Offene Fragen, staunend gestellt

Unsere Welt ist in einen derart schlechten Zustand geraten, dass man sich nur über alle Maßen wundern kann – oder ungläubig staunen.

Ich frage mich, ob das an dieser Stelle nicht eine gute Haltung ist. Ein Staunen, das angesichts der Konfrontation mit bedeutenden, aber unverständlichen Ereignissen und Vorgängen entstehen kann, das jedoch der Versuchung widersteht, zu raschen Antworten aus dem Fundus der üblichen, vertrauten Denkmuster und Erklärungskategorien zu greifen. In dem die offene Frage zunächst die Weite des geistigen Horizonts suchen und sich dort umschauen darf – und so vielleicht auf Hinweise und Denkanstöße trifft, die eher an die Wurzeln der Probleme heranreichen als das Streben nach einer sofortigen, fertigen Antwort es vermag, das immer die Gefahr kurzschlüssigen Denkens mit sich bringt. Ein Sich-Wundern, das Zwiespältigkeit, Ambiguität und kognitive Dissonanz toleriert, auch wenn eine solche Toleranz zumeist als unangenehm empfunden wird. Offen bleibende Fragen mögen wir, wenn uns ihr Thema stark berührt, überhaupt nicht. (Denken Sie an die vielen Angehörigen von Verbrechensopfern, die überzeugt sind, ihr Leid wäre gelindert, wenn der Fall bis in alle Einzelheiten aufgeklärt ist.)

Dieses Sich-Wundern, das entsteht, wenn wir geistig einen Schritt zurücktreten und die vermeintliche Sicherheit vorgefertigter Erklärungsmuster vermeiden, entspricht vielleicht dem Staunen, von dem man sagt, die Philosophie sei daraus entstanden.

Hier einige Beispiele für Fragen aus unserer heutigen politischen Welt, die mir spontan einfallen, ohne dass ich eine wirklich an die Wurzeln des jeweiligen Problems gehende Antwort hätte:

  1. Wie konnte es geschehen, dass sich in Griechenland ein derart ineffektives, marodes Staatswesen entwickelt hat, ohne dass man dort gegensteuerte? Zumindest die griechischen Politiker mussten doch erkennen, dass ihr Staat auf diese Weise irgendwann gegen die Wand läuft. Heute erwähnte ein griechischer Journalist im Fernsehen, dass kürzlich weit über 200 Söhne, Töchter, Neffen und Nichten von Parlamentsabgeordneten von eben diesen zu Staatsbeamten berufen wurden, ohne dass sie dafür ausgebildet waren oder ein entsprechender Bedarf bestanden hätte. Warum sind griechische Politiker – offenbar mehr oder weniger durchgängig – nicht mit den Erfordernissen ihres Amtes identifiziert, sondern orientieren sich bei dessen Ausübung vorwiegend an ihrem persönlichen Wohl? (Ferrari-Chef und möglicher Berlusconi-Nachfolger di Montezemolo: „Wir brauchen Personen, die Politik betreiben, um etwas zu geben, und nicht, um zu nehmen.“) Wenngleich man diese Tendenz auch andernorts findet, so doch –  auch im südeuropäischen Raum – nicht in diesem schamlosen Umfang. Warum unterscheiden sich die Griechen in diesem Punkt z.B. von den Italienern, zumindest, was das Ausmaß angeht?
  2. Warum sind so viele Staaten nicht bereit, die Notwendigkeit ehrgeizigerer Klimaschutzziele anzuerkennen, sondern tun stattdessen so, als könne man sich weiteres Zuwarten leisten (vgl. die kürzliche Meldung weltweit stark gestiegender Kohlendioxyd-Emissionen)? Das Hemd ist ihnen in der Klimapolitik regelmäßig näher als der Rock, obwohl diese Länder (USA, China etc.) zunehmend von – aller Wahrscheinlichkeit nach wesentlich klimabedingten – Naturkatastrophen getroffen werden (Hurrikans, Überschwemmungen etc.).
  3. Warum ist es immer noch nicht gelungen, Israel von der Notwendigkeit zu überzeugen oder auf andere Weise dazu zu bewegen, endlich den Nahostkonflikt zu beenden und mit den Palästinensern einen halbwegs gerechten Frieden zu schließen, was das Spannungspotential im gesamten Nahen Osten beträchtlich verringern würde? Stattdessen bauen die Israelis in den besetzten Gebieten weiterhin munter eine Siedlung nach der anderen.
  4. Warum treffen politische Maßnahmen, die in vergleichbaren Ländern bereits eingeführt wurden und sich dort als unschädlich erwiesen haben (Mindestlohn, Vermögenssteuer u.a.) in anderen Staaten auf derart erbitterten Widerstand?

Diese Fragen mögen naiv erscheinen – Tatsache ist, dass die betreffenden Probleme bisher nicht gelöst werden konnten. Aus den bisher gegebenen Antworten konnten offenbar wirksame Lösungswege nicht abgeleitet werden.

Ein gemeinsamer Nenner aller vier Fragen scheint mir übrigens die Überlegenheit von Interessenlagen („Partialinteressen“) gegenüber einer Haltung der Vernunft zu sein, die sich an einem funktionierenden, gelingenden Gesamtsystem orientiert – auch in Fällen, in denen der Verzicht auf eine vernünftige Lösung schwerwiegende destruktive Folgen nach sich zieht.

Auf eine sehr grundlegende Weise äußerte sich Sigmund Freud in seiner kulturtheoretischen Schrift „Die Zukunft einer Illusion“ (1927) zu diesem Problem:

„Wir mögen noch so oft betonen, der menschliche Intellekt sei kraftlos im Vergleich zum menschlichen Triebleben, und recht damit haben. Aber es ist doch etwas Besonderes um diese Schwäche; die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat. Am Ende, nach unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch. Dies ist einer der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft der Menschheit optimistisch sein darf… („Die Zukunft einer Illusion“ Leipzig : IPV, 1927. Kapitel X, Seite 87)

Freud erkennt natürlich – wie vor ihm Schopenhauer und Nietzsche –  die tendenzielle Machtlosigkeit der Vernunft gegenüber dem menschlichen Triebleben. Doch im Jahr 1927 zeigt er sich noch optimistisch und glaubt, dass von den beiden möglichen Ausgängen dieses immerwährenden Kampfes zwischen Trieb und Vernunft die „leise Stimme des Intellekts“ am Ende Gehör findet, „nach unzählig oft wiederholten Abweisungen“.

Einige Jahre später, unter dem Eindruck der Ausbreitung des Faschismus, betont er indessen,

die am Realitätsprinzip und an den Erfordernissen des menschlichen Zusammenlebens orientierte Zivilisation  sei eine dünne, zerbrechliche Schicht, die der Sphäre des Trieblebens und des Lustprinzips abgerungen und täglich aufs Neue gesichert werden muss –

was zuweilen gelingt, häufig aber scheitert.

Zwischendurch „einfach mal abschalten“: Toll!

 

Im Ernst:

Scheinargumente in der Atomenergie-Debatte

Wie in allen interessengeleiteten Argumentationen werden in der gegenwärtigen Debatte um die Zukunft der Atomenergie anstelle stichhaltiger Argumente auch Scheinargumente verwendet.

Hier zwei Beispiele:

„Argument“: „Wer unter dem frischen Eindruck der Katastrophe in Japan seine altbekannten Begründungen gegen Atomenergie vorträgt, begibt sich zum falschen Zeitpunkt in (unehrenhafte) Niederungen von Parteipolitik.“

Dies ist ein Scheinargument. Wenn nicht unter dem Eindruck dieser Katastrophe, wann denn dann sollen Atomkraftgegner erneut auf ihre triftigen Begründungen aufmerksam machen, die in der lange andauernden Debatte über die Vertretbarkeit von Gefährdungen durch Atomkraftwerke („Restrisiko“) bereits umfangreich vorgetragen wurden.

Außerdem: Wer dies Scheinargument gestern noch als „Killerphrase“ verwandte (die Bundeskanzlerin und ihr Umweltminister), würde sich bereits heute am liebsten an die Spitze der Bewegung setzen.

„Argument“: „In der Zeit des Moratoriums wollen wir eine neue, umfassende, offene und ehrliche Diskussion führen, auf der Basis der neuen Erkenntnisse, die wir alle durch die Katastrophe in Japan gewonnen haben.“

Auch dies ist ein Scheinargument. Es gibt keine neuen Erkenntnisse, lediglich gibt es bei den bisherigen Befürwortern von Atomenergie neue Bewertungen im Lichte der Japan-Katastrophe – und im Lichte der Angst vor bevorstehenden Wahlniederlagen. Diese Neubewertungen entsprechen in etwa den Risikoeinschätzungen, die von den Atomkraftgegnern seit langem vorgenommen wurden. (s. dazu auch: Toll! Köstlich!)

Eine erneute Debatte muss ausschließlich deshalb geführt werden, um einen möglichst breiten Konsens aller gesellschaftlichen Gruppen zu erzielen. Das Ergebnis wird sein, dass die „Schwarzen“ und „Gelben“ jetzt „grüner“ werden – sich also den bekannten Argumenten der Atomkraftgegner öffnen werden.

(Über Kommentare mit weiteren Scheinargumenten würde ich mich freuen. Vielleicht führt es zu einer Zusammenstellung wie dieser.)

Zwei Fragen für die ARD-Sondersendung „Atom-GAU in Japan“

Heute abend um 20:30 Uhr bringt die ARD eine Sondersendung „Atom-GAU in Japan – Was heißt das für uns?“ – Moderation: Jörg Schönenborn – in der Experten Zuschauerfragen beantworten.

Fragen können an die Mailadresse atom(at)wdr.de gerichtet werden.

Ich habe folgende zwei Fragen eingereicht:

1.      (unter Bezugnahme auf diese Berechnungen)

Können die Experten in Ihrer Sendung bestätigen, dass

  • bei einer Steigerung der Erdbebenstärke um einen Punkt auf der Richterskala (also z.B. von 5,0 auf 6,0 ) die freigesetzte Energie um ein Vielfaches steigt – nach der beigefügten Berechnung ca. um das 30-fache?
  • in Deutschland AKWs nur für Erdbeben der Stärke ca. 5,0 ausgelegt sind?
  • es durchaus vorstellbar bzw. nicht völlig unrealistisch ist, dass es in Deutschland mal ein Erdbeben z.B. der Stärke 6,0 geben kann?
  • es in diesem Fall zu ernsten Störfällen bzw. Unfällen in deutschen AKWs kommen kann?

2.      In einem Interview mit der „Berliner Zeitung“ am 13.03.2011 antwortete der ehemalige Vorsitzende der Reaktorsicherheitskommission

(RSK), Lothar Hahn, auf die Frage, „Ist das ‚Restrisiko‘ der Nukleartechnik wirklich so klein, wie das Wort suggeriert?“: „Nein, es ist nicht klein. ‚Restrisiko‘ ist ein irreführender Begriff.“

Ich bitte Ihre Experten, den im Zusammenhang mit der Reaktorsicherheit häufig verwendeten Begriff „Restrisiko“ zu erläutern und – im Blick auf den Atomunfall in Japan – das „Restrisiko“ bei uns in Deutschland zu bewerten.

17.03.2011: