Gedanken und Einsichten – über den Tag hinaus (1)

Über viele Jahre hinweg habe ich für meinen Blog „Denkraum“ insgesamt ca. 250 Beiträge geschrieben – von unterschiedlicher Qualität und Relevanz. Einige davon möchte ich kennzeichnen als „Über den Tag hinaus…“.

  • Der Mensch – ein „Gott der Erde“?
    • „Das Gewebe dieser Welt ist aus Notwendigkeit und Zufall gebildet; die Vernunft des Menschen stellt sich zwischen beide und weiß sie zu beherrschen; sie behandelt das Notwendige als den Grund ihres Daseins; das Zufällige weiß sie zu lenken, zu leiten und zu nutzen. Und nur, indem sie fest und unerschütterlich steht, verdient der Mensch, ein Gott der Erde genannt zu werden.“ Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre I,17
    • Wie steht es nun heute mit der Vernunft des „homo sapiens“?
  • Delphine – mit dem Kapitalismus konfrontiert.
    • Wenn Tiere zur Ware werden, werden Menschen zum Tier. Raubtiere töten ihre Beute jedoch meistens rasch und gezielt. Was im Video gezeigt wird, das brutale Abschlachten von Delphinen, ist Teil unserer Wirklichkeit. Schauen Sie es sich nur dann an, wenn Sie einiges abkönnen.
  • Osterbotschaft: „Wie hältst Du’s mit der Religion?“
    • Dem Gedankengut der Aufklärung verpflichtet, will ich daran erinnern, dass es mit dem historischen Jesus, seiner Auferstehung und dem leeren Grab so eine Sache ist.
  • Der Anschlag vom 11. September – ein Kunstwerk?
    • Der heutige Artikel des „Transatlantikblogs“ zum 11. September versteigt sich ernsthaft zu der These, die Terroranschläge von 9/11 sollten als „Kunstwerk“ betrachtet werden. Ein Interview des Komponisten Stockhausen wird zitiert, in dem dieser den Anschlag als „das größtmögliche Kunstwerk, was es je gegeben hat“ bezeichnete.
  • Kunst oder Leben, das ist hier die Frage
    • Nachdem der Verfasser des von mir kommentierten Artikels aus dem Transatlantikblog seine Aussagen ergänzt und überarbeitet hat, habe ich ihm einen weiteren Kommentar gesandt: „Sie machen in Ihrem Artikel durchgängig einen Denkfehler – denselben wie seinerzeit Stockhausen. Sie verlieren einen entscheidenden kategorialen Unterschied aus dem Blick: den zwischen einem Kunstwerk als einem Produkt menschlicher Phantasie, das auf einer Zeichenebene, einer symbolischen Ebene, zum Ausdruck gebracht wird, und der tatsächlichen Umsetzung von Phantasien im wirklichen Leben.
  • Joseph Stiglitz: Das war’s, Neoliberalismus
    • In dichter, überzeugender Argumentation entzaubert Stiglitz, der vor allem durch sein Buch „Die Schatten der Globalisierung“ als Globalisierungskritiker bekannt wurde, den Neoliberalismus als ökonomische Irrlehre und legt deren verheerende Folgen für zentrale Wirtschaftsbereiche dar.
  • Absturzgefahr: Ikarus und der fragile Kapitalismus
    • Banken verlieren mal eben das Vertrauen in ihre gegenseitige Kreditwürdigkeit, hören einfach auf, sich untereinander Geld zu leihen, und schon droht das ganze System zu kollabieren. Die Brisanz der Lage, die Größenordnung des drohenden Problems, das sich da im Stillen aufgebaut hat, haben wir massiv unterschätzt. Einige wenige Bankpleiten und -schieflagen können eine fatale Kettenreaktion auslösen und das gesamte Finanzsystem zur Implosion führen. Und der entscheidende Transmissionsriemen ist das fehlende Vertrauen der Banker in ihre eigene Branche.
  • Nobelpreisträger Stiglitz: „Schlimmer als die Große Depression“
    • Die Aufgabe der Banken ist es, Kapital zu sammeln, es aufzuteilen und die Risiken zu beherrschen. Dafür werden sie belohnt. Mehr als 30 Prozent aller Unternehmensgewinne in den USA sind in die Finanzbranche geflossen. Aber sie haben ihre Aufgabe nicht erfüllt. Sie haben das Risiko nicht beherrscht, sie haben es erst geschaffen.
  • „Steinbrück, Du hast keine Wahl“: Schreiben von Bundesbank und BaFin an den Finanzminister
    • In einem Schreiben vom 29. September 2008 erläutern Bundesbank und die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) dem Finanzminister, warum es zu einer Rettung der Hypo Real Estate Bank keine Alternative gibt, und warum der Staat sich mit einer Milliardenbürgschaft daran beteiligen muss. Wer sich aus erster Hand einen Eindruck verschaffen möchte, an welchem Abgrund unser Finanzsystem stand, und warum Regierungen sich in dieser Situation ohnmächtig mit dem Rücken zur Wand vorfinden, dem sei die Lektüre des sechsseitigen, von Bundesbankpräsident Weber und BaFin-Chef Sanio unterzeichneten Schreibens wärmstens empfohlen.
  • Wie es zur Finanzkrise kam – die ultimative Erklärung
    • In einem fiktiven Interview eines Fernsehjournalisten mit einem Investmentbanker liefern zwei englische Komiker, John Bird und John Fortune, die ultimative Erklärung, wie es zur Finanzkrise kam. Herausragend! Satire vom Feinsten. British humor at its best!
  • „Die Welt ist aus den Fugen“: von der Macht der Finanzwirtschaft und der Ohnmacht der Politik
    • „The time is out of joint“ („die Zeit ist aus den Fugen“), so lautet das Resumé des Dänenprinzen Hamlet, nachdem der Geist seines ermordeten Vaters ihm die Augen geöffnet hat für die verkommenen Verhältnisse im mittelalterlichen Staate Dänemark. In der Welt von Shakespeares Tragödien sind es regelmäßig einzelne Personen, die mit ihren oft monströsen Charakterschwächen Unheil über Land und Leute bringen.
    • Das Monster, das unsere heutige Welt im Griff hat wie ein Riesenkrake, ist ein gesellschaftliches Subsystem, die Finanzwirtschaft. Mit gigantischen Kapitalbeträgen agiert sie an kaum regulierten Märkten und stellt zunehmend eine Parallelgesellschaft dar. Die Funktionsmechanismen dieses in den letzten Jahrzehnten einerseits immer komplexer und andererseits immer mächtiger gewordenen ökonomischen Teilsystems sowie die Wirkungen und Sekundärfolgen dieser Mechanismen sind kaum noch zu durchschauen. In seiner heutigen, globalisierten Form ist das Finanzmarktsystem praktisch unkontrollierbar geworden.
  • Rechtsextreme Mentalität
    • Grundlage rechtsextremer Mentalität ist ein komplexes psychisches Regulationsgeschehen, ein dynamisches Zusammenspiel von psychischen Motiven, Emotionen, Abwehrmechanismen, Werthaltungen und Einstellungen vor dem Hintergrund von Defiziten in der Persönlichkeitsentwicklung. Rechtsextreme Mentalität entsteht nicht aus Einstellungen und Werturteilen der Betroffenen als Ergebnis mehr oder weniger rationaler Überlegungen. Die Ansichten und Werturteile, die eine „rechtsextreme Gesinnung“ ausmachen, sind Folge tiefergehender psychischer Motive, und die vermeintlich rationalen Begründungen dieser Ansichten sind lediglich Rationalisierungen.
  • Breivik – schuldfähig oder schuldunfähig?
    • Es scheint mir eindeutig, dass bei Anders Behring Breivik eine schwere kombinierte Persönlichkeitsstörung mit narzisstischer, antisozialer und paranoider Akzentuierung vorliegt. Daher stellt sich die Frage, ob er das Unrechtmäßige seines Handelns erkennen und nach dieser Einsicht handeln konnte, oder ob seine verzerrte Realitätswahrnehmung im Rahmen seines ideologischen Denksystems diese Erkenntnis bzw. ein Handeln danach verhindert hat.
  • So ähnlich fing es auch 1968 an…
    • … damals aber noch ohne „social media“. Nicht auszudenken, was heute mit Hilfe von Facebook, Twitter etc. daraus werden kann!
    • Endlich, endlich wachen die jungen Leute wieder auf, wie wir vor 40 Jahren. Wir hatten damals die Nase voll von sozialer Ungerechtigkeit, von unverdienten Privilegien einiger weniger und von Traditionen, die der Unterdrückung unserer Lebensfreude dienten. In ein politisches System, das seine Wurzeln in der Kaiserzeit hatte, das in Spießigkeit erstarrt war und in dem allerorten noch faschistoide Dumpfbackigkeit angesiedelt war, wollten wir frischen Wind bringen. Das ist uns auch gelungen.
  • Von der scheinrationalen Volkswirtschaftslehre zum absurden Finanzkapitalismus
    • Die scheinbare Rationalität der vorherrschenden ökonomischen Theorien beruht auf irrationalen Hypothesen über den Menschen als Wirtschaftssubjekt (ähnlich wie im Fall des Marxismus, nur sind die Irrtümer andere). Falsche Grundannahmen haben zu einem bizarren Theoriegebäude und in der Folge zu einem absurden finanzgesteuerten Kapitalismus geführt. Diese sich mehr und mehr durchsetzende Erkenntnis erläutert der französische Ökonom André Orléan in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk.
  • Zapfenstreich, Mob und Zivilgesellschaft
    • Es war nicht das wesentliche Problem, was im Garten von Schloss Bellevue feierlich zelebriert wurde, sondern das, was draußen geschah. Da lärmte, aufgewiegelt durch einen Tsunami von Skandaljournalismus, der unser Land drei Monate lang überflutete, der moderne Mob.
    • Noch während der gesamten Dauer eines Strafverfahrens ist jeder Verdächtigte oder Beschuldigte als unschuldig zu behandeln. Falls es zu einer Verurteilung kommt, endet die Unschuldsvermutung erst mit deren Rechtskraft. Zudem hat nicht der Beschuldigte seine Unschuld, sondern die Strafverfolgungsbehörde seine Schuld zu beweisen. Das sind wohlerwogene Prinzipien unseres Rechtssystems, die vor ungerechtfertigter Verfolgung, falscher Verdächtigung, Verleumdung oder übler Nachrede – allesamt Straftatbestände – schützen sollen.
    • Der Mob sieht dies von Grund auf anders. Der hält sich mit derlei Feinheiten nicht auf, sondern hat – in seiner Empörungsbereitschaft von den Skandalisierungsmedien hinreichend angestachelt – sein Schuldurteil längst gefällt. Weder berücksichtigt er die genauen Umstände des Verhaltens des Verdächtigten noch dessen Motive. An entlastenden Gesichtspunkten ist er erst gar nicht interessiert. In der Hingabe an seine Gefühlswallungen ist ihm das Prinzip der Verhältnismäßigkeit völlig abhanden gekommen. Entrüstung, Häme und Schadenfreude erfüllen die medienseitig aufgewiegelten Wutbürger und führen zu einer hochgradigen Trübung ihres Erkenntnis- und Urteilsvermögens. Das gilt für die justitiablen Aspekte der Angelegenheit ebenso wie für die nicht-justitiablen, in der Sphäre von Stilfragen angesiedelten.
    • Unsere teilweise Jahrhunderte alten kulturellen Errungenschaften haben gestern versagt. Eine offizielle Verabschiedung eines Bundespräsidenten, mit welchem Zeremoniell auch immer, und mag man von dem Mann halten, was man will, durch massiven Einsatz lärmender Tröten nachhaltig zu stören, zeigt nicht nur eine überaus verrohte Intoleranz, Mitleidlosigkeit und menschliche Kälte, es ist auch eine Form von Gewalt.
  • Das Grass-Gedicht: Was wirklich gesagt wird
    • Die Debatte um das Grass-Gedicht ist vollkommen aus den Fugen geraten. Zahllose Kritiker erheben Vorwürfe, die jedes vernünftige Maß übersteigen. Als Leser steht man oft unter dem Eindruck, es ist nicht der Grass-Text, der kommentiert wird, sondern die durch das Gedicht angeregte ausschweifende Phantasie des Kommentators. Viele Kritiker lassen ihrem Ärger und Zorn über das provokante Werk des Nobelpreisträgers freien Lauf, ohne zu realisieren, wie sie damit einer nachträglichen Rechtfertigung Grass’scher Aussagen nur in die Hände spielen. Für nachdenkliche Zeitgenossen sind solcherart Kritiken, die ihre pauschale Verurteilung des Gedichts und seines Autors häufig noch mit der Keule des Antisemitismus-Vorwurfs anreichern, eine Zumutung.
    • Der Sache angemessen ist allein eine am realen Grass-Text mit seinen zahlreichen Thesen, Behauptungen und Argumenten und an den sonstigen Fakten orientierte differenzierte Interpretation und Beurteilung des Gedichts. Grundlage einer kritischen Analyse muss zunächst der Textgehalt sein – das, was in „Was gesagt werden muss“ tatsächlich gesagt wird. Um dem näher zu kommen und die mühsam verschachtelte (Prosa-) Gedichtform des Literaturnobelpreisträgers lesbarer zu machen, wird der Text hier in einem ersten Schritt zu einer erläuternden und bewertenden Kommentierung zunächst in Prosaform wiedergegeben.
  • „Paradigm Lost“: Ökonomen erkennen Holzweg – zu spät für Europa?
    • Die zunehmenden Warnungen, mit der derzeitigen Euro-Krisenstrategie sei man auf dem Holzweg, sind eingebettet in eine umfassendere Entwicklung mit äußerst weitreichenden Konsequenzen für die weltweite Wirtschafts- und Finanzpolitik: eine sich abzeichnende grundlegende Neuorientierung der Wirtschaftswissenschaften. Angesichts der immensen Bedeutung dieses beginnenden und derzeit aus dem akademischen Raum in den politischen Raum vordringenden Paradigmenwechsels der ökonomischen Wissenschaften wird der Denkraum sich diesem Thema demnächst vorrangig widmen.
    • Als Einführung in die Thematik hier ein kürzlicher Leitartikel von Stephan Kaufmann für die Frankfurter Rundschau, in dem unter dem Titel „Das gescheiterte Weltbild der Wirtschaft“ über eine viel beachtete internationale Konferenz des Institute for New Economic Thinking (INET) mit dem Thema “Paradigm Lost: Rethinking Economics and Politics“ berichtet wird, die im April in Berlin stattfand.
  • Wie halten Sie’s mit der Religion?
    • Gewiss macht es für christlich erzogene Menschen einen wesentlichen Unterschied, ob sie auch als Erwachsene noch gläubig sind, sich also mit den christlichen Glaubensinhalten identifizieren, oder nicht. Wer in der einen oder der anderen Richtung eine klare, eindeutige Position gefunden hat, sei es als gläubiger Christ oder als ungläubiger Atheist, hat diese Haltung vermutlich in sein geistiges und seelisches Leben integriert und ist in diesem Punkt mit sich im Reinen.
    • Wie steht es aber mit der großen Gruppe derjenigen, die nicht so recht wissen, was Sie von Gott und der Religion halten sollen? Die zahlreichen Zeitgenossen, die am christlichen Glauben zwar elementare Zweifel hegen, ihm aber niemals wirklich Lebewohl gesagt haben und die Frage nach ihrem Verhältnis zur Religion am liebsten unbeantwortet in der Schwebe belassen würden? Die vielen Schwankenden, die in ihrer Kindheit und Jugend ganz selbstverständlich in eine christliche Glaubenswelt hineingewachsen sind, sich im Laufe ihrer späteren Entwicklung aber ein rational geprägtes Weltbild angeeignet haben, in dem Jesus Christus und der liebe Gott nur noch schwer einen Platz finden.
    • Für viele Menschen ist es eine selbstverständliche, vertraute Gewohnheit, sich auch dann noch als Christen zu verstehen, wenn ihr Glaube mit ihrer erwachsenen, rational denkenden Persönlichkeit nicht mehr übereinstimmt. Falls auch Sie zu denjenigen gehören, die sich aus alter Gewohnheit als Christ betrachten, die Glaubensinhalte der christlichen Religion jedoch genau genommen nicht mehr für wahr halten, weil ihr Verstand ihnen recht eindeutig sagt, „ein Schmarren, das Ganze“: Würden Sie offen und ehrlich dazu stehen, sich selbst und anderen gegenüber?
  • „Kalter Friede“ in Europa – und die Welt im Griff der Finanzoligarchie
    • Die Bedrohungslage der Zeit des Kalten Krieges wird mit dem heutigen Gefahrenszenario verglichen. Das Klima des Unfriedens ist in Europa heute größer als während des Kalten Krieges. Heute geht die Bedrohung vom Kapitalismus aus. Wir leben in einem Wirtschaftssystem, das außerordentlich fragil geworden ist. Die gegenwärtige Form des finanzmarktdominierten Kapitalismus droht sich selbst zu zerlegen. Das Szenario eines globalen Finanzcrashs ist in gewissem Sinne brisanter als das des Kalten Krieges, in dem zwei verfeindete Weltmächte die Gefahr durch ein „Gleichgewicht des Schreckens“ im Zaum hielten. Heute erwächst die Gefahr aus der Funktionsweise des Systems selbst. Die in die Hände der heutigen Finanzoligarchie geratene globalisierte Wirtschaft ist zu einem Tanz auf dem Vulkan geworden.
  • „Es gibt keine Euro-Krise“ – Der unglaublich naive Euro-Kommentar des DIW-Präsidenten (2)
    • Unter dem Titel „Es liegt nicht am Euro!“ veröffentlichte die „Zeit“ am 9. April 2013 einen Kommentar des seit Februar 2013 amtierenden Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher (42), zur gegenwärtigen Krise Europas. Im ersten Teil meines Artikels „’Es gibt keine Euro-Krise‘ – Der unglaublich naive Euro-Kommentar des DIW-Präsidenten“ habe ich dessen beruflichen Werdegang und die Umstände seiner Wahl geschildert sowie einige frühere Äußerungen des Ökonomen kommentiert. In diesem Teil nehme ich zu der zentralen These seines „Zeit“ – Artikels Stellung.
  • Der Snowden-Coup – die ganze Tragweite in Kurzform
    • Edward Snowden hat die Welt über die Abgründe der bislang unvorstellbaren Ausspähungspraktiken der Geheimdienste aufgeklärt. Dafür gebührt ihm der alternative Nobelpreis. Fassungslos macht einen indes nicht nur das Orwellsche Szenario, in dem wir alle inzwischen leben, sondern auch die abgrundtiefe Dummheit der Geheimdienstorganisatoren, zu glauben, man könnte diese menschenrechtsverachtenden Praktiken angesichts von mehr als 850.000 (nach anderen Quellen 1,4 Millionen) Mitarbeitern von NSA und Co. geheimhalten, die Zugang zur Geheimhaltungsstufe Top Secret haben (nach amerikanischen Medienberichten ein Drittel davon Mitarbeiter von Privatunternehmen).
  • Moderne Lyrik
    • Ein Mensch, modern, kulturerpicht, denkt, „heut schreib ich mal ein Gedicht. Worüber, weiß ich noch nicht recht, doch jedenfalls wird es nicht schlecht.“
    • Denn nach den Plänen dieses Herrn steht eines fest: „ich schreib’s ‚modern‘! Klar, das verlangt Inspiration, doch keine Angst, ich mach‘ das schon.“

