Wolfgang Streeck: „Möglich, dass der Kapitalismus an seinen Krisen verendet“

Wolfgang Streeck ist nicht irgendwer, sondern seit knapp 20 Jahren Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln und gewiss der profilierteste deutsche Wirtschaftssoziologe. Letztes Jahr veröffentlichte er seine viel beachteten Frankfurter Adorno-Vorlesungen aus dem Jahr 2012: „Gekaufte Zeit – Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“.

In diesem von der Kritik hoch gelobten Buch (s. Rezensionen) legte er „die Wurzeln der gegenwärtigen Finanz-, Fiskal- und Wirtschaftskrise frei“ und charakterisierte sie „als Moment der langen neoliberalen Transformation des Nachkriegskapitalismus“. Er beschrieb, wie sich über vier Jahrzehnte hinweg wachsende Spannungen zwischen Demokratie und Kapitalismus entwickelten, und welche Konflikte daraus zwischen Staaten, Regierungen, Wählern und Kapitalinteressen resultierten.

Während Streeck damals noch Aussichten für eine Wiederherstellung sozialer und wirtschaftlicher Stabilität sah, ist er jetzt, zwei Jahre später, weitaus pessimistischer. In einem bemerkenswerten Gastkommentar für die aktuelle Wochenendausgabe des Handelsblatts führt er eindringlich die Möglichkeit vor Augen, „dass der Kapitalismus an den zahlreichen Krisen, die er gegenwärtig durchmacht, verendet.“

Die Vorstellung, eine Gesellschaftsform könne nur enden, indem sie durch eine bessere abgelöst werde, stamme noch aus dem fortschrittsgläubigen 19. Jahrhundert. Gegenwärtig seien wir indessen gut beraten, uns klarzumachen,

„dass eine Gesellschaft, anstatt zugunsten einer besseren abgewickelt zu werden, auch enden kann, indem sie die Fähigkeit verliert, ihren Mitgliedern Erwartungssicherheit in einer berechenbaren, verlässlichen Ordnung zu bieten. Eine Gesellschaft ist keine mehr, wenn Unfälle in ihr zur Regel werden, wenn sie für ihren Fortbestand auf prekäre Improvisationen ihrer Mitglieder angewiesen ist (…).“

Vieles spreche dafür, „dass die kapitalistische Gesellschaft der Gegenwart dabei ist, in diesem Sinne in ein Endstadium einzutreten.“

Streeck zeichnet sodann den Verlauf „einer nun schon jahrzehntealten Krisensequenz“ nach:

„Die 1970er-Jahre standen im Zeichen der Inflation, gefolgt in den 1980ern von einem dramatischen Anstieg der Staatsverschuldung und anschließend, Mitte der 1990er, von einer rapiden Zunahme der Privatverschuldung.

Alle drei, Inflation und öffentliche wie private Verschuldung, waren Lösung und Problem zugleich: Sie befriedeten die schärfer gewordenen Verteilungskonflikte, wurden aber sämtlich selber zu Krisenursachen und mussten anderen, ebenso problematischen Notlösungen weichen.

Nach 2008 begann eine vierte Phase, mit erneuter weltweiter Zunahme der Staatsverschuldung und einem explosiven Wachstum der Bilanzsummen der Zentralbanken um nicht weniger als das Dreifache zwischen 2007 und 2014. Auch diese Lösung, die freihändige Produktion von synthetischem Geld, ist dabei, sich in ein Problem zu verwandeln.“

Im Durchgang durch diese Krisensequenz sei „das Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie“ nicht unverändert geblieben:

„Die Arena der politisch-ökonomischen Konfliktaustragung verschob sich vom Arbeitsmarkt in der Phase der Inflation auf die elektorale Politik in der Ära der Staatsverschuldung, dann in den Jahren steigender Privatverschuldung auf den Kapitalmarkt und heute auf internationale Organisationen und Gipfelkonferenzen sowie gegen demokratische Kontrolle abgeschirmte „unabhängige“ Zentralbanken. Dabei entfernten sich die politisch-ökonomischen Entscheidungsprozesse immer weiter von der Erfahrungswelt und dem Einwirkungsvermögen der Bevölkerung, bis sie endgültig hinter einem Schleier technokratischen „Sachverstands“ und unter sieben Siegeln der Verschwiegenheit verschwanden.“ (…)

Unentwirrbare Todesspirale von drei fatalen Abwärtstrends

„Hinzu kommen drei nun schon jahrzehntealte (…) kontinuierliche Abwärtstrends, die sich anscheinend längst zu einer unentwirrbaren Todesspirale verknotet haben: sinkendes Wachstum, zunehmende Ungleichheit und steigende Verschuldung, nicht nur der Staaten, sondern auch der privaten Haushalte und der Unternehmen.

