Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman veröffentlichte am 23. Oktober in der New York Times einen wie immer klugen, bedenkenswerten Kommentar zur europäischen Schuldenkrise und deren Auswirkungen auf den Euro. Das alte Kinderlied „There’s a Hole in My Bucket“ („Ein Loch ist im Eimer“) war ihm dazu eingefallen, daher gab er seinem Artikel den Titel „The Hole in Europe’s Bucket“.
Die Frankfurter Rundschau druckte am 31. Oktober unter der neuen Überschrift „Europas arrogante Elite“ eine erheblich gekürzte Fassung des Kommentars, die wesentliche Teile auslässt. Hier eine Neuübersetzung von Krugmans vollständigem New York Times-Artikel (Hervorhebungen von mir).
Übrigens: In der amerikanischen Version des Kinderlieds ist Henry der Dumme und Liza gibt die klugen Ratschläge. In der deutschen Fassung ist es umgekehrt.
Das Loch in Europas Eimer
Die gegenwärtige Krise Europas wäre komisch, im Sinne von Galgenhumor, wäre sie nicht so tragisch. Während ein Rettungsplan nach dem anderen scheitert, sehen Europas „Very Serious People“ – die, falls das überhaupt möglich ist, noch aufgeblasener und selbstbezogener daherkommen als ihre amerikanischen Gegenstücke – immer lächerlicher aus.
Ich komme gleich zur Tragödie. Zunächst will ich aber über die Reinfälle sprechen, die mich kürzlich das alte Kinderlied „Ein Loch ist im Eimer“ haben summen lassen. Falls jemand das Lied nicht kennt – es handelt von einem faulen Bauern, der sich über dieses Loch beschwert und von seiner Frau gesagt bekommt, er soll es zustopfen. Doch jede Lösung, die sie vorschlägt, erfordert zunächst eine Vorarbeit. Schließlich schickt sie ihn zum Brunnen, um Wasser zu holen. „Aber ein Loch ist im Eimer, liebe Liese, liebe Liese.“
Was das mit Europa zu tun hat? Nun, derzeit ist Griechenland, wo die Krise begann, nicht mehr als ein trostloser Nebenschauplatz. Die derzeitige Gefahr besteht eindeutig in einer Art Bank Run auf Italien, die drittgrößte Wirtschaftsnation der Eurozone. Die Investoren befürchten eine Staatspleite Italiens und verlangen für Kredite hohe Zinsen. Diese hohen Zinsen machen eine Pleite indessen noch wahrscheinlicher, indem sie die Last des Schuldendienstes erhöhen.
Es ist ein Teufelskreis – die Angst vor einer Pleite droht zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung zu werden. Um den Euro zu retten, muss diese Gefahr eingedämmt werden. Aber wie? Die Antwort müsste die Schaffung eines Fonds beinhalten, der Italien (und Spanien, das ebenfalls bedroht ist) nötigenfalls genug Geld leihen kann, damit es nicht die hohen Marktzinsen zahlen muss. Ein solcher Fonds brauchte wahrscheinlich gar nicht in Anspruch genommen werden, weil seine bloße Existenz den Kreislauf der Angst vermutlich bereits beenden würde. Aber die Möglichkeit wirklich großer Kredite, gewiss im Wert von mehr als einer Billion Euro, muss gegeben sein.
Und hier ist das Problem: All die verschiedenen Vorschläge, einen solchen Fonds zu etablieren, erfordern letztlich die Unterstützung der führenden europäischen Regierungen, deren Garantien Investoren gegenüber glaubwürdig sein müssen, damit der Plan funktioniert. Italien ist nun aber eine dieser führenden Nationen; es kann nicht zur Rettung beitragen, indem es sich selbst Geld leiht. Und Frankreich, Europas zweitstärkste Wirtschaftsnation, schien in letzter Zeit ebenfalls angeschlagen. Das schürte Ängste, die Schaffung eines großen Rettungsfonds würde Frankreichs eigene Schulden weiter erhöhen und könnte zur Folge haben, dass Frankreich ebenfalls zu einer Krisennation wird. „Ein Loch ist im Eimer, liebe Liese, liebe Liese.“
Sie erkennen, was ich meine, wenn ich die Situation als komisch im Sinne von Galgenhumor ansehe? Was die Geschichte jedoch wirklich schmerzlich macht, ist die Tatsache, dass nichts von alledem hätte passieren müssen.
