„Merkels Politikansatz abgewählt“

Auf diesen kurzen Nenner bringt es Handelsblatt-Chef Gabor Steingart heute in seinem Morning Briefing. Er schreibt:

Punktsieg für Griechen-Premier Alexis Tsipras: Die berühmte Troika, das Dreigespann aus EZB,Währungsfonds und EU-Kommission wird nicht mehr nach Athen reisen. Die Kontrollbesuche wurden dort als erniedrigend empfunden, weshalb EU-Kommissionspräsident Juncker sie nach Informationen unseres Brüsseler Büros streichen will.

Angela Merkel, deren Griechenland-Politik auf Sparvorgaben und Kontrolle beruhte, steht nun verlassen da. Wenige Tage nach der Griechenland-Wahl zeigt sich: Auch ihr Politikansatz wurde abgewählt.“

So rasch kann sich das Blatt wenden. Die Griechenland-Wahl war ein historischer Einschnitt. Auch die spanische Bevölkerung wird Angela Merkels fatale Austeritätspolitik noch in diesem Jahr abwählen.

Der Souverän, das Volk, lässt sich von schlechten Verträgen nicht beliebig drangsalieren, ob sie nun in Versaille oder in Lissabon geschlossen wurden.

 Finance Today, die tägliche Handelsblatt-Presseschau, ergänzt:

„Wir müssen jetzt schnell eine Alternative dafür finden“, zitiert das Handelsblatt aus Kreisen der EU-Kommission. Damit scheint der Spiegel recht zu behalten: Die Weigerung Athens, mit der Troika zusammenzuarbeiten, komme dem Rest Europas in Wahrheit nicht ungelegen, hatte das Magazin berichtet. Denn auch dort überwiegen die Zweifel an der Beamtendelegation.  (…)

Wie auch immer ein Kompromiss aussehen mag, er sollte schnell kommen. Griechenlands Banken fürchten um ihre Rücklagen. Die Institute könnten schon Mitte Februar Nothilfen benötigen, berichtet der Spiegel.

Unterdessen sorgt Athens Beispiel für Nachahmer: Bis zu 300.000 Anhänger der Linkspartei Podemos sind am Wochenende in Madrid aus Protest gegen die Sparpolitik der Regierung auf die Straße gegangen. Im Superwahljahr 2015 soll der Partei – so wie Syriza in Griechenland – der Wahlsieg gelingen. (Standard)“

„Die Fehler des Westens“ – Panorama-Beitrag zum Ukraine-Konflikt

Einen erhellenden Beitrag zum Konflikt um die Ukraine brachte die Panorama-Sendung am 29.01.2015.

„Wer umzingelt hier eigentlich wen?“ war die Ausgangsfrage von Moderatorin Anja Reschke, und neben den früheren Außenministern James Baker (USA) und Alexander Bessmertnych (Russland) konnten sich so vernünftige Leute dazu äußern wie der ehemalige Genscher-Mitarbeiter und Spitzendiplomat Wolfgang Ischinger, Kohl-Berater Horst Teltschik („Wir haben viele Chancven verschlafen“) und – mit bemerkenswerter Offenheit – der frühere Nato-General Harald Kujat. Sehenswert!

Rückkehr zum Kalten Krieg?

„Denn sie wissen nicht, was sie tun“ überschreibt Jakob Augstein seine heutige Spiegel-Kolumne, in Anspielung auf den gleichnamigen James-Dean-Film, in dem der Protagonist „nur durch Glück das ‚Hasenfußrennen‘ überlebt“, sein Kontrahent jedoch in den Abgrund stürzt. Augstein sieht Russland und den Westen auf dem besten Weg zu einem ähnlich halsbrecherischen Spiel mit dem Feuer:

„Markige Worte und militärische Manöver: An ihrer Ostgrenze will die Nato gegenüber Russland jetzt Stärke zeigen. Der Kalte Krieg ist zurück. Nicht mal 25 Jahre hielt die Entspannung.“

In der Tat: Im Ukraine-Konflikt wird munter eskaliert, von allen wesentlichen Akteuren. Wahrlich auch vom Westen. Allen voran vom demnächst gottlob ausscheidenden NATO-Generalsekretär Rasmussen, berüchtigt für seine aggressive militaristische Rhetorik:

Einige (…) Verbündete [finden], dass Rasmussen den Konflikt mit dem östlichen Nachbarn unnötig angeheizt hat. Woche für Woche irritierte er die Westeuropäer einschließlich Berlin mit Äußerungen, die nicht dem diplomatischen Lehrbuch entsprechen. Mal stellte er der Ukraine und anderen osteuropäischen Staaten einen Nato-Beitritt in Aussicht. Mal bestätigte er angebliche Grenzverletzungen Russlands, auch dem russischen Hilfskonvoi unterstellte er sofort und öffentlich böse Absichten. (Spiegel online, 04.09.2014)

Bereits Mitte Mai hatte Rasmussen mehr Militärausgaben und neue Verteidigungspläne der NATO für Osteuropa gefordert und Anfang August Vollzug gemeldet. Auf dem in diesen Tagen in Wales stattfindenden NATO-Gipfel werden diese gegen Russland gerichteten militärischen Maßnahmen nun beschlossen, die der Abschreckung dienen und den als alleinigen Aggressor ausgemachten Putin einschüchtern sollen (NATO-Manöver in Osteuropa; Gründung einer 4000 Mann starken „schnellen Eingreiftruppe“; wer ernsthaft glaubt, Putin damit abschrecken zu können, informiere sich über die russischen Streitkräfte.).

Jakob Augstein:

„Man wird sich an diesen Tag erinnern. Er besiegelt den Neubeginn des Kalten Krieges. Ab jetzt regiert wieder die irre Logik der Militärs. Das wäre vermeidbar gewesen. Wenn es denn jemand hätte vermeiden wollen. Die Russen wollten nicht – und wir im Westen auch nicht. „It takes two to tango“, hat Ronald Reagan einmal zum US-sowjetischen Verhältnis gesagt. Das gilt für die Entspannung ebenso wie für die Konfrontation. (…)

Hinter uns lassen wir (…) die Trümmer der Entspannungspolitik. Wir konnten ihre Früchte nicht einmal 25 Jahre lang genießen.“

Bei Maybritt Illner diskutierten dazu sehr treffend der ehemalige Generalinspekeur der Bundeswehr und Vorsitzende des NATO-Militärausschusses Harald Kujat, EU-Parlamentspräsident Martin Schulz und der Philosoph und Publizist Richard David Precht. Hier ein kurzer Ausschnitt:

Selbstverständlich wissen die Akteure, wie Eskalation funktioniert. Wer sich jemals mit der Zuspitzung von Konflikten befasst hat, kennt z.B. die Eskalationsstufen, die Friedrich Glasl erstmalig 1980 beschrieben hat.

Konflikteskalation nach Glas

 

Glasl, Konfliktmanagement, 11. Aufl. Glasls Standardwerk zum Konfliktmanagement ist inzwischen in 11. Auflage erschienen. Übrigens auch auf russisch. Die Konflikt- und Friedensforschung erarbeitete zudem detaillierte Glasl, Konfliktmanagement auf RussischHandlungsanleitungen zum Ausstieg aus Eskalationsszenarien.

Man weiß also, wie man in einem politischen Konflikt deeskalierend agieren könnte,  tut es aber nicht. Auch der Westen nicht, in seiner Gesamtheit. Steinmeier, Merkel und EU-Parlamentspräsident Schulz mal ausgenommen.

Demzufolge sehen wir uns heute mit einer politischen Lage konfrontiert, in der die bisherige europäische Friedensordnung in Auflösung begriffen ist und ein neuer Kalter Krieg mit Russland immer wahrscheinlicher wird. Es stellt sich die Frage, warum der Westen an der Eskaltionsspirale, die zu diesem fatalen, folgenschweren Ergebnis geführt hat, so leichtfertig mitgestrickt hat – im Sinne der Spieltheorie: „mitgespielt“?

Nochmal Jakob Augstein:

„Das Denken des Kalten Krieges folgte der ausweglosen Logik der Spieltheorie: Rechne stets mit den schlechtesten Absichten und den besten Fähigkeiten deines Feindes. Jetzt wird wieder so gedacht. Was will Putin? Wäre es ihm nur um die Krim gegangen, dann könnte er sich jetzt zurückziehen. Denn die Krim wird dem Kreml-Herren niemand mehr streitig machen.

Warum der unerklärte Krieg in der Ostukraine? Da ist kein langes Kopfkratzen nötig: Putin will den Westen zerstören – nach dem Motto: Rechne mit den schlechtesten Absichten … Darauf gibt es nur eine Antwort: stark sein, hart sein. Niemand will den neuen Chamberlain geben und bloß kein neues München! Aber Putin ist nicht Hitler. Dass er Walhalla-Weltuntergangsfantasien à la Führer hätte, ist nicht bekannt. Die Kanzlerin sagt, er lebe „in seiner eigenen Welt“. Die „Zeit“ schreibt ihm „Einkreisungsfantasien“ zu. 