(Wird fortgesetzt)

ChatGPT, schreibe einen passenden Text für „Denkraum“

„Der Blog Denkraum auf WordPress.com bietet eine Plattform für tiefgründige Gedanken und Analysen. Hier finden Leser Artikel zu einer Vielzahl von Themen, die dazu anregen, über den Tellerrand hinauszublicken und neue Perspektiven zu entwickeln. Ob es um gesellschaftliche Themen, politische Analyse oder um persönliche Reflektionen geht, der Blog „Denkraum“ regt zum Nachdenken an und lädt seine Leser ein, Teil einer Community zu werden, die sich für Tiefe und Verständnis einsetzt.“

Viel besser hätte ich es auch nicht sagen können…

Außerdem:

Klimakatastrophe unabwendbar, allenfalls zu verlangsamen

Es ist die Inventur der Klimaforschung, und ihr Ergebnis fällt erschütternd aus: Alle sechs Jahre werten Forscherinnen und Forscher aus der ganzen Welt die wissenschaftlich relevanten Studien zum Klimawandel aus. In dem an diesem Montag veröffentlichten ersten Teil des sechsten Sachstandsberichts hat der Uno-Weltklimarat erneut eine Prognose für die Zukunft abgegeben – sie ist präziser als die vorherige und hält schlechte Nachrichten parat.

Demnach könnte der Anstieg der globalen Mitteltemperatur von 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau bereits früher erreicht werden als bisher angenommen. Mit einer hohen Wahrscheinlichkeit wird damit das im Pariser Klimaabkommen festgehaltene Erwärmungslimit bereits in den frühen Dreißigerjahren erreicht, heißt es in dem ersten Teilbericht. In dem Uno-Abkommen haben sich die Staaten verpflichtet, die weltweite Erwärmung gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter auf deutlich unter zwei Grad, »möglichst« sogar unter 1,5-Grad zu halten. Je nach Szenario werden die 1,5-Grad aber bis allerspätestens 2040 überschritten.

Allein für den ersten Teilbericht des aktuellen IPCC-Reports werteten die Forscher Tausende Klimastudien aus. Die Datenmenge ist so hoch, dass der Uno-Weltklimarat den Stand der Klimaforschung in drei Arbeitsgruppen abhandelt.

Im IPCC-Sonderbericht von 2018 hieß es noch, dass die 1,5 Grad zwischen 2030 und 2052 eintreten würden, wenn der Ausstoß von Treibhausgasen nicht drastisch reduziert werde – die Zeitspanne war also noch deutlich größer.

aus Spiegel Online, 09.08.2021

Sie wussten es alle – und führten uns sehenden Auges in die Katastrophe.

Wen wählen? Natürlich diejenigen, die nicht die Augen verschlossen, sondern die Zeichen seit langem erkannt und unermüdlich gewarnt haben. Auch wenn die Journaille sie jetzt wg. Petitessen madig zu machen versucht.

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„Die Küche brennt, aber den Rest des Hauses könnten wir durchaus noch retten – wenn wir endlich handeln. Gegen das, was bevorsteht, wenn wir nichts tun, ist die Pandemie, in all ihrer Schrecklichkeit, ein Hickser der Menschheitsgeschichte. (…)

Um es mit Uno-Generalsekretär António Guterres zu sagen: »Der Bericht muss die Totenglocke für Kohle und andere fossile Brennstoffe sein, bevor sie unseren Planeten zerstören.« Die derzeitige Bundesregierung möchte gern noch 17 weitere Jahre lang Kohle verfeuern lassen. Also über den Zeitpunkt hinaus, zu dem wir dem IPCC zufolge bereits 1,5 Grad Erderhitzung überschritten haben werden.

Die Küche brennt, der Flur ist voller Qualm, er erreicht bald die Kinderzimmer. Die Bundesregierung kippt noch ein bisschen Sprit in den Flur.

Die Eltern sind noch längst nicht wütend genug.“

Spiegel Online, 15.08.21

Katholische Kirche: Endlich ein Paukenschlag!

In einem Schreiben vom 21. Mai 2021 hat Reinhard Kardinal Marx, Erzbischof von München und Freising, Papst Franziskus gebeten, seinen Rücktritt vom Amt des Erzbischofs anzunehmen. Er wolle mit diesem Schritt Mitverantwortung übernehmen „für die Katastrophe des sexuellen Missbrauchs durch Amtsträger der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten“.

Seinem Eindruck nach sei die Kirche an einem „toten Punkt“. Die Krise sei auch „durch unser eigenes Versagen, durch unsere Schuld“ verursacht. „Durch Schweigen, Versäumnisse und zu starke Konzentration auf das Ansehen der Institution“ empfinde er persönliche Schuld und Mitverantwortung.

Es habe jedoch „auch institutionelles oder ’systemisches‘ Versagen“ gegeben. Manche in der Kirche wollten „gerade dieses Element der Mitverantwortung und damit auch Mitschuld der Institution nicht wahrhaben“ und stünden deshalb „jedem Reform- und Erneuerungsdialog im Zusammenhang mit der Missbrauchskrise ablehnend gegenüber“. Mit seinem Amtsverzicht wolle er „ein persönliches Zeichen“ setzen „für neue Anfänge, für einen neuen Aufbruch der Kirche“.

