Das beschämende Schäuble-Papier

In das entscheidende Treffen der Finanzminister der Euro-Staaten zur Lösung der Griechenland-Krise brachte Wolfgang Schäuble ein Positionspapier ein, das zwei Alternativen vorsieht:

  • Entweder verbessert die griechische Regierung ihre Reformvorschläge rasch und umfassend und stimmt außerdem der Schaffung eines Treuhandfonds zu, in den staatliche Vermögenswerte im Volumen von 50 Milliarden Euro eingebracht und privatisiert werden sollen. Dessen Erlöse müssten in den Schuldenabbau fließen.
  • Andernfalls sollen mit der griechischen Regierung Verhandlungen über eine mindestens fünf Jahr dauernde Auszeit aus der Eurozone geführt werden. In dieser Zeit kann über eine Restrukturierung der griechischen Schulden diskutiert werden. Währenddessen bliebe Griechenland EU-Mitglied und würde weitere „wachstumsstärkende, humanitäre und technische Unterstützung“ erhalten.

Beschämend sind diese Schäuble-Vorschläge vor allem deshalb, weil der Finanzminister die Verantwortung dafür leugnet, dass die von der Bundesregierung seit Jahren betriebene Sparpolitik ganz wesentlich dazu beigetragen hat, Griechenland wirtschaftlich zu ruinieren.

Entwicklung des Bruttosozialprodukts von Griechenland

Hier das Schäuble-Papier im englischen Original:

10 July 2015

Comments on the latest Greek proposals

On 9 July 2015 Greece has submitted a list of proposals. These proposals are based on and even fall behind the latest aide memoire that was drafted by the Troika to conclude the review under EFSF. However Greece was not able to conclude the review.

These proposals lack a number of paramount important reform areas to modernize the country, to foster long term economic growth and sustainable development. Among these, labour market reform, reform of public sector, privatisations, banking sector, structural reforms are not sufficient.

This is why these proposals can not build the basis for a completely new, three year ESM program, as requested by Greece. We need a better, a sustainable solution, keeping the IMF on board. There are 2 avenues now:

1. The Greek authorities improve their proposals rapidly and significantly, with full backing by their Parliament. The improvements must rebuild confidence, ensure debt sustainability upfront and the successful implementation of the program – so as to ensure regained market access after completion of the program. Improvements include:

a) transfer of valuable Greek assets of [50 bn] Euros to an external fund like the Institution for Growth in Luxembourg, to be privatized over time and decrease debt; b) capacity-building and depolitizising Greek administrative tasks under hospices of the COM for proper implementation of the program; c) automatic spending cuts in case of missing deficit targets.

In parallel, a set of financing elements would be put together to bridge the time gap until a first disbursement under the enhanced program could be made. This means the existing risk of not concluding a new ESM program should rest with Greece, not with Eurozone countries.

2. In case, debt sustainability and a credible implementation perspective can not be ensured upfront, Greece should be offered swift negotiations on a time-out from the Eurozone, with possible debt restructuring, if necessary, in a Paris Club – like format over at least the next 5 years. Only this way forward could allow for sufficient debt restructuring, which would not be in line with the membership in a monetary union (Art. 125 TFEU).

The time-out solution should be accompanied by supporting Greece as an EU member and the Greek people with growth enhancing, humanitarian and technical assistance over the next years. The timeout solution should also be accompanied by streamlining all pillars of the Economic and Monetary Union and concrete measures to strengthen the governance of the Eurozone.

