Finanzsystemkrise

Die gravierenden Probleme, die das globale Finanzsystem in seiner derzeitigen Struktur generiert, halte ich für den größten Krisenherd, der uns gegenwärtig bedroht. Es handelt sich um eine Systemkrise des globalen Finanzsystems in seiner heutigen, auch als Finanzkapitalismus bezeichneten Form.  Sie ist nicht zuletzt deshalb so gefährlich, weil ihre Wirkmechanismen so schwer durchschaubar sind.

Das fängt bereits damit an, dass – von Fachleuten abgesehen – kaum einer einen bestimmten kategorialen Unterschied zwischen dem Banken- und dem Finanzsystem verstanden hat:  Das Bankensystem der Geschäftsbanken handelt mit vorhandenem oder im Wege der Refinanzierung leicht zu beschaffenden Geld. Dieses Einlagen- und Kreditgeschäft ist die Grundlage seines Geschäftsmodells. Es verwaltet dieses Geld, legt es für seine Kunden möglichst gewinnbringend an, und vergibt Kredite. All dies gegen Gebühren und Zinsen. Da eine Geschäftsbank im Kreditgeschäft nur verdient, wenn der Kredit zurückgezahlt wird, hat sie kein Interesse daran, „schlechte“ Kredite zu vergeben. Sie achtet auf die Bonität des Schuldners und lässt sich Sicherheiten übertragen, die sie im Notfall verwerten kann.

Das Finanzsystem mit seinen Global Playern, den Investmentbanken, handelt mit nicht vorhandenem Geld, mit Forderungen (aus Sicht der Gläubiger) bzw. Schulden (aus Sicht der Schuldner). Dort werden gigantische Summen damit verdient, Forderungen (Schulden) zu kaufen, zusammenzupacken, zu tranchieren, umzustrukturieren zu neuen, artifiziellen Finanzprodukten („Structured Finance“) und diese – verpackt in wohlklingende Bezeichnungen – als Wertpapiere (Securities) profitabel zu verkaufen. Ob die in diesen „Wertpapieren“ enthaltenen Forderungen, die zukünftig einmal zu gewinnbringenden Zahlungsströmen werden sollen, von den betreffenden Schuldnern jemals bedient werden, interessiert die Konstrukteure und Händler der künstlich strukturierten Finanzprodukte nicht im mindesten. Sollte es zu weitgehenden Forderungsausfällen kommen wie z.B. in der Subprime-Krise, haben sie mit dem Handel dieser Wertpapiere ihr Geld längst verdient (s. Grafik aus: Der Spiegel 47/2008, Titelgeschichte „Der Bankraub“ )

Und für diejenigen Kunden, die sich gegen Zahlungsausfälle versichern wollen, entwickelten die Zauberer aus den Structured-Finance-Abteilungen der Investmentbanken eine weitere neue Form von Finanzprodukten: Credit Default Swaps (CDS) – Versicherungen gegen den Forderungsausfall. Zu diesem Versicherungszweck sind sie eigentlich gedacht, gehandelt werden sie jedoch davon völlig unabhängig, und zwar in phantastischen Größenordnungen – gleichgültig, ob die Marktteilnehmer Eigentümer der versicherten Forderungen sind oder nicht. Da die jeweiligen Kurse der CDS  davon abhängig sind, als wie wahrscheinlich der Markt einen Kreditausfall (Credit Default) einschätzt, unterliegen die CDS Kursschwankungen  (hohe Wahrscheinlichkeit eines Credit default: hoher Preis für CDS bzw. hohe Versicherungsprämie). Die Marktteilnehmer schließen also gewissermaßen Wetten darauf ab, ob es zu einem Kreditausfall kommen wird. Bedenkliche Ausmaße kann das Volumen dieser Spekulation mit CDS annehmen, das jede Vorstellungskraft sprengt: im Jahr 2008 lag es zeitweilig bei 57 Billionen (!) Dollar – mehr als das weltweite Bruttoinlandsprodukt 2007 in Höhe von 54 Billionen Dollar.

Das Problem ist, dass diese künstlichen Finanzprodukte im Einzelfall zwar durchaus harmlos sein und funktionieren können, ohne Schaden anzurichten, in ihrer Gesamtheit indes eine neue Dimension von Risiken mit sich bringen. Diese Risiken werden von der politischen Öffentlichkeit kaum erkannt und verstanden, können aber eines Tages zu einem Zusammenbruch des gesamten Weltfinanzsystems führen. Im Herbst 2008 war es beinahe soweit.