Denken Sie an Länder wie Großbritannien, Japan und die USA, die ebenfalls hohe Staatsschulden und -defizite haben, aber dennoch in der Lage bleiben, auch weiterhin zu niedrigen Zinssätzen Geld leihen zu können. Was ist ihr Geheimnis? Die wesentliche Antwort ist, sie haben ihre eigene Währung behalten, und die Investoren wissen, dass diese Länder ihre Defizite notfalls finanzieren könnten, indem sie mehr Geld drucken. Wenn die Europäische Zentralbank in ähnlicher Weise hinter den europäischen Staatsschulden stehen würde, würde die Krise sich dramatisch entschärfen.
Würde das nicht Inflation bedeuten? Wahrscheinlich nicht. Was auch immer Leute wie Ron Paul glauben mögen – Geldschöpfung wirkt bei rückläufiger Wirtschaftstätigkeit nicht inflationär („money creation isn’t inflationary in a depressed economy“). Zudem braucht Europa insgesamt sogar eine maßvoll höhere Inflation: zu niedrige Inflationsraten würden Südeuropa zu jahrelanger zermürbender Deflation verdammen, was eine kontinierlich hohe Arbeitslosigkeit und eine Kette von Insolvenzen garantieren würde.
Aber ein derartiges Handeln, so sagt man uns immer wieder, sei keine Option. Die Gründungsstatuten der Europäischen Zentralbank verbieten dies angeblich, obwohl anzunehmen ist, dass clevere Rechtsanwälte schon einen Weg finden würden. Das grundlegendere Problem ist jedoch, dass das gesamte Euro-System auf die Bekämpfung von Problemen der letzten großen Wirtschaftskrise zugeschnitten wurde. Es ist eine Maginot-Linie, darauf ausgelegt, einer Wiederholung der 1970er Jahre vorzubeugen, was jedoch mehr als nutzlos ist, wenn die wirkliche Gefahr eine Wiederholung der 1930er Jahre ist.
Und diese Wendung der Ereignisse ist, wie ich sagte, tragisch.
Die europäische Nachkriegsgeschichte ist außerordentlich beeindruckend. Aus den Ruinen des Krieges baute Europa ein friedliches, demokratisches System und formte nebenbei Gesellschaften, die zwar nicht perfekt sind (welche Gesellschaft ist das schon), aber wohl die anständigsten der Menschheitsgeschichte.
Doch diese Errungenschaft ist in Gefahr, weil Europas Elite in all ihrer Arroganz den Kontinent in ein monetäres System gepresst hat, das die Starrheit des Goldstandards wieder aufleben lässt und – wie der Goldstandard der 1930er Jahre – zur tödlichen Falle geworden ist.
Vielleicht lassen sich Europas Führer ja einen wirklich glaubwürdigen Rettungsplan einfallen. Ich hoffe es, aber ich erwarte es nicht.
Die bittere Wahrheit ist, dass es zunehmend danach aussieht, dass das Euro-System dem Untergang geweiht ist. Und die noch bitterere Wahrheit ist, dass Europa angesichts der Systemmängel besser dran wäre, wenn das System eher früher als später kollabiert.
Siehe auch:
- In einem Beitrag seines Blogs „The Conscience of a Liberal“ vom 31.10.2011 empfiehlt Krugman die Lektüre eines Kommentars von Brad DeLong (Blog) über die Aufgaben einer Zentralbank. Dieser Kommentar ist beim hier schon oft empfohlenen Project Syndicate erschienen, somit auch auf Deutsch, und zwar unter dem bezeichnenden Titel „Der Kampf der EZB gegen das Zentralbankgeschäft“.
- Als die Welt am 1. November 2011 von den Referendum-Plänen der Griechen erfährt, schreibt Paul Krugman seinen Abgesang auf den Euro: Eurodämmerung
- Kritisch setzt sich Henry Kaspar bei Kantoos Economics mit Krugmans Artikel auseinander: „Why is there a Hole in Europe’s Bucket? / Warum ist ein Loch in Europas Eimer?“
- Aus Sicht der Österreichischen Schule kritisiert Krugman-in-Wonderland dessen Analyse: There’s a hole in the logic, dear Krugman, dear Krugman…
- Ein ausführliches Portrait Paul Krugmans schrieb Benjamin Wallace-Wells für das New York Magazine: What’s Left of the Left – Paul Krugman’s lonely crusade.
- Das renommierte Economic Policy Institute zeichnete Krugman am 1. November mit dem Distinguished Economist Award aus und ließ aus diesem Anlass ein Video herstellen, zu dem der Preisträger bemerkt, es werde seine Eltern glücklich machen…
- Artikel, die sich mit den Beiträgen Krugmans in der New York Times auseinandersetzen, sammelt The Annotated New York Times.
