„Paradigm Lost“: Ökonomen erkennen Holzweg – zu spät für Europa?

Die europäische Krisenstrategie auf dem Weg zum Bankrott? So sehen es nicht nur die Herren Mayer, Münchau und Krugman (Grafik: Handelsblatt), sondern eine wachsende Zahl besorgter Ökonomen, die den drastischen Sparkurs für fatal halten, den Deutschland der EU als Heilmittel gegen die europäische Finanzkrise beharrlich auf’s Auge drückt. Der Handelsblatt-Newsletter Finance Today in seiner heutigen Presseschau:

EU auf dem Weg zum Bankrott

Je länger die Euro-Krise anhält, desto mehr Experten rütteln an den bisherigen Tabus. So sieht Thomas Mayer (Foto: links), scheidender Chefvolkswirt der Deutschen Bank, im Jahr 2012 das Schicksalsjahr für den Euro. Sollten die Krisenländer Spanien und Italien nicht Kurs halten, werde Deutschland über einen Ausstieg nachdenken müssen, sagt Mayer dem » Wall Street Journal . Angela Merkel solle ihren Satz „Scheitert der Euro, scheitert Europa“ zurücknehmen. In der » Zeit schreibt Gustav Horn, Leiter des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung, den EU-Krisenmanagern deutliche Worte ins Stammbuch. „Die europäische Krisenstrategie läuft unweigerlich ihrem ökonomischen und politischen Bankrott entgegen.“ Jetzt sei die Zeit gekommen, sich zu fragen, was nach der Sparpolitik geschehen solle. Unter dem Schutz einer EZB-Garantie müsse die Finanzpolitik in den Defizitländern weniger restriktiv gestaltet werden. Es sei nicht die Zeit für die Konsolidierung von Staatsfinanzen, meint auch Wolfgang Münchau (Mitte) im » Spiegel . Er schlägt mit Blick auf Spanien vor: „Jetzt ist die Zeit, um Spaniens Banken zu Abschreibungen bei den Immobilien in ihrer Bilanz zu zwingen, die eine Million unverkaufter Immobilien zur Auktion freizugeben und somit dem spanischen Wohnungsmarkt die Möglichkeit zu geben, sich bald wieder zu fangen.“ Spanien und andere Länder hätten durchaus eine Alternative zum endlosen Sparkurs, meint Paul Krugman (re.) in der » New York Times – eine, die ihnen durch die Umstände aufgezwungen werden könnte: der Ausstieg aus dem Euro, mit allen finanziellen und politischen Auswirken, die folgten. 

Holz lautet ein alter Name für Wald.
Im Holz sind Wege, die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören.
Sie heißen Holzwege.

Martin Heidegger
als Motto zu seiner Aufsatzsammlung „Holzwege“ (1950)

Die zunehmenden Warnungen, mit der derzeitigen Euro-Krisenstrategie sei man auf dem Holzweg,  sind eingebettet in eine umfassendere Entwicklung mit vorhersehbar äußerst weitreichenden Konsequenzen für die weltweite Wirtschafts- und Finanzpolitik: eine sich abzeichnende grundlegende Neuorientierung der Wirtschaftswissenschaften. Angesichts der immensen Bedeutung dieses beginnenden und derzeit aus dem akademischen Raum in den politischen Raum vordringenden Paradigmenwechsels der ökonomischen Wissenschaften wird der Denkraum sich diesem Thema demnächst vorrangig widmen.

Als Einführung in die Thematik hier ein kürzlicher Leitartikel von Stephan Kaufmann für die Frankfurter Rundschau, in dem unter dem Titel „Das gescheiterte Weltbild der Wirtschaft“ über eine viel beachtete internationale Konferenz des Institute for New Economic Thinking (INET) mit dem Thema “Paradigm Lost: Rethinking Economics and Politics“ berichtet wird, die im April in Berlin stattfand. (Hervorhebungen von mir. MW)

Ökonomen zweifeln nach der globalen Finanzkrise an ihren alten Wahrheiten – und suchen auf einer Konferenz in Berlin nach neuen. Ihr größtes Problem sind die Dinge, die sie angeblich wissen.

Die lange als unangreifbar geltenden Theorien und Modelle taugen nicht zur Erklärung der realen Welt – so weit war man sich einig auf der Konferenz des Institute of New Economic Thinking (INET) in Berlin. Das Thema der Tagung: „Paradigm Lost“ – die verlorene Weltanschauung. Die verlorene Sicherheit.