Die Risiken, die eine Nutzung der Atomenergie mit sich bringt, hat die Öffentlichkeit inzwischen verstanden. Das ist die Voraussetzung dafür, dass sich Widerstand dagegen formieren kann. An dieser Voraussetzung fehlt es bei den Risiken, mit denen Investmentbanken unsere Welt heimsuchen.

Warum es sich um eine Finanz„system“krise handelt

Weil…

  • die Organisation des weltweiten Finanzsystems es zulässt, dass Partialinteressen einer Gruppe von Akteuren (Großspekulanten, Hedgefonds, Investmentbanken) – der Finanzoligarchie – einen dominierenden Einfluss auf das Gesamtsystem haben und dessen Funktionsfähigkeit immer wieder gefährden, was in Extremfällen dazu führen kann, dass katastrophenartige Dysfunktionalitäten auftreten („systemische Krisen“), die vom Finanzsystem selbst nicht mehr beherrschbar sind. Zur Rettung muss dann die Politik mit Riesensummen an Steuergeldern einspringen – eben die Privatisierung der Gewinne und die Sozialisierung der Verluste.
  • diese hochgefährliche Organisation des Weltfinanzsystems jeder politisch-demokratischen Kontrolle entzogen ist. Hedgefonds und Investmentbanker können tun, was sie wollen und für profitabel halten, und niemand hindert sie daran. Dabei spielt sich ihre gesamte Geschäftstätigkeit weitgehend in der Sphäre der Reichen und Superreichen ab – eben das von der Occupy-Bewegung herausgestellte „eine Prozent“. Im Katastrophenfall sind es aber die restlichen 99 Prozent der Menschheit, die zur Rettung einspringen müssen..
  • eine fatale Abhängigkeit hochverschuldeter Staaten vom Goodwill privater (institutioneller) Investoren besteht, da Staatsschulden weitgehend durch Verkäufe von Staatsanleihen an große private Investoren finanziert werden müssen – wobei die fällig werdenden, also zu einem bestimmten Termin rückzahlbaren Staatsanleihen in der Regel nur getilgt werden können, wenn gleichzeitig neue Mittel am Anleihemarkt aufgenommen werden (das sogenannte „Überrollen“ der Schulden). Wenn die Investoren („die Märkte“) jedoch verunsichert sind, wie jetzt im Fall Italiens, kaufen sie nur, wenn sie höhere Zinsen als Risikoprämie erhalten, oder sie kaufen evtl. gar nicht. Dann müssen die Zentralbanken der betreffenden Staaten einspringen, oder in Europa die EZB, was jedoch aus anderen Gründen bisher Grenzen hat. – Wegen dieser Abhängigkeit von der Kaufbereitschaft der privaten Investoren bekommt der Aspekt des Vertrauens der Märkte in die Bonität der Schuldnerstaaten, also deren Rückzahlungsfähigkeit zum Fälligkeitszeitpunkt, so große Bedeutung. Deshalb die riesigen Rettungsschirme. Am liebsten hätten die Märkte glaubhafte Garantien von Zentralbanken als „lender of last resort“ (Kreditgeber letzter Instanz), bei einem Zahlungsausfall in unbegrenzter Höhe einzuspringen. Wäre diese Sicherheit gegeben, würden die Zinsen sogleich sinken. Zu dieser Strategie, die u.a. von dem amerikanischen Nobelpreisträger Paul Krugman, aber auch von zahlreichen weiteren Ökonomen empfohlen wird, konnte sich die EZB jedoch bisher nicht durchringen, da man u.a befürchtet, der Druck auf die Schuldnerstaaten, ihre Schulden mit einer schmerzhaften Sparpolitik abzubauen, würde dann fehlen.
  • den Einwirkungsmöglichkeiten des politischen Systems auf die Organisation des Finanzsystems infolge der Globalisierung enge Grenzen gesetzt sind, denn gesetzliche Regelungen können nur auf nationaler Ebene erfolgen, und für die Einführung von Restriktionen bekommt man nie alle Staaten unter einen Hut. Das führt dann regelmäßig zu dem Argument, „wenn wir hier bei uns Grenzen setzen, die den Investmentbankern nicht gefallen, betreiben die ihre Geschäfte eben aus Singapur oder von den Cayman Islands“. Aber auch ein Staat wie Großbritannien lehnt weitergehende Restriktionen des Finanzsystems ab, da man bei Abzug der Global Player aus der Londoner City wirtschaftliche Nachteile fürchtet.

Diejenigen Staaten, die sich einer Reorganisation des Weltfinanzsystems aus nationalen Interessen widersetzen, sollten wir ächten. Deshalb nenne ich sie Finanzschurkenstaaten.