Konflikte eindämmendes Wachstum und egalisierende Marktkorrekturen waren unentbehrliche Stützpfeiler des Nachkriegskapitalismus. Aber weder „neoliberale“ Umverteilung nach oben noch „keynesianische“ Verschuldung waren in der Lage, den Kapitalismus der OECD-Länder auf einen Wachstumspfad zurückzubringen. Kräfte, die die drei Trends beenden oder gar wenden könnten, sind nicht zu erkennen. Gleichzeitig ist klar, dass sie ebenso wenig wie die gegenwärtige Expansion der Geldmenge, um derentwillen die Zentralbanken dabei sind, sich in Bad Banks zu verwandeln, ewig weitergehen können.

Tatsächlich verstärken sich die drei Abwärtstrends gegenseitig. Zurückgehendes Wachstum vermindert die Konzessionsbereitschaft der Begüterten und erhöht so die Ungleichverteilung der Einkommen; diese wiederum beeinträchtigt die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, was das Wachstum weiter herunterdrückt. Das hohe Verschuldungsniveau steht selbst bei niedrigsten Zinsen der Aufnahme der für neues Wachstum nötigen zusätzlichen Kredite im Wege, während umgekehrt niedriges Wachstum den Schuldenabbau erschwert. Zugleich nimmt mit immer höheren und breiteren Verschuldungspyramiden das Risiko eines erneuten Zusammenbruchs des Finanzsystems zu.“

Ratlosigkeit in den Steuerungszentralen

„Der kritische Zustand des OECD-Kapitalismus ist in seinen Steuerungszentralen bekannt. Dort herrscht Ratlosigkeit, durchaus am Rande der Verzweiflung: warum kein Wachstum trotz billigsten Geldes? Ist Inflation die Gefahr oder Deflation? Wann muss, wann kann das Gelddoping aufhören? Kommt neues Wachstum von mehr oder von weniger Staatsausgaben?

Larry Summers persönlich, Deregulierer der Finanzmärkte unter Clinton, sieht den Kapitalismus im Zustand „säkularer Stagnation“; schon der „Boom“ der neunziger Jahre, so Summers, einer seiner Architekten, vor knapp einem Jahr beim Internationalen Währungsfonds, war eigentlich keiner mehr, sondern eine Blase. Das bisschen Wachstum, das in Zukunft noch zu erwarten sei, werde es nur um den Preis periodischer Explosionen nach Art von 2008 geben.

Not, so ihm sekundierend Paul Krugman in der „New York Times“, kennt kein Gebot: Wenn verantwortliche Kreditvergabe nicht mehr reiche, sei unverantwortliches Borgen und Leihen, mit gelegentlichen Zusammenbrüchen der Märkte, immer noch besser als gar nichts – keine Übertreibungen deshalb bei der Neuregulierung der Finanzmärkte! Lieber Produktion, die keiner braucht, als überhaupt keine Produktion.

Panik auf der Titanic! Die Verzweiflung im Maschinenraum und auf der Kommandobrücke ist abgrundtief. Wo sind die Rettungsboote? Aber gibt es überhaupt welche?“

Siehe auch:
  • Ein vernünftiger Linker – Ein ausführliches Porträt über Wolfgang Streeck  von Rainer Hank in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 26.10.2014
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4 Kommentare

  1. “ Lieber Produktion, die keiner braucht, als überhaupt keine Produktion.“
    Solche Leute braucht das Land! …. *nicht*. Sinnlos Ressourcen verbraten, nur um das bestehende System nicht in Frage stellen zu müssen. Wir kennen eigentlich alle die Kehrseite unserer Konsum- und Wegwerfgesellschaft: Müll ohne Ende, gleichbedeutend mit Verschwendung.

    „warum kein Wachstum trotz billigsten Geldes?“
    Weil Geld(-scheine) im Vergleich zu Öl/Gas einen recht bescheidenen Energieträger darstellen. Ohne Energie dreht sich nun mal das Räderwerk „moderner Volkswirtschaften“ nicht und ein Substitut in ähnlicher Quantität und Energiedichte ist (noch) nicht in Sicht.

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  2. giovanni gruen

     /  3. November 2014

    …ich erinnere mich dumpf, dass Marx sowas in der Art postulierte als Endphase des Kapitalismus…

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    • Markus Wichmann

       /  3. November 2014

      Ich fürchte, das gegenwärtige Krisenszenario hat er sich nicht einmal im Albtraum vorstellen können.

      Auch die heutige Weltelite der Ökonomen konnte das vor einigen Jahren noch nicht, von einigen wenigen Ausnahmen vielleicht abgesehen.

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  3. André Sandomeer

     /  4. November 2014

    Gute Analyse. Allerdings macht Streeck meiner bescheidenen Meinung nach einen Denkfehler bzw. denkt nicht weit genug. Wenn er einmal Notwendigkeit und Folgen von ständigem Wachstum in Frage stellen würde, wäre er in seinem Denken freier. Das Ziel eines unbegrenzten Wachstums hält uns in Geiselhaft. Erst, wenn wir dieses Ziel fallen lassen, wird der Blick auf einfache Lösungen frei.

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