Die Wahrheit ist: Putin hat lange zugesehen, wie ihm Nato und EU immer näher rückten. Bei der Ukraine war Schluss. Der Westen musste das wissen.“ 

Das ist genau der Punkt. Die entscheidenden Fehler wurden bereits im Vorfeld des Ukraine-Konflikts gemacht. Man ist Russland zu dicht auf die Pelle gerückt. Mit seinen hochentwickelten politischen, wirtschaftlichen und militärischen Institutionen war der Westen im Begriff, sich leichtfertig und unüberlegt in Russlands Vorgarten breit zu machen.

Wenn eine ehemalige kommunistische Großmacht sich durch ihren Zerfall gedemütigt fühlt, dann aber einen eigenen (durchaus problematischen – Stichwort: Oligarchen) Weg zum Kapitalismus einschlägt, sollte man ihr die Tür öffnen und den Weg ebnen, bei den verbliebenen neuralgischen Punkten  jedoch schonend, umsichtig und sensibel mit ihr umgehen. Sie durchaus mit Samthandschuhen anfassen, wenn ihre Empfindlichkeiten berührt werden.

Allemal, wenn diese ehemalige Großmacht über Bodenschätze verfügt, von denen wir mittlerweile abhängig sind, und über Streitkräfte und militärische Möglichkeiten in einer Größenordnung, dass man sich damit ganz gewiss besser nicht anlegt.

Und übrigens auch dann, wenn der Präsident dieser ehemaligen Großmacht mitnichten ein lupenreiner Demokrat, sondern ein mit allen KGB-Wassern gewaschener, von geopolitischer Expansionslust geleiteter skrupelloser Saukerl sein sollte. 

Ergänzung am 14.09.2014:
18.09.2014: Vietnamisierung der Ukraine?

Gabor Steingart, klarsichtiger, blitzgescheiter und daher zurecht renommierter Journalist, derzeit Handelsblatt-Verlagschef, schreibt montags bis freitags zu früher Stunde einen kurzen, meist brillant formulierten Newsletter, das Handelsblatt Morning Briefing. Die heutige Ausgabe enthält eine Passage, die ich Denkraum-Lesern nicht vorenthalten möchte (Hervorhebungen teilweise von mir):

„Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hält heute eine Rede vor dem US-Kongress. Danach wird wahrscheinlich ein neuer millionenschwerer Scheck für weiteres Kriegsgerät ausgestellt. Die Vietnamisierung der Ukraine nimmt damit ihren Lauf. Dabei ist ein Ausstieg aus der Spirale von Drohung und Gegendrohung, von Gewalt und Gegengewalt durchaus denkbar. Bertolt Brecht wusste, wie das geht: ‚Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.‘

Zur Umkehr rät auch unser heutiger Gastkommentator Friedbert Pflüger, einst Außenpolitiker der CDU und heute Institutsleiter am King‘s College in London: ‚Es gibt keine Lösung der Ukraine-Krise, keine wirksame Terrorbekämpfung, keinen Frieden ohne Russland. So sehr wir Putins Politik kritisieren: Unser Interesse ist der Ausgleich.'“

„Gerät die Welt aus den Fugen?“ – Sehenswerte Beckmann-Sendung

Wer sich dafür interessiert, wie führende deutsche Intellektuelle die gegenwärtige politische Weltlage einschätzen, dem empfehle ich wärmstens die Diskussion bei Beckmann vom 28.08.2014: Krisen, Krieg und hilflose Mächte – gerät die Welt aus den Fugen?

Die Teilnehmer:

Wolf von Lojewski (ehem. ARD-Korrespondent in Washington)

Gabriele Krone-Schmalz (frühere ARD-Korrespondentin in Moskau)

Stefan Kornelius (Ressortleiter Auslandspolitik der „Süddeutschen Zeitung“) 

Prof. Harald Welzer (Soziologe) 

Prof. Herfried Münkler (Prof. für Politikwissenschaften an der HU zu Berlin)

Vor allem den beiden Professoren und der wie immer streitbaren Frau Krone-Schmalz gelang es, eine Diskussion mit erheblichem Erkenntniswert und  Tiefgang zu führen und einen profunden Einblick in die verschiedenen Denk- und Bewertungsansätze zu geben, die zur gegenwärtigen weltpolitischen Lage in intellektuellen Kreisen derzeit im Umlauf sind.

Ergänzung am 31.08.2014:

Fast tagesgenau vor drei Jahren schrieb ich einen Beitrag für den Denkraum mit dem Titel „‚Die Welt ist aus den Fugen‘: von der Macht der Finanzwirtschaft und der Ohnmacht der Politik“, in dem ich einen politischen Essay der Journalistin Tissy Bruns vorstellte, die leider im Februar 2013 61jährig einer Krebserkrankung erlag. In ihrem im Berliner Tagesspiegel erschienenen brillanten Essay ging es um das damalige politische Großthema, die Finanzsystemkrise.

Aus zwei Gründen weise ich an dieser Stelle noch einmal auf diesen Beitrag hin: Zum einen, um an eine ausgezeichnete, viel zu früh verstorbene Journalistin zu erinnern, zum anderen, um zu unterstreichen, dass die Krise unseres Finanzsystems, die Tissy Bruns so treffend analysiert hatte, keineswegs bewältigt ist, sondern von den Konfliktschauplätzen Naher Osten und Ukraine derzeit lediglich medial übertönt wird.

Treffender gesagt befindet sich das Weltfinanzsystem nicht in einer Krise, sondern hat sich in den letzten 20 – 30 Jahren zu einer völligen Fehlkonstruktion entwickelt (s. auch Rethinking Economics und meine Beiträge über die Forschungen von Thomas Piketty; s. auch hier).

Endzeit der EU?

Die wahrhaft historische Dimension dieser für die gestaltenden politischen Kräfte desaströsen Europa-Wahl wird von wenigen Kommentatoren so treffend erfasst wie von dem Spiegel-Kolumnisten Georg Diez. In seinem klugen, tiefgreifenden Kommentar prognostiziert Diez „das Ende der Europäischen Union“.

„Wenn die Historiker später mal verstehen wollen, wie die EU eigentlich gescheitert ist, verraten von den Eliten und nicht von der Bevölkerung, dann werden sie diese Tage studieren, Ende Mai 2014: Als die Willkür und die Lügen unerträglich wurden und die Pappkonstruktion der EU sich in all ihrer schäbigen Wackeligkeit zeigte.“

Wegen des flachen, dekadenten Medienechos auf das Wahlergebnis geht Diez mit den Mainstream-Journalisten hart ins Gericht. 

Am Montag nach der Wahl hätten fast alle noch so getan,

 „als sei nichts gewesen, diese Wahl ein Hagelsturm aus dem Nirgendwo, ein Frühlingsgewitter, das vorüberzieht, sie wollten ihre Papierhüte aufsetzen und weiterwursteln – während sich die französische Demokratie gerade in ihre Bestandteile zerlegt mit dem Triumph des Front National und der Korruption von Sarkozys UMP und einem anämischen Sozialisten als Präsidenten, da redeten sie in den Zeitungen, wie immer, über innenpolitische Scharaden und das Postengeschacher, diese Ersatzbefriedigung eines sinnentleerten politischen Journalismus.“

Vor allem bei ARD und ZDF habe es so gewirkt,

„als säßen dort ein paar bezahlte EU-Politkommissare, die die Nachrichten schreiben: Speziell nervend wie immer Udo van Kampen, hechelnd im Tonfall, Brüssel sei voll von Gerüchten, wer wird was, es geht ums „Tableau“ – alles wie immer, seufzte auch Claus Kleber pseudokritisch, wie kann es aber auch anders sein, wenn die Medien einfach das in diesen Tagen fast klischeehaft zynische Spiel der Politik mitspielen und sich damit gleich selbst mit überflüssig machen.

Alles, was sie interessiert, ist das Kräuseln auf der Oberfläche der Macht – kein Wort über Inhalte, Wahrheiten, Positionen, kein Wort über die Gründe dieses Wahlergebnisses, kein Innehalten und Nachdenken mal darüber, was das alles bedeutet – stattdessen panisches Vorwärts, nur weg von der Frage, ob dieses Ergebnis nicht schlicht und einfach das Resultat von falscher Politik ist, ein kollektives Scheitern, fast ein Systemversagen, bei dem Journalisten einen Teil der Schuld tragen, wenn sie etwa in der „FAZ“ nach der Wahl ernsthaft schreiben, Deutschland sei ein „Stabilitätsanker in stürmischer See“, wo doch Deutschlands Egoismus den Sturm erst so richtig entfacht hat. (…)

Warum degradieren sich Journalisten gerade zu Narren oder schlimmer noch, zu traurigen Nebendarstellern im absurden Theater unserer Gegenwart – ein wenig wie Winnie in Samuel Becketts Stück „Glückliche Tage“, die erst bis zur Hüfte und dann bis zum Hals in die Erde verbuddelt ist und trotzdem immer wieder delirierend, beschwörend singsangt, was für ein schöner Tag auch dieses Desaster gewesen sein wird. (…)

Die NSA-Sache zum Beispiel: Auch hier hat der Generalbundesanwalt Range entschieden, im organisiertesten Angriff auf den Rechtsstaat der vergangenen Jahre keine Ermittlungen aufzunehmen – man kann den rechtspopulistischen Parteien einiges vorwerfen, aber wenn die Demokraten selbst die Demokratie mit solcher Verachtung behandeln, sie benutzen und verbiegen, bleibt den Le Pens und Luckes dieser Welt fast nichts mehr zu tun.