 Augenöffner:

Wikipedia-Artikel über zentrale Bestandteile des heutigen Investmentbankings – ein Blick in die Alchemistenküche unseres Finanzsystems

  • Kreditderivate (Wikipedia)
  • Structured Finance (engl.)
    • Structured finance is a broad term used to describe a sector of finance that was created to help transfer risk and avoid laws using complex legal and corporate entities. This risk transfer as applied to securitization of various financial assets (e.g. mortgages, credit card receivables, auto loans, etc.) has helped to open up new sources of financing to consumers. However, it arguably contributed to the degradation in underwriting standards for these financial assets, which helped give rise to both the inflationary credit bubble of the mid-2000s and the credit crash and financial crisis of 2007-2009.“
  • Verbriefung bzw. Securization(engl.)
    • „Verbriefung (engl. Securitization) bedeutet die Schaffung von handelbaren Wertpapieren (englisch: Securities) aus Forderungen (⇒ zukünftige Zahlungsströme) oder Eigentumsrechten im weitesten Sinne.“
  • Tranche(engl.)
    • „In structured finance, a tranche is one of a number of related securities offered as part of the same transaction.“
  • Credit enhancement(engl.)
    • „Credit enhancement is a key part of the securitization transaction in structured finance, and is important for credit rating agencies when rating a securitization.“
  • Credit Default Swap(CDS)
    • „Ein Credit Default Swap (CDS, engl. Kreditausfall-Swap) ist ein Kreditderivat, das es erlaubt, Ausfallrisiken von Krediten, Anleihen oder Schuldnernamen zu handeln.“

Einen sehr guten Überblick über die Finanzkrise der vergangenen Jahre geben die Wikipedia-Artikel zur Finanzkrise ab 2007 bzw. engl. Late-2000s financial crisis sowie der engl. Artikel Causes of the late-2000s financial crisis (letzterer ist besonders instruktiv, da er das Geflecht der zahlreichen Bedingungen und Faktoren aufzeigt, die zur Entstehung und Eskalation der Krise beigetragen haben).

Die Geschichte der Finanzkrise 2007-2010 gibt die Spiegel-Titelgeschichte 47/2008 „Der Bankraub“ detailliert, aber sehr gut lesbar wieder, weshalb sie 2009 mit dem Henri-Nannen-Preis für besonders verständliche und anschauliche Dokumentation eines komplexen Sachverhaltes ausgezeichnet wurde. Daraus wurden auch die beiden Grafiken oben entnommen.

Makroökomische Theorien zu Finanzkrisen

Wirtschaftswissenschaftliche Analysen zur Finanzkrise ab 2007

  • „Sieben verflixte Jahre“Harold James (Prof. für Geschichte und Internationale Angelegenheiten, Princeton) zieht interessante Lehren aus der Bewältigung der Lateinamerika-Krise in den 90erJahren (Brady-Plan etc.) für die gegenwärtige Situation (Project Syndicate, 04.05.2011)
  • „Die Risiken nach der Krise“ – Ökonomie-Nobelpreisträger Michael Spence (New York, Stanford) über das komplexe Geflecht wesentlicher Strukturprobleme und makroökonomischer Risikofaktoren in den Schwellenökonomien und Industrieländern und ihre vermutlichen Auswirkungen auf die Weltwirtschaft in den nächsten Jahren (Project Syndicate, 15.06.2011)

Sonstige makroökonomische Analysen mit Bezug zur Finanzsystemkrise

  • „Asiens neues Wachstumsmodell“ – Ökonomie-Nobelpreisträger Michael Spence (New York, Stanford) über demografische und andere Entwicklungstrends in den asiatischen Staaten und die sich daraus ergebenden Herausforderungen für eine nachhaltige Entwicklung (Project Syndicate, 01.06.2011)
  • «Euro break-up – the consequences»sehr erhellende Studie von Analysten der Schweizer UBS zu den Kosten und Konsequenzen eines Auseinanderbrechens der Euro-Zone (06.09.2011)

Heilmittel / Rezepte:

Interessante tagesaktuelle Hintergrundinformationen finden sich in dem Financial-Times-Blog Alphaville. Unter dem Stichwort (Tag) „Weltfinanzkrise“  sammelt Spiegel Online die dort erscheinenden Artikel zur Finanzkrise 2011.

Ausgezeichnete Kurzanalysen einiger der weltweit führenden Experten zu den Ursachen und möglichen Bewältigungsstrategien der Finanzsystemkrise finden sich beim Project Syndicate. Wie z.B. diese von Nouriel Roubini zum zunehmend realistischer erscheinenden Untergang des (Finanz-) Kapitalismus in einer großen Wirtschaftskrise; oder die Überlegungen von Mohamed A. El-Erian zum bevorstehenden Endspiel in der Eurozone.