- „Wir brauchen eine andere EZB“ – Dieter Wermuth diskutiert in seinem Blog „Herdentrieb“ die Rolle der EZB in der gegenwärtigen Krise. – Zeit, 01.11.2011
- Peter Bofinger, hochangesehener Volkswirtschaftler und Fast-Bundesbankpräsident (anstatt Axel Weber), verteidigt die Staatsanleihen-Käufe der EZB, liest den „Stabilitätsfanatikern“ die Leviten und erläutert seinen Lösungsweg der Euro-Krise: „Der fatale Irrtum der Stabilitätsfanatiker“ – Spiegel, 14.09.2011
- Überlegungen zu einer „Inflationslösung“ des weltweiten Schuldenproblems diskutierte bereits Jens Berger auf hohem Niveau in einem Artikel für Telepolis am 17.05.2010: „Königsweg Inflation“
- „Aus der gigantischen Staatsverschuldung gibt es zwei Auswege – Inflation oder Rosskur. Welchen Weg wird die Politik gehen? Im Zuge der Finanzkrise haben die Regierungen nahezu aller Staaten sehr tief in die Taschen gegriffen, um Finanzsystem und Realwirtschaft vor dem sicheren Kollaps zu retten. Heute sind die OECD-Staaten mit 43 Billionen US$ verschuldet, was fast dem Bruttoinlandsprodukt der gesamten Welt entspricht. Alleine die Eurozone hat 7,7 Billionen US$ Verbindlichkeiten und täglich werden es mehr. Das Staatsdefizit der Eurozonenländer hat sich seit 2007 versiebenfacht, alleine 2009 und 2010 werden die Staatsschulden um rund 1,3 Billionen Euro steigen – mehr als die Hälfte des deutschen Bruttoinlandsprodukts.“
Markus Wichmann
/ 1. November 2011Einen Tag vor Veröffentlichung seines Artikel in der New York Times, also am 22. Oktober 2011, schrieb Krugman unter dem Titel „There’s A Hole In The Bucket“ einen Beitrag für sein Blog „The Conscience of a Liberal“, in dem die wesentlichen Gedanken des Artikels bereits enthalten sind. Dieser Blogbeitrag ist natürlich nicht so sorgfältig ausformuliert wie der am nächsten Tag erschienene Artikel, aber umso authentischer. Seinem Beitrag hat Krugman übrigens ein köstliches Sesamstraßen-Video vorangestellt mit der Inszenierung des betreffenden amerikanischen Kinderlieds.
Hier die Übersetzung des Blogbeitrags:
dr. falk von morgen
/ 3. November 2011Hat er Recht. Sage ich auch: wir müssen dieses System nach allen Kräften unterstützen, denn nur dann kollabiert es schnellstmöglich!
Bernd Klehn
/ 3. November 2011Auch die USA und UK können sich bei Nettoauslandsschulden und Leistungsbilanzdefiziten nicht durch Gelddrucken an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen, dieses müssen dann immer ausländische Investoren bewerkstelligen. Und hier das Merkwürdige und Irrationale, sie drängen diesen Ländern das Geld förmlich auf und halten so die Zinsen niedrig und verlieren langfristig sicher ihre Investitionen. Wäre dem nicht so, wären zwar die Staatsanleihen durch Gelddrucken zwar bedienbar, aber USA UK trotzdem pleite und die Währungen ruiniert. Dieses ist bei flexiblen Wechselkursen und funktionierenden Kapitalmarkt die Bremse gegen überbordende Leistungsbilanzdefizite und Nettoauslandsschulden. Bei festen Wechselkursen wird die Bremse durch Geldknappheit und steigende Zinsen gebildet, kann gar nicht anders sein. Permanente Geldzufuhr von aussen manifestiert auch innerhalb des Euroraums nur genauso wie in USA und UK die bestehenden Strukturschwächen.
uhupardo
/ 3. November 2011Wie sehr sich Paul Krugmann irrt, wird erst 2012 klar, wenn jedem ins Bewusstsein tritt, wie pleite die USA tatsächlich sind. Natürlich freuen sich die US-Amerikaner überden Nebenkriegsschauplatz Europa, das ist sehr verständlich.
Es wird ihnen und uns nur nichts nützen.
Saludos del Uhupardo
http://uhupardo.wordpress.com/2011/11/03/griechenland-ist-unwichtig-der-tag-nach-dem-crash/