„Euroskeptisch“ oder „eurokritisch“, das sind die Worte, auf die man sich geeinigt hat, um diese Parteien mit ihrem zum Teil rassistischen Programm zu beschreiben – aber diese Worte sind zu unscharf und falsch wie so vieles dieser Tage, eine Verkürzung und Verdrehung: Der Protest richtet sich doch in weiten Teilen nicht gegen den Euro an sich, sondern zuerst gegen eine Politik, die Banken rettet zum Preis ganzer Volkswirtschaften.

Das ist der Kern der Krise – selbst Merkels Juncker-Trick ist da nur Oberfläche. Juncker, dessen Programm wie das von Martin Schulz im Wahlkampf eh keine Rolle spielte, würde das ewige Weiter-So garantieren, das genau das Problem der EU ist. Es ist ein typisches Brüsseler Paradox: Der Streit über das demokratische Defizit berührt noch nicht mal ansatzweise das tatsächliche demokratische Defizit der EU.

Vielleicht ist das alles aber auch ganz einfach wohl orchestriert – denn wenn sich die Leute über Merkel und Juncker aufregen, wenn sie jetzt aufatmen, dass er es doch wird, vielleicht: Dann vergessen sie am Ende, dass es um ganz andere, viel grundsätzlichere Dinge geht. (…)“

Sie vergessen es nicht, es war ihnen nie wirklich bewusst – weder dem Gros der deutschen Bürger, denen es – als Euro-Profiteuren – ja einigermaßen gut geht, noch den Journalisten. Dünn gesät sind die Intellektuellen, die die grundsätzlichen, wesentlichen ökonomischen Zusammenhänge durchschauen.

Einige Augenöffner:

  •  Europas Krisenpolitik: Merkels Politik nutzt nur dem KapitalHarald Schumann – Tagesspiegel, 29.05.2014
    • „Thomas Pikettys Buch trifft offensichtlich einen Nerv. Die Reichen werden reicher und die Armen ärmer. Doch die Politik macht alles nur noch schlimmer. Angela Merkels Krisenpolitik nutzt dem Kapital – und die Rettung des Euro bezahlen am Ende die Armen.“
  • Die Verantwortung der von Merkel u.a.m. betriebenen Politik für die Erfolge der Rechtsextremen und für die erkennbare Abkehr von der EU wird erstaunlich selten thematisiertAlbrecht Müller – Nachdenkseiten, 28.05.2014
    • „Auch nur ein kleiner Rückblick auf die europäische und Weltwirtschaftsgeschichte müsste einem klarmachen: Wenn hohe Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Not herrscht, wenn berufliche Perspektiven und soziale Sicherheit schwinden, dann ist es kein Wunder, dass die Menschen hilflos nach politischen Rettungsankern bei den Rechten suchen, die Schuld den Ausländern und Minderheiten zuschieben oder sich aus der politischen Beteiligung verabschieden. Es sei denn, die Verantwortlichen werden wie von der griechischen Linken richtig benannt. Die Politik der Bundesregierung und der sie tragenden Kräfte hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Volkswirtschaften Europas stagnieren und Arbeitslosigkeit in einzelnen Ländern geradezu explodiert. Wir haben anderen Völkern eine „Spar- und Reformpolitik“ aufgezwungen und die Europäische Kommission hat in ideologischer Verblendung dabei versagt, die Leistungsbilanzen und die Wettbewerbsfähigkeiten in Europa einigermaßen im Lot zu halten.“
  • Europa ist prima, aber die in Brüssel, Berlin u.a.m. herrschende Ideologie ist fürchterlich und ein Versager – Albrecht Müller – Nachdenkseiten, 20.05.2014
    • „Am 8. Mai hatte ich in Zagreb eine Diskussion mit interessanten Gästen der Friedrich Ebert Stiftung Zagreb. In Kroatien wie in anderen Staaten Europas kann man beobachten, dass die Idee von Europa und der Anspruch der Repräsentanten der Europäischen Union einerseits und die wirkliche wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Völker Europas andererseits meilenweit auseinander liegen. Brüssel hat in zentralen Fragen der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik versagt. Der in Europa jetzt herrschende Geist ist nicht einmal von Solidarität geprägt. Man müsste diese Ideologie am kommenden Sonntag abwählen können. „
  • Warum behaupten sich die neoliberalen Ideen so hartnäckig? – Prof. Mark Thatcher, Prof. Vivian A. Schmidt – Gegenblende, 17.12.2013
    • „Das klägliche Scheitern der neoliberalen Politikangebote wirft die Frage auf, weshalb diese so hartnäckig die europäische Politik beherrschen und ob es daraus einen Ausweg gibt. Trotz der Wirtschaftskrise, die die USA und Europa 2008 mit voller Wucht traf, haben die politischen Eliten kaum einen Versuch unternommen, die neoliberalen Ideen zu hinterfragen, die zu einem großen Teil für die Blasen und deren Platzen verantwortlich sind. Genauso wenig haben sie realisiert, wie übertrieben die „Great Moderation“ tatsächlich war. Ganz im Gegenteil, die neoliberalen Ideen erscheinen weiterhin als alternativlos. Die Re-Regulierungen im Finanzbereich, wo die Krise begann, bleiben in beschämender Weise ungeeignet. Die einzigen Ideen, die verfolgt werden, sind neoliberal, entweder zugunsten weiterer ‚marktfördernder’ Regulierungen oder sie folgen noch mehr dem „Laissez-faire“-Prinzip. Das größte Rätsel stellt jedoch die Krisenreaktion der Eurozonen-Länder dar, die sich durch Austeritätspolitiken der Marktdisziplin unterworfen haben und dadurch selbst zu niedrigem oder gar keinem Wachstum verdammt sind. Dagegen waren die Vereinigten Staaten wirtschaftlich erfolgreicher, obwohl sie gespalten sind in republikanische Fundamentalisten, die Austeritätspolitiken fordern, und eine pragmatischere politische Führung, die eine Wachstumspolitik verfolgt. Unsere Frage ist also: Wie können wir die Hartnäckigkeit neoliberaler Ideen erklären? Warum haben diese Ideen nicht nur seit den 1980er Jahren überlebt, sondern sind auch noch dominant geblieben?“

Krauses Klartext

Außergewöhnlich scharf empörte sich der langjährige Chef des ARD-Studios Brüssel, Rolf-Dieter Krause (WDR), in den gestrigen Tagesthemen über einen von Bundeskanzlerin Merkel „in aller Offenheit“ geplanten „politischen Betrug“ an den Wählern.

Hier der Text seines bemerkenswerten Kommentars.

„Das ist mir noch nicht passiert, dass ich der Bundeskanzlerin in einer Pressekonferenz gegenüber saß und so langsam die Fassung verlor. Denn Frau Merkel plant in aller Offenheit einen Betrug – Betrug nicht im Sinn des Strafrechts, aber politischen Betrug. Betrug an Ihnen, den Wählern.

Jahrzehntelang haben die Parteien uns angebettelt, bei der Europawahl wählen zu gehen. Sie mussten betteln, weil nicht so recht klar war, über was wir Wähler da entscheiden sollten. Das sollte diesmal anders sein. Deshalb haben die großen politischen Parteifamilien europäische Spitzenkandidaten aufgestellt. Wir Wähler sollten entscheiden, wer Chef der Brüsseler Kommission wird.

Schon wahr, formal muss der von einer Mehrheit der Staats- und Regierungschefs vorgeschlagen werden, aber das sollte kein Problem sein. Fast alle Regierungschefs waren daran beteiligt, die Spitzenkandidaten zu nominieren. Nur die Briten haben nicht mitgemacht. Sie wissen ohnehin nicht, ob sie unserem Verein, der EU, weiter angehören wollen. Aber den Vorsitzenden, den wollen sie jetzt bestimmen. Darauf will Frau Merkel Rücksicht nehmen.

Es gibt schon Überlegungen, dass Jean-Claude Juncker aus gesundheitlichen Gründen seinen Rückzug erklären könnte, um das möglich zu machen.

Ja, geht’s noch?

Ich fände es zwar todtraurig, verließe Großbritannien die EU. Aber damit darf es uns nicht erpressen. Herr Cameron ist wichtig. 370 Millionen Wähler sind wichtiger. Die Spitzenkandidaturen waren ein politisches Versprechen. Wenn das gebrochen wird, muss sich niemand wundern, wenn die Bürger sich von Europa abwenden.