Politische Lyrik:

 

Finanzmarktkrise 2008

Blogs zur globalen Wirtschafts- und Finanzmarktkrise

7. Dezember 2008: A field guide to economics and finance blogs (The Boston Globe)

Herausragende Presseartikel

Die Qualität der Kommentare und Analysen zur Finanzmarktkrise in den Medien ist höchst unterschiedlich. Während das Gros der Presseartikel im wesentlichen die mittlerweile gut bekannten Fakten und Ansichten variiert, finden sich hin und wieder Stellungnahmen, die sich durch besonderen analytischen Tiefgang, unkonventionelle Ideen oder brillante Argumentation auszeichnen. Sie werden an dieser Stelle gesammelt.

Lageberichte

Hintergrundberichte (was schief ging und wie es dazu kam)

Makroökonomische Analysen

Kommentare

  • Leitartikel „Das Spiel ist aus“ von Robert von Heusinger in der Frankfurter Rundschau vom 8. Okt. 2008
  • „Moment of Truth“ – Paul Krugman in der New York Times vom 9. Okt. 2008 (Vier Tage später erhielt Paul Krugman den Wirtschaftsnobelpreis.)
  • „Was wird morgen sein?Frank Schirrmacher geht in der FAZ am 11. Okt. 2008 davon aus, dass die Finanzmarktkrise unser wirtschaftspolitisches Denken grundlegend in Richtung einer Kritik am Kapitalismus und an der Globalisierung verändern wird. Evtl. ist er da zu optimistisch. (Ergänzung im Mai 2012, also ca. 3 1/2 Jahre später: Evtl. auch nicht. Inzwischen gibt es nicht nur die Occupy-Bewegung, sondern es zeichnet sich auch eine grundlegende Neuorientierung der ökonomischen Wissenschaften ab, vor allem der Makroökonomie.)
  • „Schließt das Finanz-Casino!“ – Gastkommentar des Attac-Finanzmarktexperten Stephan Schilling in der Berliner Zeitung vom 11. Okt. 2008: (Mit dem Finanzmarktkapitalismus hat sich) „auch das Verhältnis zwischen Realwirtschaft und Finanzsystem pervertiert. Der Renditedruck gigantischer Vermögen, die auf der ganzen Welt nach profitablen Anlagen suchen, ist in alle Poren des wirtschaftlichen und sozialen Lebens eingedrungen.“
  • „Banken gerettet, Staat pleite“ – Kolumne von Wolfgang Münchau in der Financial Times Deutschland vom 15. Okt. 2008: Mit dem europäischen Rettungspaket haben wir ein privates Kreditproblem womöglich in ein weltweites Solvenzproblem transformiert – wenn schließlich der globale Bondmarkt einbricht.

Interviews

  • „Es ist ein Horror“ – Globalisierungskritikerin Saskia Sassen in der taz vom 22. Sept. 2008 über die Finanzkrise: Als Interview eher misslungen und schlecht übersetzt, aber – leider nur in Andeutungen – eine hochinteressante Sichtweise der tiefergehenden systemimmanenten Ursachen und Mechanismen der Krise (auch einige der Kommentare dazu sind lesenswert)
  • „Die Banker haben die Marktwirtschaft verraten“ – Interview mit Altbanker Ludwig Poullain (88) in der FAZ vom 6. Okt. 2008
  • „Schlimmer als die Große Depression“ – Interview mit Wirtschaftnobelpreisträger Joseph Stiglitz in der Berliner Zeitung vom 9. Okt. 2008
  • „Finanzindustrie hat zu viel Einfluss“ – Interview mit dem Ökonomen Jagdish Bhagwati im Handelsblatt vom 10. Okt. 2008 – „Jagdish Bhagwati gilt als Guru der Globalisierung und ist einer der weltweit führenden Ökonomen. Im Interview mit dem Handelsblatt kritisiert der Inder das Netzwerk einer Machtelite aus Politik und Finanzwirtschaft.“ Die Kritik beschränkt sich auf Auswüchse der Finanzindustrie – Kontrast zu Stiglitz.
  • Kapitalismuskritik: „Phantastischer Gedächtnisverlust“ – Altmeister Hans Magnus Enzensberger am 3. Nov. 2008 im „Spiegel“ über die zyklischen Krisen, die der Kapitalismus unvermeidlich immer wieder hervorbringt.

Dokumente

Hinterlasse einen Kommentar

Ein Kommentar

  1. Warum drucken Sie diese Ausführungen nicht aus und schicken sie an alle deutschen Politiker?

    Antworten

Hinterlasse einen Kommentar