In einer persönlichen Erklärung anlässlich der vom Papst genehmigten Veröffentlichung seines Rücktrittsschreibens fügt der Kardinal hinzu, als Bischof trage er „eine institutionelle Verantwortung für das Handeln der Kirche insgesamt, auch für ihre institutionellen Probleme und ihr Versagen in der Vergangenheit“. Mit Sorge sehe er in den letzten Monaten eine Tendenz, „die systemischen Ursachen (…) auszuklammern und die Aufarbeitung auf eine Verbesserung der Verwaltung zu reduzieren“. Es gehe jedoch „mehr noch um die Frage nach einer erneuerten Gestalt der Kirche und eine neue Weise, heute den Glauben zu leben und zu verkünden“.

Nach dem unwürdigen Schauspiel, das der Kölner Kardinal Woelki seit Wochen der Öffentlichkeit darbietet, ist dieser mutige Schritt von Kardinal Marx, der weit über die katholische Kirche hinaus hohes Ansehen genießt, ein Paukenschlag! Mit seinem Rücktrittsgesuch lenkt der Kardinal die Aufmerksamkeit auf die kollektive Verantwortung der Kirche als Institution und somit auch der Amtsträger, die diese Institution in den vergangenen Jahrzehnten geführt haben, ohne die Katastrophe des Missbrauchs zu verhindern oder zumindest umfassend aufzuarbeiten. Marx‘ Rücktritt könnte das Potenzial haben, endlich die überfälligen, grundlegenden Reformen dieser unzeitgemäßen und hochproblematischen Institution Katholische Kirche anzustoßen.

Die ganze Krux dieser Kirche erkennt man indes an der von Marx verwendeten Grußformel seines Schreibens an „Seine Heiligkeit“: „Oboedientia et Pax und oremus pro invicem“, also „Gehorsam und Friede und beten wir für einander“, und dann abschließend noch einmal „Ihr gehorsamer…“

Wie in allen Institutionen, in denen Gehorsam oberstes Gebot ist, in diesem Fall Gehorsam gegenüber einem lebensfremden, bigotten Regelwerk, gestützt durch eine streng hierarchische Ordnung, blüht auch in der Katholischen Kirche unter der Decke der Ungehorsam, bricht sich das Unterdrückte Bahn. Das schadet dem Ansehen, daher wird es vertuscht. Man schaut weg und schweigt. Wenn er dem Heiligen Vater gegenüber auch die Form wahrt – dabei will Kardinal Marx immerhin nicht mehr mitmachen.

Parallelen 1919 – 2019

Die heutzutage allmorgendlich von zahlreichen Medien via Mail versandten „Morning Briefings“ sind in aller Regel allein für den jeweiligen Tag geschrieben. Zumeist präsentieren sie aktuelle politische Ereignisse in Kurzform und weisen auf eingehendere Beiträge dazu in der jeweiligen Publikation hin. „Morning Briefings“ sollen nicht zuletzt unterhalten, daher fügen die Autoren zumeist ihre eigenen möglichst originellen Kommentare hinzu.

Als ungekrönter König dieses Genres kann gewiss der ehemalige Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart gelten, der sein tägliches Morning Briefing mit seinen scharfsinnigen, eloquent formulierten Anmerkungen zu einer Form journalistischer Kleinkunst entwickelte und damit zur Popularisierung dieses Formats wesentlich beitrug. Mit einem allzu bissigen, vielerseits als niederträchtig empfundenen Kommentar zum damaligen SPD-Kanzlerkandidaten Schulz im Februar letzten Jahres vergaloppierte Steingart sich jedoch total und wurde von Handelsblatt-Verleger Holtzbrinck daraufhin unverzüglich gefeuert. Inzwischen hat Steingart seine tägliche Morgengabe noch um Podcasts erweitert und darum herum ein eigenes Medienunternehmen aufgebaut.

Eine ganz andere Variante dieses Genres konnte man am Sylvestertag im täglichen Morning Briefing des Spiegel („Zur Lage“) lesen. Der stellvertretende Chefredakteur des Blattes, Dirk Kurbjuweit, erteilte eine niveauvolle Geschichtsstunde, interessant und lehrreich über den Tag hinaus.

Zum bevorstehenden Jahreswechsel verglich er die gegenwärtige weltpolitische Lage mit dem Jahr 1919, dem ersten nach Ende des I. Weltkriegs, und einem, wie Kurbjuweit zurecht feststellt, „der großen, wichtigen Jahre der Weltgeschichte“. Der Autor erkennt verblüffende Parallelen zur heutigen weltpolitischen Situation und denkt darüber nach, welche Lehren aus den vor hundert Jahren erfolgten unheilvollen Weichenstellungen heute zu ziehen wären. Damals habe „die Welt ihre große Chance“ gehabt, sie aber nicht zu nutzen verstanden, mit weitreichenden, katastrophalen Folgen.

Ergänzt durch Verweise zu einschlägigen Hintergrundinformationen dokumentiert der „Denkraum“ wesentliche Teile der klugen, geschichtskundigen Gedanken des Spiegel-Journalisten.

„Eben wurde der Erste Weltkrieg beendet, die Weltordnung brach zusammen. Vier große Reiche gingen zugrunde, das Deutsche Kaiserreich, Österreich-Ungarn, das Zarenreich, das Osmanische Reich. Die alte Welt lag in Trümmern, und gleichzeitig keimten gewaltige Hoffnungen.

Die russischen Bolschewisten hatten ein neues Zauberwort in die Welt gerufen: Selbstbestimmungsrecht. Die Völker sollten selbst entscheiden, in was für einem Staat sie leben wollten. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson machte es sich zu eigen und wurde zum Superstar der damaligen Politik, ähnlich wie Barack Obama zu Beginn seiner Amtszeit. Neue Staaten entstanden, und viele wurden Demokratien.

Auch Emanzipation war ein großes Thema. Die Kolonien von Frankreich und Großbritannien hatten Soldaten nach Europa geschickt, hatten einen hohen Blutzoll gezahlt, nun wollten sie mit Freiheiten belohnt werden. Schwarze in den USA drängten auf Gleichberechtigung. Weil die Männer im Krieg waren, mussten die Frauen daheim andere Rollen übernehmen. Auch die feministischen Anführerinnen drängten mit neuem Selbstbewusstsein auf gleiche Rechte.

All diese Hoffnungen richteten sich auf Paris. Dort begann am 18. Januar 1919 die große Friedenskonferenz. Als Wilson anreiste, strömten die Massen auf die Straßen und jubelten. Wilson wollte einen Völkerbund etablieren, einen neuen Mechanismus für einen ewigen Frieden. Die Freiheits- und Emanzipationsbewegungen schickten Delegationen. Die Welt hatte Anfang 1919 ihre ganz große Chance.

In einem Buch des schwedischen Schriftstellers Per Olov Enquist las ich vor vielen Jahren einen Satz, den ich nicht vergessen habe, an den ich manchmal denken muss, bei privaten, aber auch bei politischen Ereignissen. Er lautet: „Wenn alles so gut angefangen hatte, wie konnte es so schlimm enden.“ Das ist auch ein Satz für das Jahr 1919 und die Zeit danach.

Das erste wichtige Ergebnis der Pariser Konferenz war der Versailler Vertrag, der am 28. Juni 1919 zähneknirschend von der deutschen Delegation unterzeichnet wurde. Es waren Bedingungen, die der blutjungen deutschen Demokratie das Leben schwer machten, wirtschaftlich, aber vor allem psychologisch – viele Deutsche fühlten sich gegängelt und gedemütigt. Auch von Versailles führte ein Weg zu Hitler, aber natürlich nicht der einzige.

Der amerikanische Kongress ratifizierte den Vertrag nicht, die USA traten dem Völkerbund nicht bei. Es folgte keine Phase der Isolation, aber doch der Zurückhaltung. Europa blieb weitgehend sich selbst überlassen. Bis Ende der Dreißigerjahre hatten sich viele Demokratien in autoritäre Staaten verwandelt. Auch von der Emanzipation blieb nicht viel übrig, nicht für die Kolonien, nicht für die schwarzen Amerikaner.

Die Hoffnungen der Araber auf einen großen eigenen Staat wurden ebenfalls enttäuscht. Briten und Franzosen teilten den Nahen Osten in Einflusszonen auf, mit Folgen bis heute. (…)

Das alles wussten die Menschen zu Silvester 1918/19 nicht. Sie betrauerten ihre Toten, litten Hunger, kämpften gegen die Spanische Grippe, dachten vielleicht, dass es nur besser werden kann. Die Deutschen hofften auf einen „Wilson-Frieden“, wie sie damals sagten, einen gnädigen Frieden, aber wie fast alle Heilsbringer in der Politik war Wilson eine Enttäuschung (Obama in anderen Verhältnissen ebenfalls).

Kurbjuweit ist überzeugt, dass wir „hundert Jahre später noch immer in einer Welt (leben)“, die von den damals erfolgten weltpolitischen Weichenstellungen, „von Paris und den anderen Konferenzen nach dem Ersten Weltkrieg“, stark geprägt ist. Es gehe uns zwar heute weit besser als den Menschen damals, aber vielleicht hätten wir gerade deshalb heute weniger Hoffnung, dass es besser wird, sondern eher Angst, es werde schlechter kommen.

Aus den Auswirkungen des Jahres 1919 und der Zeit danach leitet der Spiegel-Journalist auch seine „politischen Wünsche für das neue Jahr (…) her“ – Empfehlungen, in denen Kurbjuweit aus der Geschichte Lehren für die heutige Weltpolitik abzuleiten versucht. Die darin zum Ausdruck kommenden politischen Denkmuster sind zum Teil gewiss diskussionsbedürftig, aber immerhin diskussionswürdig (s. Kommentare).

„Erstens: Junge Demokratien brauchen Hilfe, brauchen Anleitung, man kann sie nicht sich selbst überlassen. In Europa ist das nicht mehr Sache der US-Amerikaner, sondern der Europäischen Union. Sie nimmt diese Aufgabe gegenüber Polen oder Ungarn an, aber nicht entschlossen genug, zum Teil aus parteipolitischen Interessen. Das muss sich ändern.

Zweitens: Der Flirt mit autoritären Gedanken ist gefährlich. Man sollte immer bedenken: Ein autoritäres System hat nach den Erfahrungen der Geschichte eine weit höhere Affinität zum Krieg, gerade zum großen Krieg, als eine liberale Demokratie.

Drittens: Amerika wird gebraucht. Es gab vielleicht schon 1919 die Chance, einen großen Westen zu etablieren, mit Deutschland, mit den anderen jungen Demokratien, unter amerikanischer Führung. Die Geschichte wäre anders verlaufen. In unseren Zeiten ist der Westen stark von autoritären Regimen herausgefordert, von China, von Russland. Der Westen braucht Geschlossenheit und ein starkes, an Europa interessiertes Amerika, um bestehen zu können.

„Wenn diese Wünsche erfüllt würden“, so schließt Kurbjuweit, anknüpfend an dem zitierten Gedanken des Schriftstellers Per Olov Enquist, seine Überlegungen, dann „müsste das, was gut angefangen hat, nicht schlimm enden“.

Gabor Steingart: „Die überforderte Gesellschaft“

Ein „Impulsreferat“ zum Thema „Die verunsicherte Gesellschaft“ hielt Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart beim Deutschen Verbrauchertag am 19. Juni 2017 in Berlin  – nach der Rede der Bundeskanzlerin und vor der Rede von Martin Schulz.

Dieser inhaltlich höchst bemerkenswerte und rhetorisch brillante Vortrag wird hier nicht nur verlinkt, sondern in weiten Teilen wiedergegeben, denn Denkraum-Leser sind erfahrungsgemäß eher geneigt, einen Blogbeitrag zu lesen als einen Link anzuklicken.  – Hervorhebungen von mir.

(…) Die verunsicherte Gesellschaft“, lautet mein Thema und ich werde damit beginnen, dass ich die Gesellschaft vor diesem – von mir selbst gewählten – Titel in Schutz nehme. Die Bevölkerung ist nicht verunsichert. Sie ist lediglich realistisch. Die Menschen schätzen die Lage richtig ein, indem sie feststellen: Wir alle sind überfordert. Wir als Individuum, aber auch der Staat, die Wirtschaft und die Parteien leiden an Überforderungssymptomen, selbst wenn die Kanzlerin das erst in ihren Memoiren zugeben kann.

