Es ist nicht die Zeit für Ich-Geschichten.
Und doch vollzieht sich das menschliche Leben
oder verfehlt sich am einzelnen Ich,
nirgends sonst.“
Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein, 1964
Dieses Diktum Max Frischs fiel mir ein, als ich darüber nachdachte, ob ich das nachfolgende Gedicht, als kreativer Zeitvertreib im Winterurlaub entstanden, hier einstellen sollte. Denn in gewisser und durchaus wesentlicher Hinsicht ist dies wahrlich nicht die Zeit für Gedichte, schon gar nicht für solche aus dem humorvollen Genre. Allzu schwerwiegend und bedrückend sind die Probleme, die unsere Welt am Jahreswechsel 2016 / 17 bedrängen und zu überwältigen drohen.
Und vor allem ist kein Licht jenseits des Dunkels erkennbar. Die destruktiven Kräfte scheinen immer mehr die Oberhand zu gewinnen. Eine Umkehr hin zu konstruktiven Lösungsansätzen der strukturellen politischen, ökonomischen und ökologischen Miseren ist nicht in Sicht.
Neben dem Frisch-Zitat fiel mir zu dieser Lagebeurteilung ein bekannter Hölderlin-Vers aus seiner Patmos-Hymne ein: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Daran glaube ich nicht – stieß aber in diesem Zusammenhang auf einen hervorragenden Aufsatz des Theologen Jürgen Moltmann aus dem Jahr 2013, der die grundlegenden Probleme unserer Zeit schonungslos und in radikaler Klarheit offenlegt, und dessen Lektüre ich wärmstens empfehle.
Aber zurück zur Ausgangsfrage: jetzt auf ein Gedicht aus der humorvollen Ecke und das Schmunzeln darüber verzichten? Zumindest in einem „Denkraum“, in dem doch Problemlösungsansätze im Vordergrund stehen sollen?
Nein, entschied ich – an Neujahr darf der sorgenvolle „Geist der Schwere“ mal in den Hintergrund treten und durch ein wenig leichtfüßigen Nonsense einer gewissen Tradition, die der geneigte Leser mühelos erkennen wird, ersetzt werden.
Das graue Haar
Bei einem Herrn von 60 Jahren
fand sich noch keine Spur von Grau
in einem Meer von schwarzen Haaren,
auch wenn man suchte, haargenau.
Der Herr, von bestem Ruf und Stil
und auf sein Äußeres bedacht,
empfand, es sei ein gutes Ziel
lang zu bewahren diese Pracht.
Doch eines Morgens, aus dem Nichts,
entdeckte er, zutiefst betroffen,
beim Schein des ersten Tageslichts
ein graues Haar, ganz klar und offen.
Obwohl es eigentlich sehr zierlich
erschien’s dem Manne riesengroß
und überdies höchst despektierlich –
ein Schicksalsschlag, ganz zweifellos.
Es war einmal ein graues Haar,
in edelster Schwarzhaarfrisur
mit seidenglänzender Struktur,
nur aus der Nähe sichtbar zwar,
doch vorn am feinen Haaransatz
und ganz allein auf weiter Flur
schien es vollkommen fehl am Platz –
ein Schandfleck der Frisurkultur.
Die Sache ließ ihm keine Ruh,
das Haar war da sehr kleinlich.
Es schämte sich geradezu
und war sich furchtbar peinlich.
„Ich passe hier doch gar nicht hin,
man will mich hier auch nicht.
Ich bin die Fehlleistung schlechthin,
nur gut für ein Gedicht.
Wenn mich die schwarze Pracht besieht
wird sie mich tief verachten,
und mir als üblem Störenfried
bald nach dem Leben trachten.
Den Anderen bloß eine Bürde,
verfemter Einzelgänger,
behandelt ohne jede Würde –
das leide ich nicht länger.
Ich find mein Dasein so beschissen,
am liebsten würd‘ ich ausgerissen.“
Der Herr, jetzt wieder Handlungsträger,
ist zunehmend voll Unbehagen
als passionierter Schwarzhaarpfleger
ein schnödes graues Haar zu tragen.
Auch ihm kommt nunmehr die Idee,
den Fremdling auszumerzen,
der droht, sein ganzes Renommee
und Ansehen zu verscherzen.
Nach der Rasur, doch noch vorm Spiegel,
fasst er eine Pinzette –
mit allerfeinstem Gütesiegel,
wie ich sie auch gern hätte –
und „autsch“ – schon hat er’s ausgerissen.
Er traf es haargenau.
Wie wird er dieses einst vermissen,
wenn auch das letzte Schwarze grau.
Markus Wichmann