Außerdem:
  • Studie: Sparpolitik wesentlicher Grund für Absturz der griechischen Wirtschaft – Denkraum, 27.03.2015
  • ‘Es gibt keine Euro-Krise’ – Der unglaublich naive Euro-Kommentar des DIW-Präsidenten“ (2) – eingehende Analyse der Ursprünge der Euro-Krise – Denkraum, 13.05.2013
  • The Hard Line on Greece – Andrew Ross Sorkin – New York Times, 29.06.2015
    • Sorkin berichtet über einen Besuch des damaligen amerikanischen Finanzminister Timothy Geithner bei Wolfgang Schäuble in dessen Ferienhaus auf Sylt im Juli 2012, bei dem Schäuble bereits die Vorzüge eines Rausschmisses Griechenlands aus der Eurozone erläutert habe (Geithner beschrieb das Treffen in seiner Autobiographie):
    • “He told me there were many in Europe who still thought kicking the Greeks out of the eurozone was a plausible — even desirable — strategy,” Mr. Geithner later recounted in his memoir, “Stress Test: Reflections on Financial Crises.” “The idea was that with Greece out, Germany would be more likely to provide the financial support the eurozone needed because the German people would no longer perceive aid to Europe as a bailout for the Greeks,” he says in the memoir. “At the same time, a Grexit would be traumatic enough that it would help scare the rest of Europe into giving up more sovereignty to a stronger banking and fiscal union,” Mr. Geithner wrote. “The argument was that letting Greece burn would make it easier to build a stronger Europe with a more credible firewall.” (…) “He has a clear view: Greece had binged, so it needed to go on a strict diet.” (…) Mr. Geithner reflected on his conversations with European leaders about the measures they sought to take. “The desire to impose losses on reckless borrowers and lenders is completely understandable, but it is terribly counterproductive in a financial crisis,” Mr. Geithner said. At one point, he told Mr. Schäuble: “You know you sound a bit like Herbert Hoover in the 1930s. You need to be thinking about growth.”

Joseph Stiglitz: „Europas Anschlag auf die griechische Demokratie“

Alexis Tsipras‘ nächtliche Fernsehrede – „Griechische Bevölkerung soll entscheiden“ (deutsche Übersetzung)

In der Nacht zum 27. Juni 2015 kündigte der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras in einer vom griechischen Fernsehen ausgestrahlten Rede ein Referendum über die „Reformforderungen“ der Troika an. 

Der Text wurde von Stathis Kouvelakis vom Griechischen ins Englische übersetzt und von der Redaktion des österreichischen Blogs „Mosaik – Politik neu zusammensetzen“ aus dem Englischen ins Deutsche übertragen. Die englische Version der Tsipras-Rede findet man hier, und hier noch eine weitere Übersetzung der Rede direkt aus dem Griechischen ins Deutsche. (Hervorhebungen von mir. MW)

Liebe Griechen und Griechinnen,
seit sechs Monaten kämpft die griechische Regierung darum, unter den Bedingungen eines beispiellosen wirtschaftlichen Würgegriffs, das Mandat umzusetzen, das ihr uns gegeben habt.

Ihr habt uns den Auftrag gegeben, in Verhandlungen mit unseren europäischen Partnern die Austeritätspolitik zu beenden, damit Wohlstand und soziale Gerechtigkeit in unser Land zurückkehren können. Es war ein Mandat für ein nachhaltiges Abkommen, das sowohl unsere Demokratie als auch die gemeinsamen europäischen Regeln respektiert, und das es uns endlich ermöglicht, die Krise zu überwinden.

Während der gesamten Phase der Verhandlungen wurde von uns verlangt, dass wir das von der letzten Regierung akzeptierte Memorandum umsetzen sollen, obwohl dieses von den Griechinnen und Griechen bei den letzen Wahlen kategorisch abgelehnt worden war.

Doch nicht eine Minute lang haben wir daran gedacht, uns zu unterwerfen und euer Vertrauen zu verraten. Nach fünf Monaten harter Verhandlungen haben unsere PartnerInnen vorgestern schließlich ein Ultimatum an die griechische Demokratie und die Menschen in Griechenland gerichtet. Ein Ultimatum, welches den Grundwerten Europas, den Werten unseres gemeinsamen europäischen Projekts widerspricht.

Sie haben von der griechischen Regierung verlangt, einen Vorschlag zu akzeptieren, der weitere untragbare Lasten für das griechische Volk bedeuten und die Erholung der griechischen Wirtschaft und Gesellschaft untergraben würde. Dieser Vorschlag würde nicht nur den Zustand der Unsicherheit auf Dauer stellen, sondern auch die soziale Ungleichheit verfestigen.