Wir leben im Zeitalter von Hyperkomplexität, Hochgeschwindigkeit, ökonomischer Besinnungslosigkeit und erleben eine schier endlos scheinende Folge von Kontrollverlusten. Erst verloren die Banken die Kontrolle über ihre Bilanzen, dann die Politiker die Kontrolle über unsere Außengrenzen. Der US-Präsident hat schon mit der Selbstkontrolle größte Schwierigkeiten. Ihm können wir – das unterscheidet ihn von Angela Merkel – bei der Überforderung regelrecht zuschauen.

Das Zeitalter der Überforderung erkennen wir schon daran, dass die nähere Zukunft sich jeder Vorhersehbarkeit entzieht. Wer das bestreitet ist entweder Narr oder Hochstapler. Wir wissen nicht, ob die Höchststände an den Weltbörsen die Anleger reich machen oder die Vorboten einer neuen Finanzkrise und damit ihrer Verarmung sind. Wir wissen nicht, ob uns angesichts der vielen Brandherde weltweit ein neuer Krieg ins Haus steht.

Schwer zu ermessen, ob die Welle des Populismus ihren Höhepunkt erreicht hat, oder ob wir uns das nur wünschen. Welche Auswirkungen die sich selbst beschleunigende Digitalisierung auf unser Leben als Gesellschaft hat, wissen nicht mal die Akteure im Silicon Valley, weshalb sie beschlossen haben, darüber gar nicht erst nachzudenken. Fest steht derzeit nur, was Thomas Friedman in seinem neuen Buch „Thank you for being late“ schreibt: Die Innovationsgeschwindigkeit übertrifft unsere menschliche Adaptionsgeschwindigkeit.

Ein neuer Machbarkeitswahn hat sich als Geschäftsmodell durchgesetzt. Kann sein, dass das alles zu einem bequemeren und längeren Leben führt; was wir hoffen. Aber es kann genauso sein, dass alles wie ein Fluch über uns kommt und die neue Titanic aussieht wie ein iPhone. Vielleicht stellen wir eines Tages entsetzt fest: Hurra wir saufen ab – in einem Meer aus Daten, verkaufter Privatheit und flüchtiger Kommunikation in der alle senden und keiner mehr zuhört. Jeder ist sein eigener Programmdirektor, sagen die Propheten der neuen Zeit. Aber vielleicht ist jeder auch nur sein eigener Depp.

Diese Fragen aufzuwerfen heißt noch nicht sie zu beantworten. Es geht heute Morgen nicht darum, der Idiotie derer, die immer genau wissen was kommt und wo es langgeht, eine eigene Idiotie der Verzagtheit entgegenzusetzen. Zukunft ist – und nur darum geht es an dieser Stelle – kein Wort mehr, das von alleine Besserung verspricht. Wir werden etwas dafür tun müssen, dass das wieder so wird.

Das Verlässliche unserer Zeit besteht derzeit darin, dass es keine Verlässlichkeit mehr gibt. In immer kürzerer Abfolge werden wir Zeuge dessen, was die Amerikaner „Freak Event“ nennen; das Verrückte wird normal und die Normalität spielt verrückt. Glück ist, wenn man zur richtigen Zeit auf dem falschen Weihnachtsmarkt ist.

Die Freak Events – von Lehman-Pleite über Brexit bis hin zur Bombe am Ende eines Popkonzerts – haben etwas Systemisches an sich. Das lässt sich schwer leugnen. Der Terrorismus ist kein Zufall, sondern ein gezielter Angriff auf unsere Vorstellung von Liberalität und Freiheit. Das Finanzsystem dient keineswegs automatisch der Realwirtschaft, sondern bedroht sie oft. Politik ist – im Weißen Haus erleben wir das derzeit täglich – nicht mehr automatisch das Kümmern um die Angelegenheiten der Res publica, sondern zuweilen eben nur die Verfolgung des Eigeninteresses mit den Mitteln des Staates.

Auf unsere altwürdigen politischen Parteien ist in dieser Lage kein Verlass. Politik beklagt die Klimaerwärmung und heizt sie weiter an. Man schwört überall im Westen auf die Prinzipien von Sparsamkeit und seriöser Finanzplanung und feiert eine Orgie des Kredits. Seit dem Zusammenbruch des Bankhauses Lehman Brothers hat sich die Verschuldung der westlichen Welt um mehr als 50 Prozent gesteigert.

Unsere Spitzenpolitiker, auch das ist eine Beobachtung, die kein Vertrauen einflößt, haben vielfach das Zuhören verlernt, eine professionelle Deformation ist zu besichtigen; drei Münder, kein Ohr. Wenn die Kanzlerin oder ihr Gegenkandidat mich fragen würden, was ich Ihnen raten würde, dann vor allem dieses: Stellt nicht immer neue Sprecher ein, sondern lieber einen professionellen Zuhörer. Setzt dem Regierungssprecher einen Regierungszuhörer an die Seite. Das löst nicht alle Probleme, aber es hilft zumindest sie zu verstehen.

Wir sollten es der Gesellschaft jedenfalls nicht verübeln, dass sie merkt, dass die Welt bebt und dabei ist, aus den Fugen zu geraten. Oder um es mit Kurt Tucholsky zu sagen: „Das Volk versteht das meiste falsch, aber es fühlt das meiste richtig.“

Vielleicht ist diese Gesellschaft gar nicht verunsichert, sondern nur wachsam und sauer darüber, dass die anderen, die für ihre Wachsamkeit bezahlt werden – die Parteien, die Finanzaufsicht, die Lebensmittelkontrolleure und jene Menschen, die sich beim Bundesamt für Kraftfahrzeuge mit Dieselmotoren und ihren Schadstoffen befassen – so gar nichts merken. Die Mehrheit der Menschen sehnt sich nicht nach mehr Regulierung, aber nach einer die funktioniert. Sie wollen Fortschritt, aber Fortschritt und Wohlergehen für viele. Sie wollen Manager, die mehr im Kopf haben als die Planzahl fürs nächste Quartal und sie sehnen sich nach Politikern, die das meinen, was sie sagen und das tun, was sie versprechen. Und sie wollen Medien, die sich mit ihren Lesern gemein machen und nicht mit den Mächtigen.

Das klingt verdammt links und auch ein bisschen verrückt, wobei ich denen – die das so sehen – den Literaturnobelpreisträger George Bernard Shaw entgegenhalte: „Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute. Seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben.“

Womit ich bei der Zuversicht angelangt bin, die für mich zwingend aus dem bisher Gesagten folgt. Denn: Die angeblich so verunsicherte Gesellschaft ist im besten Sinne des Wortes eine selbstbewusste Gesellschaft. Wir haben es mit einer Gesellschaft zu tun, die sich ihrer Lage selbst bewusst ist. Und auch wenn die Lage kompliziert und zuweilen unkomfortabel ist, so ist doch das Bewusstsein genau dieser unkomfortablen Komplexität der erste Schritt zur Überwindung dieser Zustände.

Zwischenfrage an uns selbst: Warum schaffen es die deutschen Firmen eigentlich in dieser unfriedlichen, fragil gewordenen Welt im ersten Quartal schon wieder Rekordgewinne und Rekordbeschäftigung zu erzeugen?

Antwort: Weil unsere Firmen Kulturen hervorgebracht haben, die mit der Fragilität und dem Unfrieden auf der Welt gelernt haben zu leben. Wir denken, die bei Daimler produzieren Autos, die bei SAP Software und bei Bayer Aspirin. Aber in Wahrheit sind das alles Organismen, die Risiken sehen, verstehen und ausbalancieren. Läuft Russland schlecht, wird der Einsatz in China erhöht. Schwächelt Europa, steigt das Investment in den USA. Und umgekehrt. Das Sehen und Verstehen von Risiko ist die Voraussetzung zum Erkennen und Nutzen von Chancen.

Die Bevölkerung verhält sich sehr ähnlich wie die Vorstände der Dax-30-Konzerne. Sie riecht, fühlt und spürt die tektonischen Verschiebungen auf der Welt, sie braucht keinen Geheimdienst um sich ihr Urteil über Trump, Putin und Erdogan zu bilden; sie benötigt keine volkswirtschaftliche Abteilung, um die Risiken der Nullzinspolitik zu verstehen. Sie weiß wie Risikoausgleich funktioniert, ohne je ein Seminar über Risk-Management besucht zu haben.

Je hochtouriger Trump dreht, desto vorsichtiger und bedachtsamer wird gewählt. So kam es jetzt in Frankreich zum Risikoausgleich: Der Wahlsieg Macrons und die Verrücktheiten, die uns täglich aus Washington erreichen, sind die zwei Seiten der einen Medaille. Auch die europakritischen Bewegungen haben nach dem Brexit-Votum ihre Tonalität verändert. Und da wo sie das nicht taten, wurden sie vom Wähler abgestraft. Die Front National erreicht in der neuen französischen Nationalversammlung nicht einmal mehr den Fraktionsstatus.

Eine Prognose sei gewagt: Dieses Ausbalancieren der globalen Risiken durch die Bevölkerung wird auch die Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl dominieren. Bei ruhigem Seegang gelten andere Kriterien: Wieviel Vision und Erneuerungskraft besitzt ein Kanzlerkandidat, würde dann gefragt. Doch bei orkanartigen Böen und globaler Tsunami-Gefahr suchen die Wähler jemanden, der das Steuerrad fest in der Hand hält und die Strudel der internationalen Politik kennt. Ein Neuling auf der bundespolitischen Bühne, noch dazu einer ohne Regierungserfahrung, hat in dieser Situation keine Chance.

Gleichzeitig entzieht die Gesellschaft den politischen Parteien auch weiterhin politische Energie. Aber diese Energie geht nicht einfach verloren. Es kommt nicht zur Entpolitisierung. Die Bevölkerung setzt lediglich das Vertrauen, dass bei CDU/CSU und SPD verloren gegangen ist, an anderer Stelle wieder ein, zum Beispiel bei den Nichtregierungsorganisationen, auch und insbesondere bei denen, die sich heute so leidenschaftlich und so professionell mit Verbraucherschutz beschäftigen. Es gibt also keinen Rückzug aus dem politischen, nur eine Neudefinition dessen, was die Bevölkerung unter politisch versteht.

Die Menschen sind eben nicht planlos verunsichert, sondern sind aus guten Gründen besorgt und verärgert – über die Raffzahnmethoden mancher Banken, über die noch immer große Intransparenz der Lebensmittelkonzerne, über die Riesenlücke, die bei der Deutschen Bahn AG zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft, über den Schindluder, den die Internetfirmen mit ihren Daten und Algorithmen treiben und über die Unverfrorenheit mit der manche private Krankenversicherer die Beiträge erhöhen.

In diesem Sinne ist die verunsicherte Gesellschaft eine mündige Gesellschaft, die ihre Interessen versteht und wahrnimmt. Unzufriedenheit ist so gesehen kein zu beklagender Endzustand, sondern Ausgangspunkt der Erneuerung. Schauen Sie mit Selbstbewusstsein und Stolz auf diese basisdemokratische Erhebung der Verbraucher, deren Teil Sie sind. Ihre Mission ist es, aus Betroffenen Beteiligte zu machen, denjenigen Stimme und Macht zu geben, die in der Wirtschaft allzu oft keine Stimme und erst recht keine Macht besitzen.

Weiter so, möchte ich daher den deutschen Verbraucherschützern zurufen. Oder um es mit Oscar Wilde zu sagen: „Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut wird, dann war’s noch nicht das Ende.“

Außerdem:
  • “Die Welt ist aus den Fugen”: Von der Macht der Finanzwirtschaft und der Ohnmacht der Politik – Denkraum, 27.08.2011
    • In einem brillanten politischen Essay, der die hoffnungslos verfahrenen Verhältnisse unserer heutigen Welt treffend beschreibt, diagnostiziert Tissy Bruns, damalige Chefkorrespondentin des Berliner Tagesspiegel und im Februar 2013 61jährig leider viel zu früh verstorben, eine Tragödie Shakespeareschen Ausmaßes: „Die Welt ist aus den Fugen – Im Krisensommer 2011 offenbart sich der desaströse Zustand unserer Demokratien. Eine übermächtige Finanzwirtschaft führt Politik und Eliten vor.”

Von der „blutigen Mathematik, die über uns herrscht“ (Albert Camus)

Einer der schönsten Texte von Kurt Tucholsky ist der über die „fünfte Jahreszeit“:

„Wenn der Sommer vorbei ist und die Ernte in die Scheuern gebracht ist, wenn sich die Natur niederlegt, wie ein ganz altes Pferd, das sich im Stall hinlegt, so müde ist es – wenn der späte Nachsommer im Verklingen ist und der frühe Herbst noch nicht angefangen hat –: dann ist die fünfte Jahreszeit.