Auf der Konferenz nahm man einige Grundlagen der herrschenden Lehre auseinander. Zum Beispiel die Annahme, die Wirtschaft finde selbstständig zu stabilen Gleichgewichten – solange der Staat sie in Frieden lässt. In solch einer Welt sind Systemkrisen nicht vorgesehen. Dieses Bild der Wirtschaft hat in den vergangenen Jahrzehnten die Politik bestimmt – mit sehr realen Folgen. Steuern für Unternehmen wurden gesenkt, Staatseigentum privatisiert, Finanzmärkte liberalisiert. Davon haben einige profitiert. Ihnen hat die herrschende Lehre in die Hände gespielt.

„Die ökonomische Wissenschaft wird erst frei sein, wenn sie sich unabhängig macht von den mächtigen Interessen der Welt – genauso wie es den Naturwissenschaften einst auch gelungen ist“, sagt Robert Johnson, Finanzinvestor und INET-Direktor.

Kritik zieht besonders das ökonomische Gesellschaftsbild auf sich. Es wird bevölkert von Menschen, die ihren Nutzen maximieren, vollständig informiert sind und ihre Entscheidungen rational auf Basis quantifizierbarer Eintrittswahrscheinlichkeiten fällen. „Menschen handeln nicht rein materiell und nutzenmaximierend“, rügt Dennis Snower, Chef des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. „Die Welt ist kein Marktplatz.“ Viele Dinge motivierten Menschen – zum Beispiel Moral, der Wunsch nach Anerkennung oder Gemeinschaftsgefühle. „Erst wenn wir wissen, was Menschen motiviert, können wir vernünftige Theorien der Kooperation schaffen“, so Snower.

Zudem verfügen die Wirtschaftssubjekte nie – wie ökonomische Modelle annehmen – über vollständige Information. Vieles ist unbekannt und unbewusst. „Wir alle sind gezwungen, Entscheidungen unter Unsicherheit zu fällen“, erklärt der russische Ökonom Sergei Guriev. So sei „jeder Kredit eine Brücke in eine ungewisse Zukunft – und sie spannt sich stets über einen Abgrund.“ Statt berechenbarer Risiken herrsche Unsicherheit in der Welt – ob etwas geschieht oder nicht, ist schlicht nicht vorherzusagen. Die Theorie jedoch unterstellt, die Menschen würden die Wahrscheinlichkeit des Eintritts bestimmter Ereignisse kennen. „Das erzählen die Professoren ihren Studenten immer wieder“, scherzt Leijonhuvwud, „bis die Studenten merken, dass sie ihren Abschluss erst machen können, wenn sie es ebenfalls glauben.“

Die Unsicherheit – also die Unberechenbarkeit der Zukunft – untergräbt jedoch die mathematischen Modelle, in die Ökonomen die Realität pressen wollen. „Die Zukunft ist offen, mathematische Modelle aber eher geschlossen“, erklärt der britische Ökonom Tony Lawson. „Hier könnte ein Widerspruch liegen.“

Unsicherheit, unvollständige Informationen, irrationales Verhalten – all dies wollen die neuen Ökonomen in ihre Theorien integrieren. Das ist eine gigantische Aufgabe. Doch selbst wenn sie gelöst wird – kommt die Wirtschaftswissenschaft dann überhaupt noch zu gesicherten Erkenntnissen über die Welt? Kann sie dann noch – denn das will sie – Handlungsanweisungen geben? Oder bleibt sie in der Aufzählung einer unendlichen Reihe von Möglichkeiten stecken? Als ersten Schritt zur Besserung plädieren die Ökonomie-Kritiker für Vielfalt im Fach. Es soll wieder eine lebhafte Diskussion verschiedener Schulen geben statt uniformierter, ewiger Wahrheiten.

Das alte Paradigma wird zerstört. Was an seine Stelle tritt, ist offen. „Paradigm Lost“, der Titel der INET-Konferenz, spielte an auf den Epos „Paradise Lost“ des englischen Dichters John Milton. In ihm werden Adam und Eva aus dem Garten Eden vertrieben, so wie viele Ökonomen derzeit aus ihrem Modell-Paradies. Es endet mit den Worten „Sie wanderten mit langsam zagem Schritt / Und Hand in Hand aus Eden ihres Wegs“. Willkommen in der wirklichen Welt.

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