Das Spiel der Kanzlerin treibt den Europagegnern die Wähler zu. Dieses Spiel ist nicht nur eine Schande, es ist ungewöhnlich dumm.“

Siehe auch:
  • Angela NazionaleJakob Augstein – Spiegel Online, 29.05.2014
    • „Verachtung? Ist es das, was unsere Kanzlerin in Wahrheit für die Menschen empfindet? Verachtung ist das Gegenteil von Respekt – und weniger Respekt als Angela Merkel jetzt den Wählern in Europa erwiesen hat, kann man als Politiker nicht an den Tag legen. Zwei Kandidaten wollten Kommissionspräsident werden. Es gibt Wahlen. Der Konservative gewinnt. Das Europäische Parlament sichert ihm Unterstützung zu. Aber Angela Merkel sagt: Abwarten! Das berüchtigte „demokratische Defizit“, das so viele Menschen an Europa beklagen, hier hat es Gesicht und Namen.“
  • Kampf um Kommissionsspitze: Merkel drohte mit Votum gegen Juncker –  Spiegel Online, 01.06.2014
    • „Nicht nur der Brite Cameron machte beim EU-Gipfel Front gegen Jean-Claude Juncker als nächsten Kommissionspräsidenten. Nach SPIEGEL-Informationen drohte auch Kanzlerin Merkel zunächst mit einem Nein. Das Votum des EU-Parlaments bezeichnete sie als „Kriegserklärung“.“
  • The Democratic Deficit: Europeans Vote, Merkel Decides – Spiegel Staff, 02.06.2014
    • „Before the European Parliament election last month, voters were told the poll would also determine the next Commission president. In a silent putsch against the electorate, Angela Merkel is now impeding the process. She fears a loss of power and Britain’s EU exit.“
Nachtrag 30.05.2014:
  • Merkel lenkt ein. Auf dem deutschen Katholikentag stellte Angela Merkel sich klar hinter Jean-Claude Juncker als zukünftigen Kommissionspräsidenten und sagte, in diesem Sinne werde sie nun ihre Gespräche führen.

Claus Offes Analyse der Eurokrise

Anlässlich seines Vortrags „Europa in der Euro-Falle? Verlegte Rückwege, ungewisse Auswege“ auf Einladung der Aachener Initiative „Europäische Horizonte“ gab Claus Offe, einer der renommiertesten deutschen Politik- und Sozialwissenschaftler, den Aachener Nachrichten am 14. Mai 2014 ein Interview zur Krise der EurozoneClaus Offe begann seine wissenschaftliche Karriere in Frankfurt als Assistent von Jürgen Habermas. Es folgten Professuren in Bielefeld, Bremen und Berlin. Seit 2005 gehört der 74-Jährige zum Professorium der Hertie School of Governance Berlin.

Herr Offe, aus dem Umfeld der Bundeskanzlerin verlautet in jüngster Zeit häufig, die Wirtschafts- und Finanzkrise in Europa sei weitgehend ausgestanden. Stimmt das oder ist es nur der Versuch, kurz vor der Europawahl das eigene Krisenmanagement in ein positives Licht zu rücken?

Offe: Die Behauptung, die Krise sei vorbei, ist reiner Wahlkampf. Die meisten Staatshaushalte sind weiterhin schwer angeschlagen. Die Zinsen, die die Staaten für ihre Schulden an Banken zahlen müssen, machen teilweise mehr als zehn Prozent ihrer Haushalte aus. Dieses Geld fehlt für Straßenbau, für Wirtschaftsförderung, für Beschäftigungspolitik, für soziale Leistungen.

Griechenland weist erstmals seit Jahren wieder einen Primärüberschuss im Staatshaushalt auf. Hat die Bundesregierung Unrecht, wenn sie das als großen Fortschritt feiert?

Offe: Wir sprechen über ein künstlich aufgemotztes Erholungsphänomen. Die Wirtschaftsleistung des Landes ist in fünf Jahren um 23,5 Prozent gesunken und die Jugendarbeitslosigkeit auf 60,4 Prozent gestiegen. Dass der Staatshaushalt einen Primärüberschuss aufweist, bedeutet nicht, dass das Land einen ausgeglichenen Haushalt hat. Bei dieser Rechnung werden nämlich sämtliche Zinszahlungen ausgeklammert. Die erzwungene Sparpolitik treibt die Staatsschulden im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung weiter hoch.

Trotzdem konnte das Land an die Finanzmärkte zurückkehren. Fast gleichzeitig hat die portugiesische Regierung angekündigt, den Euro-Rettungsschirm verlassen zu wollen. Sind das nicht Hinweise auf ein baldiges Krisenende?

Offe: Richtig ist, dass nach der Ankündigung von EZB-Chef Mario Draghi, den Euro notfalls durch den Ankauf von Staatsanleihen zu retten, die Spekulationen der Finanzmärkte gegen Länder wie Griechenland und Portugal nachgelassen haben. Doch das ist kein Indikator für verbesserte Schuldentragfähigkeit. Derzeit schwirrt weltweit so viel anlagesuchendes Kapital herum, dass Anleger vielleicht bescheidener geworden sind und sich bei den Defizitländern mit weniger als fünf Prozent Rendite zufrieden geben. Von einer nachhaltigen wirtschaftlichen Erholung kann nun wirklich keine Rede sein. Außerdem ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt und die soziale Situation vor allem in Griechenland, Portugal und Spanien nach wie vor verheerend.

Sind für die gängige Krisendefinition soziale Verwerfungen völlig unerheblich?

Offe: Der Eindruck drängt sich auf. Angela Merkel jedenfalls hat mit der zunehmenden Armut in vielen Euro-Ländern offenbar kein Problem. Ihre Priorität lautet: Die Finanzmärkte müssen ruhig sein.

Wann würden Sie denn von einem Ende der Krise sprechen?

Offe: Wenn sie sich nicht mehr wiederholen kann. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat einen richtigen Satz gesagt. Er lautet: „Würden wir noch einmal eine Krise bekommen wie 2008, dann stünde nicht nur die marktwirtschaftliche Ordnung auf dem Spiel, sondern die gesamte Gesellschaftsform der westlichen Demokratie.“ Dieser Satz wirft ein Licht auf die angstschlotternde Unsicherheit, die gerade auf der Leitungsebene hinter der Fassade andauert.

Woher rührt diese Angst?

Offe: Viele wissen, dass es zwei Grundprobleme gibt. Nämlich die falsche Konstruktion der Euro-Zone und den akuten Mangel an europäischer Politikfähigkeit. Die weniger entwickelten Länder der Währungsunion können heute keine eigene Währungspolitik mehr betreiben. Das hat nicht, wie anfangs leichtfertig erhofft, dazu geführt, dass sich die Wirtschaftskraft der einzelnen Euro-Staaten langsam angleicht. Die Sozialpolitik ist auf dem Papier Sache der Staaten. Aber die Euro- und Schuldenkrise nimmt ihnen die Mittel, sie zu bezahlen.

Das heißt also, der Euro gehört abgeschafft?

Offe: Um Himmelswillen: Nein! Die Abkehr vom Euro ist uns verbaut. Sie ist zum einen technisch nur extrem schwer machbar. Zum anderen hätte ein Ende des Euro für die gesamte europäische Wirtschaft, vor allem aber für die deutsche Exportindustrie und damit auch für den deutschen Arbeitsmarkt verheerende Folgen. Die Abschaffung will auch im Ernst niemand, der bei Sinnen ist und gerade die deutschen Wirtschaftsinteressen im Blick hat.

Wie können denn die Probleme gelöst werden?

Offe: Ganz gewiss nicht durch die in den vergangenen Jahren betriebene Austeritätspolitik. Das Absenken von Löhnen, von Renten und von öffentlichen Dienstleistungen hat nur die Kaufkraft weiter Bevölkerungsteile geschwächt und zu einem gewaltigen Nachfrageausfall geführt. Wenn aber Investoren damit rechnen, dass sie für ihre Produkte keine Abnehmer finden, investieren sie eben immer weniger. Deshalb droht uns heute in der Euro-Zone eine Deflation, eine Abwärtsspirale von Löhnen und Preisen, Investitionen und Staatseinnahmen. Der einzige Weg zur Rettung der Währungsunion ist ein großes Umverteilungsprogramm. Dieses besteht (wie in einem ordentlichen Bundesstaat ja durchaus üblich) in der Umverteilung zwischen Ländern und Regionen – zum Beispiel in einem gemeinsamen europäischen Schuldentilgungsfonds. Wir brauchen auch die Umverteilung zwischen sozialen Klassen – Stichwort: Vermögenssteuer. Und wir brauchen ebenso die Umverteilung zwischen den Generationen.

Ein Umverteilungsprogramm zugunsten anderer Länder ist in Deutschland politisch nur sehr schwer durchsetzbar. Eine Mehrheit der Bevölkerung glaubt doch schon heute, viel zu hohe Lasten für andere Länder tragen zu müssen.

Offe: Das weiß ich. Die Umverteilung muss deshalb auf EU-Ebene organisiert werden. Ihr müssen zusätzliche Kompetenzen zugewiesen werden – selbst in der Sozialpolitik. Deutschland wird sich zurücknehmen und wie alle anderen Staaten Souveränitätsrechte abtreten müssen.