Nun ruht es. Die Natur hält den Atem an; an andern Tagen atmet sie unmerklich aus leise wogender Brust. Nun ist alles vorüber: geboren ist, gereift ist, gewachsen ist, gelaicht ist, geerntet ist – nun ist es vorüber. Nun sind da noch die Blätter und die Gräser und die Sträucher, aber im Augenblick dient das zu gar nichts; wenn überhaupt in der Natur ein Zweck verborgen ist: im Augenblick steht das Räderwerk still. Es ruht. Mücken spielen im schwarz-goldenen Licht, im Licht sind wirklich schwarze Töne, tiefes Altgold liegt unter den Buchen, Pflaumenblau auf den Höhen … kein Blatt bewegt sich, es ist ganz still. Blank sind die Farben, der See liegt wie gemalt, es ist ganz still. Boot, das flußab gleitet, Aufgespartes wird dahingegeben – es ruht. So vier, so acht Tage – und dann geht etwas vor.

Eines Morgens riechst du den Herbst. Es ist noch nicht kalt; es ist nicht windig; es hat sich eigentlich gar nichts geändert – und doch alles. Es geht wie ein Knack durch die Luft – es ist etwas geschehen: so lange hat sich der Kubus noch gehalten, er hat geschwankt…, na … na…, und nun ist er auf die andere Seite gefallen. Noch ist alles wie gestern: die Blätter, die Bäume, die Sträucher… aber nun ist alles anders. Das Licht ist hell, Spinnenfäden schwimmen durch die Luft, alles hat sich einen Ruck gegeben, dahin der Zauber, der Bann ist gebrochen – nun geht es in einen klaren Herbst. Wie viele hast du? Dies ist einer davon. Das Wunder hat vielleicht vier Tage gedauert oder fünf, und du hast gewünscht, es solle nie, nie aufhören.

Es ist die Zeit, in der ältere Herren sehr sentimental werden – es ist nicht der Johannistrieb, es ist etwas andres. Es ist: optimistische Todesahnung, eine fröhliche Erkenntnis des Endes.

Spätsommer, Frühherbst und das, was zwischen ihnen beiden liegt. Eine ganz kurze Spanne Zeit im Jahre. Es ist die fünfte und schönste Jahreszeit.“

Etwas in dieser Art gibt es auch im Menschenleben: aus dem gewöhnlichen Fluss der Zeit herausgehobene Übergänge von einem Lebensalter zum nächsten. Die Psychologen, die oft das sagen, was wir alle längst wissen, nur in Worten, die wir nicht verstehen, sprechen von „Initiationserlebnissen“ und „Schwellensituationen“: Das Kleinkind, das mit einem Mal stehen und die ersten Schritte laufen kann; das Schulkind, das eine erste Ahnung von dem auch ihm irgendwann bevorstehenden Leben in der Welt der Erwachsenen bekommt; das beginnende Aufblühen erotischer Liebesgefühle; dann, meist irgendwann im dritten Lebensjahrzehnt, das Gewahrwerden, für sich und sein eigenes Leben selbst verantwortlich zu sein, was gleichzeitig bedeutet, jetzt zur Erwachsenenwelt zu gehören und deren Regeln und Bedingungen anerkennen zu müssen.

In diesem Bewusstsein lebt man nun drei, vielleicht vier Jahrzehnte, möglicherweise mal von einer „midlife crisis“ heimgesucht, bis der berufliche Ruhestand einen gravierenden Einschnitt im täglichen Lebensablauf mit sich bringt. Aber eben zumeist nur dies: der Alltag ist neu zu organisieren, die Zeit mit neuen Aktivitäten zu füllen. Indes, mit dem Gefühl des Altwerdens hat das zumeist wenig zu tun. Viele Menschen gehen heutzutage mit noch gut erhaltener Lebenskraft in den Ruhestand.

Dann aber, vielleicht mit Ende sechzig oder Anfang der Siebziger, empfindest Du das Altwerden plötzlich auch körperlich. Mit einem Mal spürst Du den Lastcharakter des Lebens in den Knochen. Deine physischen Kräfte lassen nach, vielleicht auch die geistigen. Namen, die Dir bestens vertraut sind, fallen Dir plötzlich nicht mehr ein. Sie liegen Dir auf der Zunge, aber Dein Geist will sie partout nicht freigeben.

Und plötzlich ist die Frage da, laut und unüberhörbar: Wie viele Frühlinge hast Du noch? Wie viele Spätsommer wirst Du noch erleben? Zwanzig, wenn Du Glück hast? Eine lange Zeit – aber so lang nun auch wieder nicht. Vielleicht sind es aber auch nur zehn, oder fünf. Und Du wirst gebrechlicher werden. Anders als bei Tucholsky bist Du in diesem Augenblick keineswegs sentimental, Dir wird unbehaglich. Du weißt nun nicht nur um Deine Vergänglichkeit, mit einem Mal spürst Du sie. Und anders als bei Tucholsky ist diese so deutlich empfundene „Erkenntnis des Endes“ keineswegs fröhlich, die Todesahnung mitnichten optimistisch.

Das Bewusstsein, das sich Dir nun aufdrängt und nicht wieder vergehen will, hat Albert Camus, der Philosoph des Absurden und der Revolte dagegen, bewundernswert nüchtern und klarsichtig beschrieben (zitiert nach Rainer Thurnheer, „Albert Camus“, in: Thurnheer u.a., „Die Philosophie des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts“, Band 3, Beck Verlag, S. 304):

„Einer blutigen Mathematik gemäß, die über uns herrscht, müssen wir erkennen, dass unser Leben jederzeit und unwiederbringlich zu Ende sein kann. Dem Aufbegehren des Fleisches steht der Tod gegenüber, angesichts dessen sich klar sehende Seelen, die keinen Trost brauchen, keiner Täuschung hingeben. Er ist eine zuschlagende Tür. Ich sage nicht: eine Schwelle, die es zu überschreiten gilt – er ist ein furchtbares und schmutziges Abenteuer, mit dem die Herrlichkeit dieser Welt für immer vorbei ist.“

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Yanis Varoufakis über die Fragmentierung Europas und seine Initiative »DiEM25«

Am 9. Februar stellt Yanis Varoufakis, Ökonom und ehemaliger griechischer Finanzminister, in der Berliner Volksbühne seine neue Initiative »DiEM25« vor. Er will damit eine Bewegung aus der Taufe heben, die einen wesentlichen Beitrag zur Neuorientierung und Reorganisation der Linken in Europa leisten soll.


Die Gründungsversammlung des „Democracy in Europe Movement 2015“ (DiEM25) wird am Dienstag, den 9. Februar 2016 ab 20:30 Uhr per Livestream im Internet übertragen

Die endgültige Fassung des Gründungsmanifests findet man hier.

Die Webseite von DiEM25: http://diem25.org/de/


Vor einigen Tagen gab Varoufakis dem „neuen deutschland“ ein Interview, in dem er seine Motive und Ziele darlegte. Die wichtigsten Aussagen fasst der Denkraum zusammen.

„Wir leben (…) in einer Zeit wie in den 1920ern, in der der Kapitalismus in die Krise geriet. Wie 1929 der Zusammenbruch des Goldstandards hat die Eurokrise einen schrecklichen und Furcht einflößenden Prozess der Desintegration in Europa eingeleitet. Die Menschen werden gegeneinander aufgewiegelt. Dies führt zu Nationalismus und Fanatismus. Die Aufgabe der Linken war es schon immer, Narrative zu schaffen, die die Mittelschicht davor schützten, eine Geisel der Faschisten und Nazis zu werden. Wer zu uns kommt, geht nicht zu Pegida.

Es gibt eine geradezu boshafte Ungleichverteilung von Einkommen schon seit über 20 Jahren. Diese Ungleichheit begünstigt Rassismus. Gegenüber den Griechen, gegenüber Flüchtlingen.

(Zu den Veranstaltungen nach meinem Rücktritt als Finanzminister kamen) ganz normale Menschen aus der Mittelschicht, die noch nie zuvor auf einem Polittreffen waren. Sie kamen auch nicht, um den Star Varoufakis zu sehen oder Solidarität mit der griechischen Sache zu zeigen. Sie kamen, weil sie Angst um ihren eigenen Lebensstandard haben. Um die lokalen Krankenhäuser, die Schulen, um ihre Renten und die Aussichten ihrer Kinder. Sie realisierten, dass Europa kurz davor ist zu scheitern.

Derzeit fußt die Europäische Union auf Regeln, die keiner kennt, die irgendwo in Protokollen versteckt sind. Ein verfassungsgebender Prozess, in dem alle gewählt und repräsentiert sind, soll damit Schluss machen. Die konstituierende Versammlung wird wie 2011 auf dem Syntagma-Platz in Athen sein (…). Es werden alle aus den verschiedenen Teilen der EU zusammenkommen und gemeinsam entscheiden, wie sie in der Union zusammenleben wollen. Ist das utopisch? Absolut.

Mit Lafontaine und Jean-Luc Mélenchon habe ich (…) meine Differenzen. Aber ich möchte mich lieber auf die Gemeinsamkeiten konzentrieren. Denn der schlimmste Fluch der Linken ist das Sektierertum und die Spaltungen.

Für mich und meine Genossen ist es wichtig, in Berlin ein Zeichen zu setzen. Die Volksbühne ist Teil der Kultur der deutschen Arbeiterklasse. Seit Jahrzehnten schwingt in dem Theater eine Energie voller progressiver politischer Ideen mit.

»DiEM25« wird (…) nichts von oben sein. Es wird keine Top-Down-Organisation sein. Es wird weder ein Politbüro noch ein Zentralkomitee geben. Wir werden sehr stark das Internet nutzen und entwickeln derzeit eine App, die es uns ermöglichen soll, lokal, regional, national und europaweit zu netzwerken.

Jede Bewegung hat ihre Grenzen. Auch »DiEM25« wird irgendwann an seine Grenzen kommen. Vielleicht ist es auch eine Blase, die gleich am 10. Februar wieder platzt, und am 11. Februar entsteht eine neue Bewegung. Wenn das nicht funktioniert, versuchen wir etwas Anderes.“

Außerdem:

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Bernie Sanders for President!

Bernie Sanders, Gegenkandidat von Hillary Clinton im amerikanischen Vorwahlkampf der Demokratischen Partei um die Präsidentschaftskandidatur, wurden noch vor kurzem keinerlei Chancen eingeräumt, Hillary zu besiegen. Inzwischen liegt der 74-jährige Senator des Bundesstaats Vermont, der sich selbst als Demokratischen Sozialisten bezeichnet, in Umfragen nahezu gleichauf, in manchen Bundesstaaten sogar vorn.

Während das Establishment inkl. Wall Street hinter Hillary steht, ist es Bernie Sanders gelungen, eine Graswurzelbewegung vorwiegend junger Menschen zu initiieren, die seinen Wahlkampf begeistert unterstützen, nicht zuletzt mit zahllosen Kleinspenden. Ein ähnlicher Verlauf wie vor 8 Jahren im Rennen zwischen Barack Obama und der damals ebenfalls zunächst favorisierten Hillary Clinton zeichnet sich ab.

bernie-sanders

In der Öffentlichkeit werden immer wieder die gleichen scheinbar schlagenden Argumente gegen Bernie Sanders als Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei laut:

  • „Amerika würde niemals einen Sozialisten zum Präsidenten wählen.“
  • „Er würde den Kandidaten der Republikaner, sei es Donald Trump oder Ted Cruz, niemals schlagen können.“
  • „Er ist zu alt.“
  • „Er könnte keine seiner Ideen verwirklichen, weil der amerikanische Kongress sie zurückweisen würde.“

Nun hat Robert Reich, Politikprofessor an der Universität Berkeley (Kalifornien), Arbeitsminister unter Bill Clinton und Bestsellerautor, diese Argumente in einem Blogbeitrag („Six Responses to Bernie Skeptics“) kurz, aber treffend widerlegt.

Six Responses to Bernie Skeptics

1. “He’d never beat Trump or Cruz in a general election.”

Wrong. According to the latest polls, Bernie is the strongest Democratic candidate in the general election, defeating both Donald Trump and Ted Cruz in hypothetical matchups. (The latest Real Clear Politics averages of all polls shows Bernie beating Trump by a larger margin than Hillary beats Trump, and Bernie beating Cruz while Hillary loses to Cruz.)

2. “He couldn’t get any of his ideas implemented because Congress would reject them.”

If both house of Congress remain in Republican hands, no Democrat will be able to get much legislation through Congress, and will have to rely instead on executive orders and regulations. But there’s a higher likelihood of kicking Republicans out if Bernie’s “political revolution” continues to surge around America, bringing with it millions of young people and other voters, and keeping them politically engaged.

3. “America would never elect a socialist.”

P-l-e-a-s-e. America’s most successful and beloved government programs are social insurance – Social Security and Medicare. A highway is a shared social expenditure, as is the military and public parks and schools. The problem is we now have excessive socialism for the rich (bailouts of Wall Street, subsidies for Big Ag and Big Pharma, monopolization by cable companies and giant health insurers, giant tax-deductible CEO pay packages) – all of which Bernie wants to end or prevent.

4. “His single-payer healthcare proposal would cost so much it would require raising taxes on the middle class.”

This is a duplicitous argument. Studies show that a single-payer system would be far cheaper than our current system, which relies on private for-profit health insurers, because a single-payer system wouldn’t spend huge sums on advertising, marketing, executive pay, and billing. So even if the Sanders single-payer plan did require some higher taxes, Americans would come out way ahead because they’d save far more than that on health insurance.

5. “His plan for paying for college with a tax on Wall Street trades would mean colleges would run by government rules.”

Baloney. Three-quarters of college students today already attend public universities financed largely by state governments, and they’re not run by government rules. The real problem is too many young people still can’t afford a college education. The move toward free public higher education that began in the 1950s with the G.I. Bill and extended into the 1960s came to an abrupt stop in the 1980s. We must restart it.

6. “He’s too old.”

Untrue. He’s in great health. Have you seen how agile and forceful he is as he campaigns around the country? These days, 70s are the new 60s. (He’s younger than four of the nine Supreme Court justices.) In any event, the issue isn’t age; it’s having the right values. FDR was paralyzed, and JFK had both Addison’s and Crohn’s diseases, but they were great presidents because they fought adamantly for social and economic justice.

RobertReich
Außerdem:
  • Sozialist will Präsident werden – Lukas Hermsmeier – The European, 04.01.2016
    • „Der Mann mit den weißen Haaren ist für die Anhebung der Mindestlöhne, eine starke Regulierung der Wall Street und höhere Steuern für Reiche. Sanders, der sich selbst Sozialist nennt und kein Geld von Großkonzernen annimmt, will das Militär herunterfahren und Hochschulbildung kostenlos machen.“
  • Amerika driftet nach links –  Zacharias Zacharakis – Zeit, 19.01.2016
    • „Donald Trumps überragende Popularität im US-Vorwahlkampf legt den Schluss nahe, dass die Amerikaner wieder konservativer werden. Doch genau das Gegenteil ist der Fall.“
  • Sanders baut Vorsprung vor Clinton aus – Zeit, 20.01.2016
    • „Im Kampf um die US-Präsidentschaftskandidatur der Demokraten hat Hillary Clinton an Zustimmung verloren. Vor den ersten Vorwahlen führt ihr Konkurrent in New Hampshire.“

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Varoufakis startet neue Bewegung in Berlin

Wie das „neue deutschland“ am 02.01.2016 in einem ausführlichen Artikel berichtete, will Yanis Varoufakis am 9. Februar in der Berliner Volksbühne ein europaweites Aktivisten-Netzwerk vorstellen, das als »dritte Alternative zwischen dem Irrweg einer Renationalisierung und anti-demokratischen EU-Institutionen« wirken soll.

Die Bewegung soll DiEM 25 heißen – für »Democracy in Europe Movement 2025« – und konkrete Ideen entwickeln, »wie man Europa demokratisieren und dessen schleichende Fragmentierung stoppen kann«. Sie habe »ein einziges, radikales Ziel: die EU zu demokratisieren«. Man wolle versuchen, »die Energie der pro-europäischen, radikalen Kritiker der Institutionen in Brüssel und Frankfurt« zu bündeln, um einen »Zerfall der EU zu verhindern«, so der Ex-Minister.

Varoufakis hatte sich bereits in der Vergangenheit von Positionen distanziert, die aus der Kritik am krisenpolitischen Regime in Europa heraus auf einen Ausstieg aus der Eurozone oder der EU orientierten. »Wir sollten nicht wieder zurück zum Nationalstaat gehen wollen«, hatte er unter anderem gegenüber »neues deutschland« erklärt. »Doch wir sollten nicht auf das Ende der Eurozone hinstreben. Wir sollten versuchen, die Eurozone zu reparieren.« Dafür müssten »die Europäer aktiv werden und auf die Straße gehen. Sie müssen die Politiker dazu drängen, die Sachen anders zu machen«.

Gegenüber der spanischen Zeitung »El Diario« verwies Varoufakis auf den Zusammenbruch des Goldstandards 1929. So wie damals könnte ein Zusammenbruch des Euro »zu Hoffnungslosigkeit, Depression, Angst« führen – Faktoren, »die Renationalisierung, den Aufstieg des Ultranationalismus, das Wiederaufleben von Rassismus und letztlich die Rückkehr von Neonazis« befördern würden.

„Der Gedanke dahinter hat die politische Agenda von Varoufakis stets beeinflusst. Das Motiv in drei Sätzen: Der Zusammenbruch des kapitalistischen Europa, wie wir es derzeit kennen, öffnet nicht das Fenster in eine andere, eine bessere Welt, sondern würde in die Katastrophe führen. Die Möglichkeit einer Alternative offen zu halten heiße also, man müsse das Falsche verteidigen, um Zeit für die Arbeit am Richtigen zu gewinnen.“ (…)

Dabei gehe es Varoufakis nicht um Parteipolitik. Die angestrebte paneuropäische Bewegung sei…

…ja gerade eine Antwort auf die Erkenntnis, dass selbst Politiker in Regierungen nicht wirklich an der Macht sind. Dies gelte auch für »Premierminister, Präsidenten und Finanzminister von leistungsfähigen EU-Staaten«, deren Politik von einer europäischen »Schattenwelt aus Bürokraten, Bankiers und nicht gewählten Beamten« bestimmt werde. (…)
Varoufakis glaubt, es gebe kein anderes Mittel als eine wahrhaft proeuropäische Bewegung, »um die schreckliche Rückkopplung« zwischen aufsteigendem Autoritarismus und verfehlter Wirtschaftspolitik zu brechen – eine Rückkoppelung, (…) die Europa zerstören werde (…). Dazu (hätten) die etablierten Parteiensysteme und parlamentarischen Rahmenbedingungen nicht die Kraft. (…)

Die neue paneuropäische Bewegung werde nicht mehr in die Richtung des aktuellen Modus laufen – Politik wird von der nationalstaatlichen Ebene her gedacht und dann in unzureichenden europäischen Institutionen auf transnationales Niveau befördert. (…) (Sie) werde auf einem »radikalen Internationalismus« gründen, überall zuerst das Europäische adressieren und das Demokratiedefizit der EU ins Zentrum rücken (…).  2016 werde es (zunächst) darum gehen, »Wurzeln in jeder Stadt, in jedem EU-Mitgliedsstaat« zu schlagen. Es sei »ein wirklich utopisches Unterfangen«.

Hier geht’s zur Fortsetzung über Varoufakis und die neue europäische Bewegung DiEM25

Die Webseite von DiEM25: http://diem25.org/de/

Außerdem:

Gabor Steingart: „Weltkrieg III.“

In seinem heutigen „Morning Briefing überrascht Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart aus Anlass des Pariser Massakers mit einer bemerkenswerten, vom journalistischen Meinungs-Mainstream abweichenden Analyse der Hintergründe des islamistischen Dschihadismus und Terrorismus und der jetzt gebotenen Denkansätze und Maßnahmen. – (Hervorhebungen im Original.)

„In unseren Albträumen hatten wir uns den nächsten Weltkrieg als Atomkrieg vorgestellt, geführt mit Interkontinentalraketen. Doch die Wirklichkeit hält sich nicht an unsere Albträume.

Die neuen Weltkrieger tragen keine Uniform, sondern Jeans. Sie zünden keine Atomsprengköpfe, sondern die Bombengürtel an ihren Hosenbünden. Sie vernichten keine Landstriche, sondern vor allem unser Gefühl von Freiheit und Unbeschwertheit.

Es geht nach dem Massaker von Paris nicht mehr um Einzeltäter. Wer „Terroranschlag“ sagt, will verharmlosen. Die Situation ist fataler und größer, als es die Betroffenheitsadressen der Regierungschefs vermuten lassen. Wir sind nicht nur Opfer eines Terroranschlags, wir sind auch Kriegspartei.

Die Attentäter vom vergangenen Freitag sind für ihre menschenverachtenden Taten allein verantwortlich und müssen mit der Härte des Rechtsstaats zur Rechenschaft gezogen werden. Aber für das feindliche Klima zwischen den Kulturkreisen trägt der Westen eine Mitschuld.

Von den 1,3 Millionen Menschenleben, die das Kriegsgeschehen von Afghanistan bis Syrien mittlerweile gekostet hat, bringt es allein der unter falschen Prämissen und damit völkerrechtswidrig geführte Irak-Feldzug auf 800.000 Tote. Die Mehrzahl der Opfer waren friedliebende Muslime, keine Terroristen. Saddam Hussein war ein Diktator, aber am Anschlag auf das World Trade Center war er nachweislich nicht beteiligt. „Diejenigen, die Saddam 2003 beseitigt haben, tragen auch Verantwortung für die Situation im Jahr 2015“, sagt mittlerweile selbst Tony Blair, einst der willige Krieger an der Seite der USA.

Der Wissenschaftler Samuel Huntington hatte ihm und den anderen westlichen Führern schon vor 9/11 gesagt, dass es niemals gelingen werde, eine Gesellschaft von einem Kulturkreis in einen anderen zu verschieben. Amerikaner und Briten versuchten genau das, als sie mit dem Schlachtruf vom „Regime-Change“ in Bagdad einfielen. Sie kämpften für westliche Werte, indem sie diese diskreditierten. Sie riefen „Freiheit“ und schufen eine Welt in Unordnung.

„Wir werden schonungslos sein“, versicherte auch jetzt wieder ein versteinerter französischer Präsident und schickte in der Nacht von Sonntag auf Montag seine Luftwaffe nach Syrien, um Stellungen des Islamischen Staates zu bombardieren. Ein Herausgeber der „FAZ“ wünscht sich auch an der Spitze der deutschen Regierung „ein hartes Gesicht“. Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner fordert eine „Radikalisierung der bürgerlichen Mitte“.

Doch der Automatismus von Härte und Gnadenlosigkeit, das vorsätzliche Nicht-Verstehen des anderen, die feurigen Reden an das jeweils heimische Publikum, die schnell in Marsch gesetzten Bombergeschwader haben uns in diesem Kampf der Kulturen dahin gebracht, wo wir heute stehen. So beendet man den Terror nicht, sondern facht ihn weiter an. So schafft man keinen Frieden, so züchtet man Selbstmordattentäter. Die bürgerliche Mitte unseres Landes sollte sich nicht radikalisieren, sondern sich ihrer vornehmsten Tugenden erinnern: Besonnenheit und Friedfertigkeit. Mehr Verantwortung übernehmen, das kann nach den Anschlägen von Paris nur mehr Nachdenklichkeit bedeuten. Militärs und Geheimdienste müssen ihre Arbeit tun, aber die Politik und die Gesellschaft ihre auch.

Die einzelnen Terroristen sind in ihrer Verblendung für Obama, Merkel und Hollande nicht erreichbar, doch ihre Hintermänner, Financiers und Verbündeten sind es sehr wohl. Die Schlüsselwörter der kommenden Monate dürfen dann aber nicht Kampf oder Kapitulation lauten, sondern Ordnung, Respekt und Moderation. Nicht aus Liebe zum Islam, sondern aus Liebe zu uns und unseren Familien. Es gibt Alternativen zur militärischen Eskalation, die unserem Land bekömmlicher sind. Deutschland braucht jetzt kein hartes Gesicht an der Spitze, sondern einen kühlen Kopf.“

Außerdem:
  • Dritter Weltkrieg? Geht’s noch? – Kommentar von Matthias Nass – Zeit Online, 24.02.2016
    • „Als wäre der Krieg in Syrien nicht schlimm genug, fantasieren manche Blätter bereits eine weltweite Katastrophe herbei. Mit einem Weltkrieg spielt man doch nicht.“
  • Stell dir vor, es gibt Krieg… – Clemens Wergin – Welt am Sonntag, 21.02.2016
    • „Ein militärischer Konflikt zwischen Russland und Amerika? Er schien lange undenkbar. Doch das syrische Pulverfass enthält alle Zutaten für ein Katastrophen-Szenario. Strategen spielen mittlerweile schlimmstmögliche Wendungen durch.“
  • Im Weltkrieg – Kommentar von FAZ-Mitherausgeber Berthold Kohler zu den Pariser Anschlägen – FAZ, 16.11.2015
  • Die Botschaft von Paris: Nicht unterwerfen, sondern kämpfen – Kommentar von Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner – Welt, 15.11.2015
  • Die Logik des Terrors: Ausweitung der Kriegszone – Kommentar von Wolfgang Sofsky – Neue Zürcher Zeitung, 16.11.2015
    • „Mit geringstem Aufwand an Waffen und Personal die maximale Zerstörung erzielen – das ist die ebenso grausame wie banale Rationalität der Kriegstaktik, die sich in den Pariser Terroranschlägen zeigt.“
  • Samuel P. Huntington (Wikipedia)
  • Islamischer Think Tank gegen den Islamismus: die Quilliam Foundation – Denkraum, 20.03.2011
  • Was verboten, gestattet oder Pflicht ist: Islamgelehrte widerlegen ISIS-Doktrin – Denkraum, 07.10.2014
    • Ausgehend von der Kritik sunnitischer Gelehrter an der ISIS-Version des Islam habe ich in diesem Beitrag die psychischen Motive beschrieben, die junge Männer für die Propaganda der radikalen Islamisten so anfällig machen:
    • “[…] der Wunsch nach klaren, eindeutigen Regeln, an denen man sich ambivalenzfrei orientieren kann; nach religiösen Vorschriften, die fortwährende individuelle Entscheidungen ersetzen, wie sie beim mühsamen, selbstverantwortlichen Aufbau eines erfolgreichen Lebenswegs in der komplexen Wirklichkeit kapitalistischer Leistungsgesellschaften erforderlich sind; statt Konkurrenz und Wettbewerb klare Freund-Feind-Verhältnisse und ein brüderlich-kameradschaftliches Wir-Gefühl im Kreise Gleichgesinnter; vor allem aber das Versprechen, das bisherige Ohnmachtserleben hinter sich zu lassen und stattdessen an kollektiver Machtausübung teilzuhaben, ja im Kampf gegen (angebliche) Feinde zum Helden werden zu können. All dies abgesegnet von einer Illusion – der Phantasie eines allmächtigen, väterlichen Gottes als höchster Autorität: auch die brutalsten Grausamkeiten werden im Namen Allahs begangen, der diesen Weg belohnen wird, so glaubt man, und sei es im paradiesischen Jenseits nach dem Märtyrertod.”
  • Warum schweigen die Lämmer? Demokratie, Psychologie und Empörungsmanagement – Vortrag am 22.06.2015 von Prof. Rainer Mausfeld (Uni Kiel)
    • In diesem hochinteressanten Vortrag rechnet Prof. Mausfeld u.a. vor, wie viele zivile Opfer die Vereinigten Staaten in den seit dem II. Weltkrieg von den USA geführten Kriegen und Militäreinsätzen zu verantworten haben: 20 – 30 Millionen.

Die gegenwärtige Debatte innerhalb der europäischen Linken…

… über die zukünftige Organisation Europas, über die EU, über eine oder keine gemeinsame Währung, die notwendiger ist denn je, wird im neuen deutschland seit einiger Zeit in einem Dossier dokumentiert:

Wie viel linke Verankerung ist innerhalb des Rahmens möglich, den andere gesetzt haben? Beiträge zur Debatte über und aus SYRIZA, die Grenzen des Regierens, den Charakter der EU und die deutsche Linke.

Gestern veröffentlichte das „nd“ ein Interview mit Oskar Lafontaine zu den unterschiedlichen inhaltlichen Positionen innerhalb der europäischen Linken. Da dieses Gespräch einen interessanten Einblick in die derzeit laufende Debatte vermittelt, dokumentiert der Denkraum es mit einigen Erläuterungen.

»Ein Währungssystem ist keine Ideologie«

Oskar Lafontaine über linke Auswege aus der Eurokrise, die Debatten mit Yanis Varoufakis und europäischen Pragmatismus. 

In der Linken wird weiter über mögliche Wege in ein solidarischeres Europa diskutiert. Ob dabei ein »Plan B« für die Eurozone die richtigen Antworten geben kann? Inzwischen gibt es sogar mehrere Initiativen für Konferenzen, auf denen die Kritiker der Krisenpolitik über Alternativen beraten wollen.

Herr Lafontaine, was ist aus dem Projekt zu einem internationalen Gipfel für einen Plan B für Europa geworden?

Oskar Lafontaine: Wir wollen in der europäischen Linken eine Diskussion darüber führen, wie man die europäische Idee und damit den europäischen Zusammenhalt retten kann. Dazu werden viele Vorschläge gemacht. Mit geht es vor allem um ein Währungssystem, das allen Staaten die Möglichkeit einer guten wirtschaftlichen Entwicklung lässt. Das gegenwärtige Währungssystem funktioniert nicht. Der Süden Europas wird deindustrialisiert und kein überzeugter Europäer kann diesem Prozess tatenlos zu sehen.

Sie haben diesen Gipfel gemeinsam, unter anderem mit Yanis Varoufakis, vorgeschlagen. Nun sagt der frühere griechische Finanzminister, er sei mit dem Begriff »Plan B« nicht glücklich und stimme mit Ihnen auch nicht darin überein, dass man auf ein Ende der Eurozone hinarbeiten solle.

Unseren Aufruf hat er auch unterschrieben. Es gibt Diskussionen darüber, wie ein anderes Währungssystem zu gestalten ist. Ich zum Beispiel bin gegen Eurobonds und eine Bankenunion, wie sie Varoufakis jetzt vorgeschlagen hat. Eurobonds sind überholt, weil es mittlerweile einen Europäischen Schuldenfonds gibt. Und der Bankenunion können wir nicht zustimmen.

Warum nicht?

Die Kleinsparer in der Bundesrepublik können nicht für Risiken haften sollen, die von europäischen Bankkonzernen beim Spekulieren aufgehäuft wurden.

Was sagt Varoufakis zu Ihrer Position?

Ich habe ihn gebeten, seine Argumente gegen das Europäische Währungssystem EWS zu präzisieren. Als Finanzminister hatte er die Kontrolle über die Zentralbank, einen Schuldenschnitt und die Vorbereitung einer Parallelwährung vorgeschlagen. Das ginge alles innerhalb des EWS.

Sie haben den Euro für gescheitert erklärt. Varoufakis sagt, wir sollten die Eurozone reparieren. Das klingt nach grundlegendem Dissens.

Die Eurozone reparieren wollen wir alle. Wir müssten aber darüber reden, was konkret getan werden kann. Ich plädiere dafür, das Europäische Währungssystem wieder zu aktivieren. Es existiert ja noch, Dänemark nimmt derzeit zwar als einziges Land am Wechselkursmechanismus teil – aber es geht ihm wirtschaftlich ausgezeichnet.

Was hätten die anderen Länder von Ihrem Vorschlag?

Staaten wie Griechenland zum Beispiel, die in einer schweren Krise stecken, hätten wieder die Möglichkeit, ihre Währung abzuwerten. Wechselkursänderungen sind der einzige Weg, um die riesigen wirtschaftlichen Ungleichgewichte wieder zu beseitigen. Das Europäische Währungssystem hat lange Jahre besser funktioniert als der Euro.

Sie haben den Euro für gescheitert erklärt.

Viele, die sich an der Diskussion beteiligen, verwechseln das Währungssystem mit einem Geldstück. Ein Währungssystem ist viel umfassender, es bestimmt im Grunde genommen die Bedingungen, unter denen die Volkswirtschaften existieren. Deshalb ist mein Vorschlag wohl auch auf die Formel verkürzt worden, Griechenland solle aus dem Euro austreten.

Das stimmt so nicht?

Ich habe vorgeschlagen, Griechenland die Möglichkeit einer eigenen Währung einzuräumen, aber mit der entscheidenden Bedingung, dass die Europäische Zentralbank diese Währung stützt. Griechenland hätte also eine eigene Währung und eine eigene Zentralbank, bliebe aber im europäischen Währungsverbund. Es würde wieder die Möglichkeit der Abwertung bestehen – und das ist die beste Medizin, um eine nicht mehr konkurrenzfähige Volkswirtschaft wieder lebensfähig zu machen.

Griechenland muss Lebensmittel und Energie importieren, es hat kaum eine Exportwirtschaft. Mit einer Abwertung würden die Einfuhren teurer. Die soziale und ökonomische Krise würde sich verschärfen.

Sie übersehen das entscheidende Element meines Vorschlages. Wenn die Europäische Zentralbank die Abwertung einer eigenen griechischen Währung moderiert, besteht auch keine Gefahr, dass diese Währung ins Bodenlose stürzt. Es gibt aber auf der Welt funktionierende Beispiele, dass auch ohne die Unterstützung einer starken Zentralbank Abwertungen Wunder bewirken. Beispiele sind Island oder Argentinien.

Die SYRIZA-Abspaltung Laiki Enotita hat mit dem Ziel Grexit bei den Neuwahlen nicht gepunktet. Die Menschen wollen das einfach nicht.

Das sollte uns nicht davon abhalten, Vorschläge zu machen, wie der europäische Zusammenhalt zu retten ist. Wir sind allerdings in einem demokratischen Dilemma: Wenn schon Politiker Währungssysteme nicht verstehen, und Äußerungen auch aus den Reihen der Linkspartei deuten darauf hin, wie will man dann ein Währungssystem einer Volksabstimmung unterwerfen?

Angela Merkel sagt: Scheitert der Euro, dann scheitert Europa. Das erinnert mich an die derzeit geführte Debatte in der europäischen Linken, in der es nicht selten nur um ein Zahlungsmittel geht. Reicht es denn, sich über ein Währungssystem Gedanken zu machen, wenn man über die Zukunft der europäischen Integration reden will?

In der linken Diskussion werden auch öffentliche Investitionen und die Bekämpfung von Lohndumping in Europa gefordert, ebenso eine gesamteuropäische Schuldenkonferenz. Richtig ist aber, die europäische Idee lebt nicht nur von ökonomisch-technischen Voraussetzungen, sondern sie muss kulturell vermittelt werden. Das passiert aber nicht, es wird nicht aufeinander Rücksicht genommen. Die Flüchtlingskrise ist das beste Beispiel.

Inwiefern?

Die Kanzlerin, die schon in der Griechenlandfrage die anderen Europäer düpiert hat, agierte ohne Abstimmung, als sie die Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland ließ. Jetzt wundert sie sich, dass in europäischen Hauptstädten keine Bereitschaft besteht, ihr zur Hilfe zu kommen. Sie muss begreifen, dass man Europa nicht aus Berlin regieren kann. Oder um es mit Thomas Mann zu sagen: Wir brauchen ein europäisches Deutschland und kein deutsches Europa.

Sie haben gesagt, der entscheidende Fehler der Währungsunion war, dass ihr keine politische Union vorausging. Wäre es da nicht logisch, jetzt für diese politische Union zu kämpfen, statt in der Geschichte zurückzuspringen?

Das Europäische Währungssystem ist keine Rückkehr zum Nationalstaat, wie zu lesen war. Mich hat das Argument sehr überrascht. Denn mein Vorschlag zielt darauf, den deutschen Exportnationalismus einzudämmen – und zwar auf europäischer Ebene. Richtig ist allerdings auch, dass es manchmal sinnvoll sein kann, wenn man Zuständigkeiten, die auf eine höhere staatliche Ebene übertragen wurden, wieder auf nächst niedere Ebene zurücküberträgt. Ich will ein simples Beispiel geben. Wir hatten hier im Saarland einen landesweiten Abfallbeseitigungsverband. Es hat sich dann aber als sinnvoll erwiesen, die Abfallbeseitigung auch wieder in kommunale Hände zu legen. Das ist eine Frage des Pragmatismus. Und der sollte auch auf europäischer Ebene herrschen. Ein Währungssystem ist ein dienendes Instrument, keine Ideologie.

Mit Oskar Lafontaine sprach Tom Strohschneider.

Links:

  1. http://www.neues-deutschland.de/artikel/987141.da-widerspreche-ich-oskar-lafontaine.html

EWS, Eurobonds, Bankenunion (aus dem „neuen deutschland“)

Das Europäische Währungssystem EWS wurde 1979 als System fester Wechselkurse innerhalb der EG errichtet; ihm gehörten die Zentralbanken aller Mitgliedsländer der Europäischen Union an. Das System sollte dazu beitragen, eine größere wirtschaftliche Stabilität, besonders bezogen auf Preisniveau und Wechselkurse zu schaffen, den Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zu erleichtern sowie über eine gemeinsame Währungspolitik zu einer gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzpolitik zu gelangen. Wesentliche Elemente des EWS waren die Schaffung des ECU als Europäische Rechnungs- und Währungseinheit sowie ein Wechselkurs- und Interventionsmechanismus. Nach der Einführung des Euro und der Errichtung der Europäischen Zentralbank 1999 leistet das EWS II die Anbindung der Währungen der noch nicht an der Währungsunion teilnehmenden EU-Staaten an den Euro.

Wohin geht’s mit Griechenland

Athen bei Nacht

Die Krise um Griechenland ist in ihr (vorläufig) finales Stadium eingetreten, und es wird immer schwieriger, die Komplexität der gegenwärtigen Entwicklungen zu durchschauen.

„Where now for Greece“ – unter diesem Titel hat Social Europe einige Schlüsselartikel zum Thema „Griechenland“ zusammengestellt, für diejenigen, die wirklich verstehen wollen, was in Europa gerade abläuft.

Social Europe ist ein sehr empfehlenswertes englischsprachiges Forum, in dem hochkarätige internationale Autoren aus Wissenschaft und Politik, die den Blickwinkel der sozialen Komponente nicht aus dem Auge verloren haben, Analysen und Kommentare veröffentlichen.

Where Now For Greece? – Recent Articles

Joseph Stiglitz
Deutsche Fassung: Warum Merkels Griechenland-Politik ein Fehler ist (Süddeutsche Zeitung, 22.06.2015)

Hintergrundartikel

Falls Sie mehr zu den Hintergründen der gegenwärtigen Krise lesen möchten, empfiehlt Social Europe die folgenden Artikel, in denen die Entwicklungen und Probleme seit Anfang 2015 analysiert und kommentiert werden.

Außerdem:
  • „Schwierige Entscheidungen“ für den IWF zu Griechenland James K. Galbraith – Project Syndicate, 16.06.2015
    • „Der Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, Olivier Blanchard, hat vor kurzem eine einfache, aber wichtige Frage gestellt: „Wie große Anpassungen muss Griechenland vornehmen und wie große Anpassungen seine offiziellen Gläubiger?“ Freilich zieht dies zwei weitere Fragen nach sich: Wie große Anpassungen hat Griechenland bereits umgesetzt? Und haben seine Gläubiger irgendwelche Zugeständnisse gemacht?“
  • Europas letzter Akt?Joseph Stiglitz – Project Syndicate, 05.06.2015
    • „Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union spielen weiterhin ein Spiel mit dem Feuer mit der griechischen Regierung. Griechenland ist seinen Gläubigern auf deutlich mehr als halbem Weg entgegengekommen. Doch Deutschland und die übrigen Gläubiger Griechenlands verlangen nach wie vor, dass das Land sich zu einem Programm verpflichtet, das sich bereits als Fehlschlag erwiesen hat und von dem nur wenige Ökonomen je glaubten, dass es umgesetzt werden könnte, würde oder sollte.“
  • Einziger Knackpunkt ist der SparzwangYanis Varoufakis – Project Syndicate, 25.05.1015
    • „Unsere Regierung ist sehr wohl interessiert, eine Agenda umzusetzen, die sämtliche von den ökonomischen Denkfabriken Europas verdeutlichten Wirtschaftsreformen umfasst. (…) Man bedenke, was das bedeutet: eine unabhängige Steuerbehörde; für immer solide Primärüberschüsse; ein sinnvolles und ehrgeiziges Privatisierungsprogramm in Kombination mit einer Entwicklungsbehörde, die öffentliche Güter nutzt, um Investitionsflüsse zu schaffen; eine echte Rentenreform, die die langfristige Tragbarkeit des Sozialversicherungssystems sicherstellt; die Liberalisierung der Märkte für Waren und Dienstleistungen usw. Wenn unsere Regierung nun also bereit ist, die von unseren Partnern erwarteten Reformen umzusetzen, stellt sich die Frage, warum die Verhandlungen bisher nicht zu einer Einigung führten. Wo liegt der Stolperstein? Das Problem ist simpel: die Gläubiger Griechenlands bestehen für heuer und darüber hinaus auf noch umfassenderen Sparprogrammen. Doch dieser Ansatz würde die wirtschaftliche Erholung behindern, das Wachstum lähmen, den Schulden-Deflations-Zyklus verschärfen und, letzten Endes, die Bereitschaft und Fähigkeit der Griechen untergraben, die so dringend nötige Reformagenda durchzuziehen. Unsere Regierung kann – und wird – keine Therapie akzeptieren, die sich in den letzten fünf Jahren als schlimmer erwiesen hat als die Krankheit selbst.“

Alexis Tsipras‘ nächtliche Fernsehrede – „Griechische Bevölkerung soll entscheiden“ (deutsche Übersetzung)

In der Nacht zum 27. Juni 2015 kündigte der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras in einer vom griechischen Fernsehen ausgestrahlten Rede ein Referendum über die „Reformforderungen“ der Troika an. 

Der Text wurde von Stathis Kouvelakis vom Griechischen ins Englische übersetzt und von der Redaktion des österreichischen Blogs „Mosaik – Politik neu zusammensetzen“ aus dem Englischen ins Deutsche übertragen. Die englische Version der Tsipras-Rede findet man hier, und hier noch eine weitere Übersetzung der Rede direkt aus dem Griechischen ins Deutsche. (Hervorhebungen von mir. MW)

Liebe Griechen und Griechinnen,
seit sechs Monaten kämpft die griechische Regierung darum, unter den Bedingungen eines beispiellosen wirtschaftlichen Würgegriffs, das Mandat umzusetzen, das ihr uns gegeben habt.

Ihr habt uns den Auftrag gegeben, in Verhandlungen mit unseren europäischen Partnern die Austeritätspolitik zu beenden, damit Wohlstand und soziale Gerechtigkeit in unser Land zurückkehren können. Es war ein Mandat für ein nachhaltiges Abkommen, das sowohl unsere Demokratie als auch die gemeinsamen europäischen Regeln respektiert, und das es uns endlich ermöglicht, die Krise zu überwinden.

Während der gesamten Phase der Verhandlungen wurde von uns verlangt, dass wir das von der letzten Regierung akzeptierte Memorandum umsetzen sollen, obwohl dieses von den Griechinnen und Griechen bei den letzen Wahlen kategorisch abgelehnt worden war.

Doch nicht eine Minute lang haben wir daran gedacht, uns zu unterwerfen und euer Vertrauen zu verraten. Nach fünf Monaten harter Verhandlungen haben unsere PartnerInnen vorgestern schließlich ein Ultimatum an die griechische Demokratie und die Menschen in Griechenland gerichtet. Ein Ultimatum, welches den Grundwerten Europas, den Werten unseres gemeinsamen europäischen Projekts widerspricht.

Sie haben von der griechischen Regierung verlangt, einen Vorschlag zu akzeptieren, der weitere untragbare Lasten für das griechische Volk bedeuten und die Erholung der griechischen Wirtschaft und Gesellschaft untergraben würde. Dieser Vorschlag würde nicht nur den Zustand der Unsicherheit auf Dauer stellen, sondern auch die soziale Ungleichheit verfestigen.

Der Vorschlag der Institutionen umfasst Maßnahmen zur weiteren Deregulierung des Arbeitsmarktes, Pensionskürzungen, weitere Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel sowie in den Bereichen Gastronomie und Tourismus. Schließlich zählt dazu auch die Abschaffung der Steuererleichterungen für die griechischen Inseln.

Diese Forderungen verletzen unmittelbar die europäischen Sozial- und Grundrechte. Sie zeigen, dass einige unserer PartnerInnen nicht ein für alle Seiten tragfähiges und vorteilhaftes Abkommen für Arbeit, Gleichheit und Würde anstreben – sondern die Erniedrigung des gesamten griechischen Volks.

Ihre Forderungen zeigen vor allem, dass der Internationale Währungsfonds auf einer harten, bestrafenden Kürzungspolitik beharrt. Sie zeigen zugleich, dass die führenden europäischen Kräfte endlich die Initiative ergreifen müssen, um die griechische Schuldenkrise ein für alle Mal zu beenden. Diese Krise betrifft auch andere europäische Länder und bedroht die Zukunft der europäischen Integration.

Liebe Griechen und Griechinnen,
die Kämpfe und Opfer des griechischen Volks für die Wiederherstellung von Demokratie und nationaler Souveränität lasten als historische Verantwortung auf unseren Schultern. Es ist die Verantwortung für die Zukunft unseres Landes, und diese verlangt von uns, auf das Ultimatum der PartnerInnen mit dem souveränen Willen des griechischen Volkes zu antworten.

Vor wenigen Minuten habe ich in der Kabinettssitzung den Vorschlag gemacht, ein Referendum abzuhalten, damit die Griechen und Griechinnen souverän entscheiden können. Dieser Vorschlag wurde einstimmig angenommen. Morgen wird das Parlament zu einer Sondersitzung zusammentreten, um über den Vorschlag des Kabinetts und ein Referendum am Sonntag, dem 5. Juli, abzustimmen. Die Griechen und Griechinnen sollen entscheiden können, ob sie die Forderungen der Institutionen annehmen oder ablehnen.

Ich habe bereits den Präsidenten Frankreichs, die Kanzlerin Deutschlands und den Präsidenten der Europäischen Zentralbank über diesen Schritt informiert. Morgen werde ich offiziell darum ansuchen, das laufende Programm um einige Tage zu verlängern, damit das griechische Volk frei von Erpressung und Druck abstimmen kann, wie es der Verfassung unseres Landes und der demokratischen Tradition Europas entspricht.

Liebe Griechen und Griechinnen,
ich bitte euch, auf das erpresserische Ultimatum, welches von uns harte, entwürdigende und endlose Austerität ohne Aussicht auf soziale und wirtschaftliche Erholung verlangt, auf souveräne und stolze Weise zu antworten – so wie es die Geschichte des griechischen Volks verlangt.

Auf Autoritarismus und brutale Austerität werden wir, ruhig und bestimmt, mit Demokratie antworten. Griechenland, der Geburtsort der Demokratie, wird eine demokratische Antwort geben, die in Europa und der Welt widerhallen wird. Ich verpflichte mich persönlich, eure demokratische Wahl zu respektieren, wie immer sie ausfallen wird.

Und ich bin vollkommen überzeugt davon, dass eure Wahl der Geschichte unseres Landes gerecht werden und der Welt eine Botschaft der Würde senden wird. Wir alle müssen uns in diesen entscheidenden Momenten vor Augen halten, dass Europa die gemeinsame Heimat unserer Völker ist. Doch ohne Demokratie wird Europa ein Europa ohne Identität und Orientierung sein.

Ich lade euch alle ein, in nationaler Eintracht und Ruhe, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Für uns, für zukünftige Generationen, für die Geschichte der Griechinnen und Griechen. Für die Souveränität und Würde unseres Volks.

Alexis Tsipras
Athen, am 27. Juni, 1 Uhr morgens.

„Auszug aus dem Register der 927 ewigen Wahrheiten“ (Sheldon B. Kopp)

In den 1970er Jahren war das Buch „Triffst du Buddha unterwegs…“ des amerikanischen Psychotherapeuten Sheldon B. Kopp eine Art Kultbuch. (Ein anderes Kultbuch in jener Zeit war Pirsigs „Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten“.)

Im Anhang fand sich ein „Auszug aus dem Register der 927 (oder waren es 928?) ewigen Wahrheiten“, vom Verfasser auch als eschatologischer Waschzettel“ bezeichnet.

Ob es an dem Orkan liegt, der gerade über Deutschland hinwegfegt – jedenfalls kam mir das heute wieder in den Sinn. Obwohl es sich jenseits jeglicher Politik im engeren Sinn bewegt, nehme ich es hier mit auf, sozusagen in einer Rubrik „mal ganz was anderes…“ .

Falls Sie annehmen sollten, ich würde die folgenden Statements auch allesamt für „ewige Wahrheiten“ halten: dies ist nicht der Fall! Diejenigen Aussagen, denen ich persönlich zustimmen würde, habe ich kursiv gesetzt.

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