auswärtigen Beziehungen. Nicht, dass er beides kaltblütig plant, aber er nimmt es in Kauf. Der neue Präsident liebt Streit, nicht Konsens. Er will nicht umarmen, er will zudrücken.

Der gestrige Tag war sein Tag, doch die Tage seiner Gegner kommen auch noch dran. Es sind insbesondere drei Herausforderer, die ihn noch vor dem nächsten Wahltag zu Fall bringen könnten.

Gegner Nummer 1: Das andere Amerika. Im Land baut sich eine Anti-Trump-Stimmung auf. Während zum Washingtoner Open-Air-Konzert am Vorabend der Amtseinführung nur etwa 10.000 Menschen kamen, standen in New York rund20.000 Menschen auf der Straße, um gegen Präsident Nummer 45 zu demonstrieren. Auf ihren Plakaten stand „Not My President“. Die Bewachung des Trump Towers an der Fifth Avenue, Ecke 56th Street, kostet den Staat derzeit rund eine halbe Million US-Dollar am Tag.

Gegner Nummer 2: Die Medien. Trump hat unter Verlegern, Produzenten, Filmemachern und Journalisten kaum Freunde. „CNN“, „Washington Post“, „New York Times“ und Hollywood können sich mit der eruptiven Persönlichkeit des neuen Präsidenten nicht anfreunden. Gegen diese Wand medialer Ablehnung wird Trump auf Dauer nicht antwittern können. Er hasst, sie hassen zurück. Er setzt die Agenda, und sie die ihre dagegen. Die Umfragewerte von Trump waren gestern die niedrigsten, die je am Tag einer Amtseinführung gemessen wurden.

Gegner Nummer 3: Das Parteiensystem. Washington reagiert allergisch auf den Außenseiter. Längst haben sich Demokraten und Republikaner zusammengetan, um die Kontakte des Trump-Teams nach Russland im Geheimdienstausschuss auf Capitol Hill zu untersuchen. Der republikanische Mehrheitsführer Paul Ryan sieht sich nicht als Trump-Unterstützer, sondern als Trump-Nachfolger. Er ist der Wolf, der sich das Schafsfell über die Ohren gezogen hat. Oder anders gesagt: Nicht nur Demokraten träumen von einem frühen Amtsenthebungsverfahren.

Amerika steht vor einer Periode neuerlicher Polarisierung. Die Großartigkeit, von der Trump so gern spricht, wird sich unter diesen Bedingungen nicht einstellen können. Ein eisiger Wind weht durch das Land. Die Dämonen des Bruderzwists sind unterwegs.“

Außerdem:
  • Trump: An American Horror Story – Project Syndicate Focus
    • „Get to grips with President Trump; Project Syndicate has published more than 100 articles exploring the implications of his presidency for politics, the economy, and world peace and security. They are all here.“
  • Kommentar zu Trumps Antrittsrede – Frankfurter Rundschau, 20.01.2017
    • „Donald Trump hat eine demagogische, eine verlogene Rede gehalten. Der Milliardär, der von der Politik der rabiaten Einkommensverteilung von unten nach oben profitierte und weiter profitiert, der sich weigerte Steuern zu zahlen, spielt sich auf als Robin Hood und erklärt: „Heute wird nicht die Macht einfach von einer Regierung auf eine andere übertragen oder von einer Partei auf eine andere Partei – heute übertragen wir die Macht von Washington D.C. und geben sie Euch zurück, dem amerikanischen Volk.“ Dieses „Wir“ ist Donald Trump, niemand sonst. Und das amerikanische Volk ist sein Volk. Das blonde, reiche Amerika, das um ihn herumsteht. Je weniger die Demagogen von ihren Versprechungen verwirklichen können, desto schärfer und aggressiver müssen sie reden. Diesen Weg wird Trump gehen. Er hat keine politische Agenda. Er will gewinnen. Sonst nichts.“
  • Der Imperator gibt kein Pardon – Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff (Chefredakteur) – Tagesspiegel, 20.01.2017
    • „Donald Trumps erste Rede im Amt hat gezeigt, welcher Geist von jetzt an herrscht. Das Amerika, wie er es repräsentiert, kommt zuerst, immer und überall. Gegnern macht er Angst.“
  • Amerika kurz und klein geredet – Kommentar von Jochen Arntz (Chefredakteur Berliner Zeitung) – Kölner Stadt-Anzeiger, 20.01.2017
    • „Eine Rede gegen den eigenen Staat.“
  • Eine Gefahr für sein Land und die ganze Welt! – Kommentar von Elmar Theveßen – ZDF, 20.01.2017
    • „Kein Respekt vor seinen Vorgängern. Keine Demut vor der Aufgabe. Keine Kompromisse. „

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