Der Vorschlag der Institutionen umfasst Maßnahmen zur weiteren Deregulierung des Arbeitsmarktes, Pensionskürzungen, weitere Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst und eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel sowie in den Bereichen Gastronomie und Tourismus. Schließlich zählt dazu auch die Abschaffung der Steuererleichterungen für die griechischen Inseln.

Diese Forderungen verletzen unmittelbar die europäischen Sozial- und Grundrechte. Sie zeigen, dass einige unserer PartnerInnen nicht ein für alle Seiten tragfähiges und vorteilhaftes Abkommen für Arbeit, Gleichheit und Würde anstreben – sondern die Erniedrigung des gesamten griechischen Volks.

Ihre Forderungen zeigen vor allem, dass der Internationale Währungsfonds auf einer harten, bestrafenden Kürzungspolitik beharrt. Sie zeigen zugleich, dass die führenden europäischen Kräfte endlich die Initiative ergreifen müssen, um die griechische Schuldenkrise ein für alle Mal zu beenden. Diese Krise betrifft auch andere europäische Länder und bedroht die Zukunft der europäischen Integration.

Liebe Griechen und Griechinnen,
die Kämpfe und Opfer des griechischen Volks für die Wiederherstellung von Demokratie und nationaler Souveränität lasten als historische Verantwortung auf unseren Schultern. Es ist die Verantwortung für die Zukunft unseres Landes, und diese verlangt von uns, auf das Ultimatum der PartnerInnen mit dem souveränen Willen des griechischen Volkes zu antworten.

Vor wenigen Minuten habe ich in der Kabinettssitzung den Vorschlag gemacht, ein Referendum abzuhalten, damit die Griechen und Griechinnen souverän entscheiden können. Dieser Vorschlag wurde einstimmig angenommen. Morgen wird das Parlament zu einer Sondersitzung zusammentreten, um über den Vorschlag des Kabinetts und ein Referendum am Sonntag, dem 5. Juli, abzustimmen. Die Griechen und Griechinnen sollen entscheiden können, ob sie die Forderungen der Institutionen annehmen oder ablehnen.

Ich habe bereits den Präsidenten Frankreichs, die Kanzlerin Deutschlands und den Präsidenten der Europäischen Zentralbank über diesen Schritt informiert. Morgen werde ich offiziell darum ansuchen, das laufende Programm um einige Tage zu verlängern, damit das griechische Volk frei von Erpressung und Druck abstimmen kann, wie es der Verfassung unseres Landes und der demokratischen Tradition Europas entspricht.

Liebe Griechen und Griechinnen,
ich bitte euch, auf das erpresserische Ultimatum, welches von uns harte, entwürdigende und endlose Austerität ohne Aussicht auf soziale und wirtschaftliche Erholung verlangt, auf souveräne und stolze Weise zu antworten – so wie es die Geschichte des griechischen Volks verlangt.

Auf Autoritarismus und brutale Austerität werden wir, ruhig und bestimmt, mit Demokratie antworten. Griechenland, der Geburtsort der Demokratie, wird eine demokratische Antwort geben, die in Europa und der Welt widerhallen wird. Ich verpflichte mich persönlich, eure demokratische Wahl zu respektieren, wie immer sie ausfallen wird.

Und ich bin vollkommen überzeugt davon, dass eure Wahl der Geschichte unseres Landes gerecht werden und der Welt eine Botschaft der Würde senden wird. Wir alle müssen uns in diesen entscheidenden Momenten vor Augen halten, dass Europa die gemeinsame Heimat unserer Völker ist. Doch ohne Demokratie wird Europa ein Europa ohne Identität und Orientierung sein.

Ich lade euch alle ein, in nationaler Eintracht und Ruhe, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Für uns, für zukünftige Generationen, für die Geschichte der Griechinnen und Griechen. Für die Souveränität und Würde unseres Volks.

Alexis Tsipras
Athen, am 27. Juni, 1 Uhr morgens.