Angesichts der auch in Deutschland verbreiteten Ressentiments gegenüber Brüssel wird sich kaum ein Politiker trauen, so etwas zu fordern.

Offe: Dabei liegt es im deutschen Eigeninteresse, dass die anderen Euro-Länder wirtschaftlich wieder auf die Beine kommen. Wenn ihre Erholung ausbleibt und die Länder tatsächlich zahlungsunfähig werden, wird es für Deutschland richtig teuer. Nicht nur, weil die Länder ihre Schulden nicht mehr zurückzahlen können und deutsche Bürgschaften aus dem Rettungsschirm fällig werden, sondern weil sie als zahlungsfähige Abnehmer deutscher Produkte ausfallen. Eine seriöse Rettungspolitik bedeutet: auf demokratische Weise europäisch durchstarten.

Trotzdem bleiben wir im Trott der Troika-Diktate mit der Devise, jeder könne und müsse seine eigenen Sachen in Ordnung bringen. Warum?

Offe: Weil wir Politiker haben, die sich meist opportunistisch und ängstlich nach den Ressentiments im Wahlvolk richten – statt aus den Fehlern des Euro zu folgern, dass es nur noch vorwärts gehen kann in Europa. Wir brauchen aber Politiker, die den Ehrgeiz und das Selbstbewusstsein haben, ihre Wähler aufzuklären. Sie müssen die Zukunft heranholen, statt sie zu beschweigen und mit Gerede von der „schwäbischen Hausfrau“ zu verdrängen. Parteien haben ja den Auftrag, an der politischen Willensbildung „mitzuwirken“. Kohl hatte noch europäische Ambitionen. Merkel geht es nur um Machterhaltung – koste es Europa, was es wolle.

Was sollte Angela Merkel zu einer Änderung ihres bisherigen Kurses veranlassen? Innenpolitisch steht sie doch gerade auch wegen ihrer harten Sparvorgaben für andere Länder hervorragend da.

Offe: Gleichzeitig aber sind das Ansehen und die Reputation der deutschen Politik im Ausland im Keller. Ungefähr vier Fünftel der Italiener und Franzosen meinen, dass der deutsche Einfluss – konkret: der von „Madame Non“ – in Europa zu groß ist. Bundespräsident Joachim Gauck hat dazu sinngemäß gesagt: „Ich hasse es, gehasst zu werden“.

In Europa ist derzeit überall ein Rückzug auf nationale Denkmuster zu beobachten. Wie kommt das?

Offe: Es gibt drei europäische Wertbezüge. Nämlich Frieden, Prosperität und Demokratie. Die sind leider alle ein bisschen durchgewetzt. Beim ersten Punkt erleben wir gerade, dass in unserer östlichen und südlichen Nachbarschaft kein Frieden herrscht und wir wenig zu tun vermögen, ihn wiederherzustellen. Dass beim Thema Prosperität und Verteilungsgerechtigkeit einiges schief läuft, ist überall das aktuelle Großthema. Und Demokratie? Auch um sie steht es nicht so trefflich; ich nenne nur die Stichworte Ungarn und NSA-Skandal.

Wie schaffen wir es, dass die Menschen sich wieder stärker zu einer europäischen Identität bekennen?

Offe: Wir müssen Europa so umbauen, dass die Brücke zwischen dem Willen der Bürger und den Entscheidungen der Eliten nicht einbricht. Deshalb muss das Europaparlament gestärkt und zu einem vollwertigen Parlament mit Haushaltsrechten gemacht werden.

Reicht das?

Offe: Ich weiß es nicht. Ich kann nur dafür werben, das Projekt Europa nicht zu Bruch gehen zu lassen – zum unabsehbaren Schaden aller Beteiligten.

Siehe auch:
  • Europa in der Falle – Essay von Claus Offe – Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2013
  • „Für ein starkes Europa“ – aber was heißt das? – Vortrag von Jürgen Habermas – Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2014
    • „Am 2. Februar d. J. referierte Jürgen Habermas auf Einladung des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel während der Klausurtagung der SPD-Spitze aus Parteivorstand, Bundesregierung und Ministerpräsidenten in Berlin-Hermannswerder. Der Vortrag, der eine kontroverse Diskussion auslöste, erscheint außer in den „Blättern“ in gekürzter Fassung in der französischen „Le Monde” sowie in in der italienischen „La Repubblica“ und in der spanischen „El País“.“

CDU-Plakate zur Europawahl: der blanke Hohn

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„Gemeinsam erfolgreich in Europa“? Ja, wer denn? Deutschland, ok. Deutschland ist immer mehr oder weniger erfolgreich, ob mit oder ohne Europa. Aber „gemeinsam erfolgreich in Europa“? Ja, mit wem denn? Mit Spanien vielleicht? Arbeitslosenquote 25,3 %, Jugendliche unter 25 Jahren ca. 54 % – mehr als die Hälfte aller jungen Menschen ohne Job. Saisonbereinigt. Viele sehen für sich keinerlei Zukunft mehr in Spanien und wandern aus. Arbeitslose Tierärzte, das kam neulich im Fernsehen, schulen um und werden Schäfer. Weil Spanien jetzt wieder in großem Stil Landschaftspflege betreibt, mit Schafherden. Subventioniert von Brüssel.

In vielen anderen EU-Ländern sieht’s ganz ähnlich aus mit der Arbeitslosigkeit: Italien (12,7 / 42,7 %), Frankreich (10,4 / 23,4 %), Portugal (15,2 / 35,4 %). Ebenso in den Balkanstaaten. Von Griechenland reden wir erst gar nicht. Auch nicht von der viel zu hohen Staatsverschuldung in ganz Europa. Und übrigens, nur weil ein Land den Rettungsschirm nicht mehr nötig hat, ist es nicht gleich erfolgreich. Es beginnt gerade erst wieder zaghaft, auf eigenen Beinen zu stehen. Der Staatsbankrott droht nicht mehr unmittelbar, weil man sich am Kapitalmarkt wieder Geld leihen und weitere Schulden anhäufen kann.

Also, der ganze Süden Europas,  inklusive Frankreich, kann wohl nicht gemeint sein mit  „erfolgreich“. Selbst in den Beneluxstaaten fängt es bereits an zu bröckeln.

Soweit es um den Euroraum geht, ist der Grund einfach: Gefesselt an den teuren Euro sind die Volkswirtschaften der Problemstaaten nicht mehr wettbewerbsfähig. Wir kennen das aus eigener Erfahrung:  Nach der D-Mark-Einführung in den neuen Bundesländern waren deren Produkte viel zu teuer und nicht mehr im mindesten konkurrenzfähig. Die Folge: Wirtschaft kaputt. Wären die Problemländer – es werden übrigens mehr und nicht weniger – nicht in dem Prokrustesbett des Euro-Währungsverbunds gefangen, würden die betreffenden Währungen automatisch abwerten, und die Unternehmen könnten ihre Produkte wieder günstiger anbieten.

Ne, Angie, da kannste Dein treuherzigstes Lächeln aufsetzen: „Gemeinsam erfolgreich in Europa“, das glaubt Dir kein denkender Mensch. Es verleugnet die realen Verhältnisse und stellt die Tatsachen auf den Kopf. Angesichts der massenhaften Verelendung weiter Teile der europäischen Bevölkerung ist ein solcher Werbeslogan nicht nur dämliche Sprücheklopferei, er ist zynisch – der blanke Hohn.

Ach, und dann Mr. McAllister (s. unten). Verlierer der Niedersachsenwahl, nun recycelt für’s Europaparlament. Der behauptet bundesweit großflächig, die CDU und er seien „für ein Europa, das den Menschen dient“. Da stellt sich doch gleich die Frage, welchen Menschen? Mensch ist schließlich nicht gleich Mensch. Also, die knapp 12 % Arbeitslosen im Euroraum, ca. 19 Millionen, die kann er wohl nicht meinen. Denen dient der Merkelsche Problemlösungsversuch der Eurokrise, die sogenannte „Innere Abwertung“ in den Problemländern, mitnichten.

In aller Kürze: Nachdem es den üblichen und höchst wirksamen Normalfall einer wettbewerbsfördernden Anpassung von Volkswirtschaften mit geringer Leistungsfähigkeit mittels Währungsabwertung in einem Währungsverbund nicht gibt, versucht man, die gleiche Wirkung durch eine Absenkung der Löhne, Renten und Preise in den betreffenden Ländern zu erreichen. Mit einer Austeritätspolitik führt man künstlich deflationäre Bedingungen herbei und nimmt eine rasant steigende Arbeitslosigkeit sowie die Verelendungserscheinungen, die wir aus den Südstaaten Europas täglich im Fernsehen sehen, billigend in Kauf. Selbst der Internationale Währungsfonds sagt, es sei fraglich, ob der Zuwachs an Wettbewerbsfähigkeit die hohen sozialen Kosten und Lasten irgendwann wieder ausgleicht. (Näheres zu der besonders fatalen Inneren Abwertung in der Eurokrise bei Wikipedia.)

Mitfühlenden Gemütern treibt es schon mal die Tränen in die Augen, wenn man die so herbeigeführte massenhafte Verarmung der kleinen Leute erlebt. Wie z.B. der famosen italienischen Sozialministerin Fornero in der Monti-Regierung, die während einer Pressekonferenz, auf der sie von Brüssel verordnete drastische Rentenkürzungen zu verkünden hatte, einen Weinkrampf erlitt.

Nein, die CDU will uns mit ihren Wahlplakaten für dumm verkaufen. Sie hat eine europäische Entwicklung ganz wesentlich mit zu verantworten, die dem „einen Prozent“ dient, vielleicht auch Deutschland (viele sagen, auf Kosten der anderen), aber „den Menschen in Europa“ ganz gewiss nicht .

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 Siehe auch:
  • Europa – eine Erfolgsgeschichte: So gut leben wir in einem starken Europa – CDU-Flugblatt zur Europawahl
    • „Die europäische Einigung ist eine Erfolgsgeschichte. Sie ist fest mit der CDU verbunden – von den offenen Grenzen bis zur einheitlichen Währung. Davon haben wir alle etwas.“
  • Plakate im Europawahlkampf: Eine Ignoranz, die den Rechten nutztHarald Schumann – Cicero, 07.05.2014
    • „Die debilen Slogans der deutschen Parteien zur Europawahl nützen am Ende rechten Populisten. Indem so getan wird, als ginge es bei dieser Wahl um nichts, rufen sie de facto zur Wahlenthaltung auf. Wenn das so weitergeht, könnte dieser Europawahlkampf der letzte sein.“
  • Europawahl: Chancen, Wachstum, Löffelohren Stefan Behr – Frankfurter Rundschau, 02.05.2014
    • „Die Plakate zur Europawahl 2014 zeigen eindrucksvoll, wie langweilig und nichtssagend Politik sein kann.“
  • Europa-Skepsis – woher kommt die nur?Michael Schlecht, wirtschaftspolitischer Sprecher der „Linken“, beschreibt treffend die gegenwärtige Lage in Europa – 16.05.2014
    • „Die Europa-Wahl steht vor der Tür und die Regierenden vor einem Problem: Laut den letzten Umfragen haben nur noch 32 Prozent aller Befragten „eher Vertrauen“ in die EU. Vor der Euro-Krise Ende 2009 waren es noch 48 Prozent. Da liegt der einfache Gedanke nahe: Der Vertrauensschwund hat etwas mit der Politik in der Euro-Krise zu tun. Doch das sieht die Bundesregierung ganz anders.“
  • Portugals soziale Krise: Millionenfaches ElendStefan Schultz (Lissabon) – Spiegel Online, 17.05.2014
    • „Portugal verlässt den Euro-Rettungsschirm, doch die Bürger zahlen dafür einen hohen Preis. Harte Sparprogramme haben die Mittelschicht zerstört, soziale Netze zerfetzt. 2,5 Millionen Menschen leben am Rande der Armut. Ein Rundgang durch Lissabon.“
  • FactCheckEU „Für Europa? Gegen Europa? Egal, kenn die Fakten.“

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Geheuchelte Empörung im Abhörskandal?

Wenn es stimmt, was Elmar Theveßen, stellvertretender Chefredakteur des ZDF und Geheimdienstexperte,  gestern abend im ZDF-heute journal höchst plausibel darlegte, so wäre dem Abhörskandal ein weiteres Kapitel hinzufügen, das geeignet wäre, unsere Politiker in hohem Maße zu desavouieren und bloßzustellen.

Theveßen behauptet, die gegenwärtigen empörten Reaktionen der Politiker seien pure Heuchelei – die nachrichtendienstlichen Abhörpraktiken seien seit vielen Jahren bekannt.

„Macht uns doch nichts vor! Politiker aller Parteien wussten längst Bescheid. (…) Deutsche Politiker quer durch die Parteien spielen hier offenbar ‚mein Name ist Hase, ich weiß von nichts‘.“

In einem offenen Brief an Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger hatte der ZDF-Experte sich bereits am 22. Juni verwundert über die Entrüstung der Ministerin über das umfassende Ausspähprogramm von britischen und amerikanischen Geheimdiensten gezeigt und festgestellt,

„Sie – und eigentlich alle Politiker, die sich qua Amt in Sicherheitsfragen auskennen – wissen doch längst über das alles Bescheid.“

Entsprechende Informationen seien unter anderem bereits im Frühjahr 1998 in einem offiziellen Bericht an das EU-Parlament enthalten gewesen, in dem es hieß:

„Innerhalb Europas werden alle E-Mail-, Telefon- und Fax-Kommunikationen routinemäßig von der NSA abgefangen. Sie transferiert alle Zielinformationen über den wichtigen Knotenpunkt Menwith Hill in den Sümpfen von Nord Yorkshire im Vereinigten Königreich nach Fort Meade in Maryland“ (dem Hauptquartier der NSA in den USA).

Wenige Monate später, im Oktober 1998, habe das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg eine Warnung an deutsche Wirtschaftsunternehmen versandt:

Echelon (das damalige Abhörprogramm) hört ungefiltert den gesamten E-Mail-, Telefon-, Fax- und Telexverkehr ab, der weltweit über Satelliten weitergeleitet wird“.

Theveßen in seinem offenen Brief weiter:

„Sie, sehr geehrte Frau Leutheusser-Schnarrenberger, (…) wundern sich, wie andere deutsche Politiker, über etwas, was sie seit langem wissen mussten? Die amerikanische NSA, das britische GCHQ und ihre Partner haben in den verstrichenen 15 Jahren nur ihre Kapazitäten ausgebaut, neue Speicherserver angeschafft, Anzapfmethoden verfeinert – das Einklinken in Unterseekabel gibt es schon seit 1921 – und die Auswertungssoftware perfektioniert, z.B. PRISM. Ansonsten machen sie eigentlich das Gleiche wie immer. Allerdings haben Politiker die rechtlichen Rahmenbedingungen erleichtert und die Kontrollmechanismen abgeschliffen.

Ach, und schließlich, sehr geehrte Frau Bundesjustizministerin, noch die Frage: Was für Daten sammeln eigentlich französische, spanische und deutsche Geheimdienste in ihrem gemeinsamen Satellitenzentrum in Torrejon, Spanien?“

Wenn es stimmt, dass die allenthalben geäußerte Entrüstung über die bislang angeblich unbekannten Abhörpraktiken der Geheimdienste nur vorgetäuscht ist, dann werden wir nicht nur von „befreundeten“ Staaten an der Nase herumgeführt, sondern auch von unseren eigenen Politikern.

Es wäre in diesem historischen Skandal das Tüpfelchen auf dem I. Der Bürger könnte sich nur angewidert abwenden.

(Besser wäre natürlich, wir würden uns auf den Tahirplätzen unseres Landes versammeln und dort unsere Empörung zeigen. Aber anders als beim Stuttgarter Bahnhof wird die Bedrohung in diesem Fall nur abstrakt und distanziert erlebt. Die 68er sind auf dem Weg in die Rente, und das Wutbürgerpotential der Deutschen im allgemeinen ist höchst überschaubar.)

Siehe auch:
  • Orwell 2.0 – Die totale Überwachung ist längst Realität – Ausführliche Darstellung der Geschichte nachrichtendienstlicher Überwachungs- und Abhörpraktiken vom Ende des 2. Weltkriegs bis heute (Echelon, Prism etc.) von Jens Berger  – Nachdenkseiten, 02.07.2013
    • „Das jüngst bekannt gewordene Internetüberwachungsprogramm Prism ist nur die Spitze des Eisbergs. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs wird die internationale Kommunikation systematisch von spezialisierten Geheimdiensten abgehört. Mit dem technischen Fortschritt wuchs auch das Ausmaß der Überwachung rasant an. Heute betreibt wohl jedes bedeutende Land ein eigenes Abhörprogramm, gegen das die Stasi wie ein graues Relikt aus der Vorzeit wirkt. Die USA sind in Sachen Überwachung jedoch eine Klasse für sich. Der Staat, der stets so tut, als habe er ein Patent auf den Begriff „Freiheit“, hat heute ein digitales Überwachungssystem, das jeder orwellschen Totalitarismusphantasie Ehre macht. Wer glaubt, es ginge dabei nur um die „Terrorismusbekämpfung“, beleidigt dabei die Geschichte durch einen Mangel an Phantasie.“
  • Lizenz zum Abhören – Ist das der Preis der Freiheit?Maybritt Illner – Sendung vom 04.07.2013
    • „Ist aus dem großen Bruder USA inzwischen der böse Bruder geworden? Wie zerrüttet ist das deutsch-amerikanische Verhältnis? Wie geheim die Geheimdienstarbeit? Müssen wir uns zwischen Sicherheit und Freiheit entscheiden? Oder geht es am Ende nicht um Terrorabwehr, sondern um Wirtschaftsspionage?“

Die Schlachtung der heiligen Steuerkühe

Die heutige Presseschau des allmorgendlichen, hier schon oft empfohlenen Handelsblatt-Newsletters Finance Today bringt einen interessanten Überblick über die von Tag zu Tag entschlossener werdenden Kampfansagen der westlichen Industriestaaten gegenüber Steuerhinterziehung und kreativer Steuergestaltung von Unternehmen:

Die Schlachtung der heiligen Steuerkühe

Die EU geht zum Angriff über: Die Regierungen diskutieren nicht mehr nur Maßnahmen gegen individuelle Steuerflucht, sondern auch gegen aggressive unternehmerische Steuerplanung.

Laut » Börsen-Zeitung soll künftig gegen Transaktionen zwischen Konzerntöchtern vorgegangen werden, die den Abzug von Verlusten im Quellen- als auch im Ansässigkeitsland erreichen oder Steuern komplett vermeiden sollen. Experten schätzen, dass staatlichen Haushalten so mehr Einnahmen verloren gehen als durch Steuerhinterziehung. Dafür spreche allein die Tatsache, dass Inseln ohne industrielle Substanz mehr ausländische Direktinvestitionen anziehen als Deutschland oder Japan.

Auch gegen private Steuersünder geht es voran: Der Kampf bleibe eine „Herzenssache der Finanzminister der G7-Industrienationen“, meint das » Handelsblatt. Sogar Österreich und Liechtenstein zeigten mittlerweile Kompromissbereitschaft. Finanzminister Wolfgang Schäuble will die „Offshore-Leaks“-Daten laut » Reuters an die Bundesländer weiterleiten, während Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft die strafbefreiende Selbstanzeige abschaffen will. Kritiker sehen in all dem einen „Terror der Transparenz“. Doch die Auswertung von Festplatten und Steuer-CDs sei ein Akt der Notwehr gegen parasitären Reichtum, meint die » Süddeutsche Zeitung.

Die » Neue Zürcher Zeitung beschreibt den wiederholten Kurswechsel der Schweizer Banken: Aus Furcht vor Diskriminierung in der EU und der Relativierung des Bankgeheimnisses spreche sich die Schweizer Bankiervereinigung mittlerweile sogar für ein Dienstleistungsabkommen mit der EU aus.

Syrienkrieg – Aufruf der führenden Hilfsorganisationen

 

Tut Deutschland alles in seiner Macht stehende, um diesen schrecklichen Bürgerkrieg so rasch wie möglich zu beenden und die Not der syrischen Bevölkerung zu lindern? Die medizinische Behandlung von 30 schwerverletzten syrischen Kämpfern bei uns in Deutschland ist ein guter humanitärer Akt. Aber warum nicht 50 oder 60? Außerdem, wie damals nach dem Tsunami in Indonesien, ein Feldlazarett der Bundeswehr zum Flüchtlingslager nach Jordanien?

Und das Auswärtige Amt? Sieht seine Syrienpolitik natürlich positiv. Der Minister formuliert geschliffen, aber distanziert, nicht engagiert. Übt sich in vornehmer diplomatischer Zurückhaltung. Man mag von Genscher und Joschka Fischer politisch halten, was man will – engagiert waren beide und haben sich reingehängt in ihre Aufgaben. Westerwelle bringt Ruhe in die deutsche Außenpolitik. Er leidet am Verfall seiner FDP und an seinem eigenen Abstieg. Wie für so viele Verlierer gilt auch für ihn: er ist angeschlagen, der alte Schwung ist hin. Würde man mit ihm umgehen wie Angela Merkel mit Norbert Röttgen, dem NRW-Wahlverlierer, müsste man ihn entlassen.

Dann gibt es da noch die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Lady Catherine Ashton. Gewissermaßen Europas vereinigte Außenministerin. Die diplomatische Zurückhaltung in Person. Nach dem agilen, überzeugenden und sympathischen Javier Solana eine totale Fehlbesetzung. Keiner nimmt sie ernst. Gottlob wirft sie demnächst das Handtuch.

Siehe auch:

Hoch gelobt: das Sondergutachten des Sachverständigenrats zur Eurokrise

Über den günen Klee gelobt wird das Sondergutachten des Sachverständigenrats zur Bewältigung der Eurokrise von profilierten Fachjournalisten wie Oliver Storbeck (Handelsblatt) und Mark Schieritz (Zeit).

„Ich halte dieses Gutachten für eine Sternstunde des Sachverständigenrates und der deutschen Wirtschaftswissenschaft. Es ist eines der besten Papiere, die mir in Sachen Euro-Krise bislang über den Weg gelaufen sind und sollte Pflichtlektüre für jeden sein, der sich mit der Euro-Krise beschäftigt.“

So leitet Oliver Storbeck seine zweiteilige Zusammenfassung des Gutachtens ein. „Ein Hoch auf den Sachverständigenrat“ überschreibt Mark Schieritz seinen Blogbeitrag zum Gutachten, das er als „klar, konsistent und vor allem lösungsorientiert“ ansieht. Der Rat habe sich „in den vergangenen Jahren oft darauf zurückgezogen, liberale (und im Minderheitsvotum keynesianische) Glaubenssätze aufzusagen. Jetzt macht er Vorschläge für die schmutzige Realität. Genau dazu ist er da.“

Hier die Pressemitteilung des Sachverständigenrats zu seinem Sondergutachten vom 06.07.2012:

Die europäische Währungsunion befindet sich in einer systemischen Krise, die den Fortbestand der gemeinsamen Währung und die ökonomische Stabilität Deutschlands gleichermaßen gefährdet. Die Entscheidungen der Staats- und Regierungschefs am 28. und 29. Juni 2012 können die Lage im Euro-Raum zwar kurzfristig stabilisieren. Doch die Krise bleibt weiterhin ungelöst und erneute Zuspitzungen drohen, wenn der bestehende Teufelskreis aus Bankenkrise, Staatsschuldenkrise und makroökonomischer Krise nicht durchbrochen wird. Aus diesem Anlass hat der Sachverständigenrat der Bundesregierung aktuell ein Sondergutachten vorgelegt, in dem er Wege aufzeigt, wie die Staatsschuldenkrise beendet werden kann und welche Maßnahmen nötig sind, um den Bankensektor nachhaltig zu stabilisieren. Es trägt den Titel: „Nach dem EU-Gipfel: Zeit für langfristige Lösungen nutzen“

Zur Lösung der Staatsschuldenkrise hatte der Sachverständigenrat mit dem Schuldentilgungspakt bereits im Herbst 2011 ein Konzept vorgestellt, das er nun umfassend weiterentwickelt und mit zusätzlichen Sicherungsmechanismen versehen hat. Der Schuldentilgungspakt ist zeitlich befristet und beinhaltet die Möglichkeit, die Hilfen an Konditionen zu knüpfen. Das unterscheidet ihn von geldpolitischen Maßnahmen der Europäischen Zentralbank. Er kann so konstruiert werden, dass europa- und verfassungsrechtliche Maßstäbe eingehalten werden. In Kürze wird dazu ein entsprechendes Rechtsgutachten veröffentlicht, das der Sachverständigenrat in Auftrag gegeben hat.

Zur Stabilisierung des europäischen Finanzsystems sollten die bereits beantragten Mittel für die spanischen Banken nur bei Einhaltung klarer Kriterien zur Rekapitalisierung und Restrukturierung der betroffenen Banken eingesetzt werden. Die Bedingungen, die für eine direkte Vergabe von Finanzhilfen aus dem ESM an Banken vorgesehen sind, werden auf absehbare Zeit nicht erfüllt sein. Es muss gewährleistet sein, dass Haftung und Kontrolle zusammenfallen. Bisher versäumte aufsichtsrechtliche Reformen, insbesondere Regelungen für die grenzüberschreitende Restrukturierung und Abwicklung von Banken, sollten zügig umgesetzt werden. Gleichzeitig darf die Lösung der akuten Krise nicht zu einer übereilten Einführung einer Bankenunion führen.

Siehe auch:

Alexander Kissler: „Deutschland hat sich abgeschafft“

Unter diesem Titel veröffentlicht TheEuropean einen brillanten, überaus treffenden Kommentar von Alexander Kissler zu den Abstimmungen der bundesdeutschen Parlamente am vergangenen Freitag.

„Das Votum von Bundestag und Bundesrat über den ESM-Vertrag war historisch. Die Bundesrepublik hat ihre Souveränität in die Hände der EU gelegt, der Bundestag geht in die ewige Sommerpause.“

Einige Auszüge (Hervorhebungen von mir. MW):

„Nun ist es entschieden: Keine Soldaten, keine Offiziere, keine Umerzieher und keine Kopftuchmädchen versetzten Deutschland den Dolchstoß. Es war Deutschland selbst, das sich abschaffte, sachlich, kühl, auf dem Verfahrensweg, wie es neudeutsche Art ist. Am Abend des 29. Juni 2012 erklärten vier Fünftel der bundesdeutschen Parlamentarier Deutschland für beendet. Fünf Minuten vor Mitternacht schloss sich der Bundesrat dem Votum an. Die Geschichte ist durch. Die Welt kann sich anderem zuwenden. (…)

Die Bundesrepublik betrat am 29. Juni 2012 nicht nur, was selbst Rainer Brüderle in der Debatte zugestand, „europarechtliches und verfassungsrechtliches Neuland“. Sie hat nicht nur der „weit um sich greifenden Besorgnis in unserer Bevölkerung“ (Wolfgang Schäuble) ein freundliches Achselzucken entgegengehalten, hat in Gestalt von Regierung und Parlament nicht nur „unumkehrbar“ (Angela Merkel) zum Marsch geblasen hin zu einem Endpunkt, der je nach Perspektive „Vereinigte Staaten von Europa“ (Hubertus Heil) oder „europäischer Superstaat“ (Frank Schäffler) heißt. Nein, die Bundesrepublik Deutschland hat ihr Geschick an diesem 29. Juni 2012 in die Hände der EU-Ministerialbürokratie gelegt und so die Verfassung ausgesetzt und die Volkssouveränität suspendiert. Künftig wird man neue Eide schwören.

Die entscheidenden Argumente im Berliner Reichstag kamen von zwei Haudegen des Politbetriebs, von Gregor Gysi und Peter Gauweiler. Die linke und die rechte Opposition trafen sich in der Einsicht, dass hier eine Entrechtung des Parlaments stattfinde. Dass künftig in diesem Haus nichts mehr sein werde, wie es war. Gysi stellte die richtigen Fragen, die zu beantworten Angela Merkel klüglich unterließ: „Warum, Frau Bundeskanzlerin, unterzeichnen Sie einen Fiskalvertrag ohne Kündigungsmöglichkeit? (…) Warum schränken Sie die Budgethoheit des Bundestages dadurch gravierend ein, dass sie völkerrechtlich verbindlich den Grad der Neuverschuldung, den Abbau von Schulden und automatische EU-Sanktionen für Deutschland festlegen? Wissen Sie nicht, dass Sie damit die Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes verletzen? (…) Warum lassen Sie über all das nicht die Bevölkerung entscheiden? Europa, Frau Bundeskanzlerin, ist sehr wichtig. Treiben Sie es den Europäern und Europäerinnen nicht aus.“

Gauweiler wiederum verwies auf die un-, ja antidemokratische Grundstruktur des sogenannten permanenten Euro-Rettungsschirms, dessen auf ewig geschlossener Vertrag den ESM-Direktoren, den Herren über ein Grundkapital von zunächst 700 Milliarden Euro, ein Schweigerecht gegenüber den Parlamenten garantiert. Zudem wird den jeweiligen Staaten eine unbegrenzte Nachschusspflicht abverlangt (…).

Vorab hatte Gauweiler im „Handelsblatt“ erklärt: „Der ESM sieht ein anderes Entscheidungssystem für die Verteilung deutscher Steuergelder in Europa vor als die bisherige Verfassungsordnung. Ausgaben und staatliche Belastungen sollen nicht mehr von den – abwählbaren – Volksvertretern in Berlin bestimmt werden, sondern werden in die Hände von zwei Gremien gelegt, die alles andere als demokratisch organisiert sind.“ Der Rat der Gouverneure und das ESM-Direktorium können über dreistellige Euro-Milliardenbeträge entscheiden, „ohne dass der deutsche Bundestag dem konstitutiv zugestimmt haben müsste“. (…)

Und warum verzichtet Deutschland auf den Kern aller Souveränitäten, auf die Hoheit über die Staatsgelder, die bekanntlich die Gelder der Steuerpflichtigen sind? Warum sollen noch die Enkel schuften, um diesen abenteuerlichen Knebelvertrag zu erfüllen? Weil Trickserei nicht bestraft, Inkompetenz nicht ruchbar gemacht und Verantwortung nicht einmal gedacht werden soll. Das Morgen ist der Feind, die Gegenwart der Götze. Darauf beruht nämlich der ganze Schwindel: Länder, die unsolide und fintenreich sich an fremden Töpfen bereicherten, sollen mit Gewalt in der Währungsunion gehalten werden. Und Banken, die einmal Privatunternehmen waren mit dem typischen Risiko eines jeden Unternehmens, Konkurs zu gehen, sollen aus angeblich systemrelevanten Gründen am Leben gehalten werden, koste es, was es wolle. In beiden Fällen vergemeinschaftet man Schulden und schreddert man Verantwortung als und aus Prinzip. Alles soll weitergehen wie gehabt. Wir sind aus solchem Holze. Um die Scherben kümmern sich die Nachfahren.

Wer keine Idee von Europa hat, verliert es. Wer keinen Begriff von Deutschland hat, verscherbelt es. Wir alle können einmal sagen, wir sind dabei gewesen, an diesem 29. Juni 2012, als der Bundestag in eine ewige Sommerpause ging. Wir wussten, was da geschieht. Und es hat nicht einmal weh getan.

Siehe auch:
  • Der Teufel steckt im KleingedrucktenWolfgang MünchausKolumne zu den Ergebnissen des Euro-Gipfels  – Spiegel Online, 04.07.2012
    • „Montis Triumph, Merkels Demütigung? Von wegen! Auf dem EU-Gipfel am Freitag hat die Kanzlerin in Wahrheit keine entscheidenden Positionen preisgegeben. Was auch bedeutet: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Währungsunion zerbricht, ist weiter gestiegen.“

ESM – Das Video

Das Video (ca. 9 Minuten) führt durch die neuralgischen Punkte des ESM-Vertrags – also die Zumutungen, die einen politisch denkenden Durchschnittsbürger ungläubig staunend zurücklassen.

Schwer vorstellbar, dass das Bundesverfassungsgericht die Ratifizierungsgesetze passieren lässt. Dann könnte man den ESM-Gremien auch gleich umstandslos den direkten Zugriff auf die Steuereinnahmen der Bundesrepublik Deutschland einräumen.

Wer es weniger juristisch, stattdessen umfassender politisch eingeordnet haben möchte, dem empfehle ich diesen brillanten Kommentar des famosen Dirk Müller – empört und voll gerechtem Zorn, aber ungemein treffend (29.06.2012 – bis Minute 6:10).

Das Kleingedruckte des ESM (2): Ausnahmen von der Einstimmigkeit bei Entscheidungen

Der ESM schafft eine Schuldenunion, meint Henrik Voigt (Dax Daily, 02.07.2012), und begründet dies wie folgt:

„Die Staaten der Eurozone haben sich auf dem EU-Gipfel Ende vergangener Woche auf eine zentrale Bankenaufsicht für die Eurozone und eine Direkthilfe für angeschlagene Banken über den ESM geeinigt. Auch direkte Finanzhilfen ohne Sparauflagen an Pleite-Staaten werden künftig möglich sein. Wenn die entsprechenden jährlichen Vorgaben der EU-Kommission erfüllt wurden, können strauchelnde Staaten auch ohne Sparauflagen Finanzhilfen erhalten. Italien und Spanien ist es damit gelungen, einen Teil ihrer Staats- und Bankenschulden direkt auf den deutschen Steuerzahler abzuwälzen. Danke, Frau Merkel!

Eurobonds wurden zwar weiterhin nicht beschlossen, diese sind nun aber auch nicht mehr nötig. Denn nun ist eine Schuldenunion über den ESM möglich. Angela Merkel hatte am Freitag zwar noch einmal betont, dass Deutschland weiter in jedem einzelnen Fall über die Verteilung der ESM-Gelder entscheiden kann. Das stimmt allerdings so nicht. Der ESM-Vertrag sieht zwar prinzipiell Einstimmigkeit vor, doch eine große Ausnahme liegt vor, wenn die „finanzielle Stabilität der gesamten Euro-Zone gefährdet ist“. Dann können Mittel auch mit einer Mehrheit von 85% der Stimmen im Direktorium Gelder zugeteilt werden.

Noch schlimmer wird es für Deutschland, wenn der ESM Verluste macht, was bei einem hemmungslosen Ankauf von schrottreifen Staatsanleihen vorprogrammiert sein dürfte. Dann kann das Direktorium bereits mit einfacher Mehrheit (!) die Verluste abrufen und Deutschland ohne weiteres überstimmen. Das heißt: Wenn Italien, Frankreich und Spanien es verlangen, muss Deutschland zahlen. Reales Geld, für das Deutschland dann selbst wieder Schulden machen oder Steuern erhöhen muss. Da wir den Löwenanteil der Gelder stellen müssen, könnten deutsche Steuergelder somit ohne Mitwirkung des Bundestags für andere Länder und natürlich auch für ausländische Banken verwendet werden.

Da Bundestag und Bundesrat in ihrer schier unglaublichen Weisheit am Freitagabend dem ESM zugestimmt haben, kann jetzt nur noch das Bundesverfassungsgericht diese historisch einmalige Veruntreuung deutscher Steuergelder stoppen. Falls dies nicht geschehen sollte, auch nicht weiter schlimm. Die Masse der Bundesbürger weiß ja noch nicht einmal, was der ESM ist und was da eigentlich auf sie zukommt, wie meine Gespräche im Bekanntenkreis am Wochenende wieder gezeigt haben. Da werden ein paar Millionen Steuerzahler in einigen Monaten aber ganz schön unsanft geweckt werden. Die Kreditausfallprämien Deutschlands (CDS) sind schon mal innerhalb nur einer Woche um gut 50 Prozent nach oben geschossen.“

Siehe auch: