Paul Krugman / Richard Layard: Manifest für ökonomische Vernunft (Übersetzung)

Paul Krugman und Richard Layard haben kürzlich ein „Manifesto for Economic Sense“ veröffentlicht, in dem sie für jedermann verständlich die Grundzüge ihrer Analyse der gegenwärtigen ökonomischen Krise darlegen und sich mit den wesentlichen Argumenten ihrer Gegner auseinandersetzen. Ihrer Aufforderung vor allem an die Wirtschaftswissenschaftler dieser Welt, das Manifest zu unterzeichnen, folgten bis Mitte August bereits ca. 9.000 Anhänger einer vernünftigen Ökonomie.

Meines Wissens liegen bisher zwei Übersetzungen ins Deutsche vor, eine unzulängliche und eine verbesserungsbedürftige. Letztere habe ich gründlich überarbeitet – hier das Ergebnis:

Ein Manifest für ökonomische Vernunft

Mehr als vier Jahre nach dem Beginn der Finanzkrise stecken die hochentwickelten Volkswirtschaften immer noch in einer tiefen Depression – ein Zustand, der sehr an die 1930er Jahre erinnert. Der Grund dafür ist einfach: Wir verlassen uns auf dieselben Konzepte, die für die Politik der 1930er Jahre maßgeblich waren. Diese lange widerlegten ökonomischen Vorstellungen beinhalten grundlegende Fehleinschätzungen über Ursachen und Natur der Krise sowie über die angemessenen Reaktionen darauf.

Diese Fehleinschätzungen haben sich tief im öffentlichen Bewusstsein festgesetzt, was dazu führt, dass die Öffentlichkeit die exzessiven Sparmaßnahmen in der Finanzpolitik vieler Länder unterstützt. Deshalb ist die Zeit reif für ein Manifest, in dem Ökonomen der politischen Mitte der Öffentlichkeit eine auf empirischen Erkenntnissen beruhende Analyse unserer Probleme vorstellen.

  • Die Ursachen. Viele Entscheidungsträger bestehen darauf, dass die Krise durch unverantwortlich hohe öffentliche Kreditaufnahme ausgelöst wurde. Mit sehr wenigen Ausnahmen – unter anderem Griechenland – ist dies falsch. Vielmehr wurden die Bedingungen für die Krise durch eine exzessive Verschuldung des privaten Sektors geschaffen, Banken eingeschlossen, die mit einem viel zu hohen Fremdkapitalanteil arbeiteten. Das Platzen dieser Blase führte zu massiven Einbrüchen der Wirtschaftsleistung und der Steuereinnahmen. Die großen Defizite der Staatshaushalte, die wir heute sehen, sind also eine Folge der Krise, nicht ihre Ursache.
  • Die Natur der Krise. Als die Immobilienblasen beiderseits des Atlantiks zusammenbrachen, reduzierten große Teile des privaten Sektors die Ausgaben, um stattdessen Schulden zurückzuzahlen. Dies ist aus individueller Sicht eine rationale Reaktion, kollektiv jedoch selbstzerstörerisch, genau wie die entsprechende Reaktion der Schuldner in den 1930er Jahren, weil die Ausgaben der Einen die Einkommen der Anderen sind. Ergebnis dieses Einbruchs der Ausgaben war eine wirtschaftliche Depression, die in der Folge die Staatsfinanzen weiter verschlechterte.
  • Die angemessene Reaktion. In einer Zeit, in der die Privatwirtschaft kollektive Anstrengungen unternimmt, Ausgaben zu kürzen, sollte die öffentliche Hand als eine stabilisierende Kraft agieren und versuchen, die wirtschaftliche Nachfrage aufrecht zu erhalten. Zumindest sollte man die Situation nicht noch durch erhebliche Einschnitte in die Staatsausgaben oder durch Steuererhöhungen für Normalbürger weiter verschärfen. Leider ist dies genau das, was viele Regierungen zur Zeit tun.
  • Der große Fehler. Nach einer angemessenen Reaktion in der ersten, akuten Phase der Wirtschaftskrise schlug die konventionelle Weisheit der Politik eine falsche Richtung ein: Sie konzentrierte sich auf die Defizite der öffentlichen Haushalte, die vor allem auf krisenbedingte Einnahmerückgänge zurückzuführen sind, und vertrat die Auffassung, man müsse im Einklang mit dem privaten Sektor jetzt Staatsschulden abbauen. Somit wirkte die Finanzpolitik nicht stabilisierend, sondern verschärfte die dämpfende, niederdrückende Wirkung der Ausgabenkürzungen des privaten Sektors auf das Wirtschaftsleben.

Bei einem schwächeren Schock hätte man die Wirtschaftsflaute mit Geldpolitik ausgleichen können. Aber wenn die Zinsen schon nahe Null liegen, kann Geldpolitik – deren Spielraum natürlich ausgeschöpft werden sollte – nicht mehr genügend Wirkung entfalten. Selbstverständlich braucht man einen mittelfristigen Plan zum Abbau der Staatsdefizite. Doch wenn dieser zu schnell einsetzt, vereitelt er das angestrebte Ziel, indem er die wirtschaftliche Erholung abwürgt. Hohe Priorität hat in einer solchen Situation die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, bevor sie sich festsetzt und einen späteren Aufschwung und Schuldenabbau noch weiter erschwert.

Wie begegnen die Befürworter der gegenwärtigen Politik nun diesem Gedankengang? Um ihren Ansatz zu stützen, führen sie zwei unterschiedliche Argumente an.

Das Vertrauensargument besagt, dass Haushaltsdefizite die Zinsen nach oben treiben und dadurch eine Erholung der Wirtschaft verhindern. Sparmaßnahmen erhöhen dagegen das Vertrauen der Märkte und unterstützen den Aufschwung.

Für dieses Argument gibt es jedoch keinerlei empirische Belege. Zum einen sind trotz außerordentlich hoher Defizite die Zinsen all derjenigen Staaten beispiellos niedrig, die eine normal funktionierende Zentralbank haben. Dies gilt sogar für Japan, wo die Staatsschulden heute 200% der jährlichen Wirtschaftsleistung übersteigen; auch Herabstufungen durch Ratingagenturen hatten keinerlei Auswirkungen auf die japanischen Zinsen. Die Zinsen einiger Euro-Staaten sind nur deshalb so hoch, weil es der Europäischen Zentralbank nicht erlaubt ist, als „Kreditgeber letzter Instanz“ (lender of last resort) für die Regierungen zu fungieren. Üblicherweise kann eine Zentralbank immer, wenn nötig, ein Staatsdefizit ausgleichen und so den Markt für Staatsanleihen intakt halten.

Überdies gibt es in der Vergangenheit kein einziges relevantes Beispiel dafür, dass durch Haushaltskürzungen die Wirtschaft angekurbelt wurde. Der Internationale Währungsfonds hat 173 Fälle von Haushaltskürzungen in einzelnen Ländern untersucht und fand als Folge durchgehend einen Wirtschaftsabschwung. In der Handvoll Fälle, wo auf Haushaltskonsolidierung Wirtschaftswachstum folgte, geschah dies infolge der Abwertung der eigenen Währung gegenüber einem starken Weltmarkt, was gegenwärtig keine Option ist. Die Lehre aus der IWF-Studie ist eindeutig: Haushaltskürzungen bremsen die wirtschaftliche Erholung. Und genau das passiert gerade – die Länder mit den größten Haushaltskürzungen mussten die größten Einbrüche der Wirtschaftsleistung hinnehmen.

Wie wir jetzt sehen, verhält es sich in Wahrheit so, dass Haushaltskürzungen der Wirtschaft kein Vertrauen einflößen. Firmen investieren nur, wenn sie genug Kunden erwarten können, mit genug Einkommen, das ausgegeben werden kann. Sparpolitik schreckt Investitionen ab.

Es gibt also überwältigende Belege gegen das Vertrauensargument; all die angeblichen Beweise für diese Doktrin lösen sich bei genauerer Betrachtung in Luft auf.

Das strukturelle Argument. Als zweites Argument gegen eine Nachfrageausweitung wird angeführt, die Wirtschaftsleistung werde von der Angebotsseite her eingeengt, und zwar durch strukturelle Ungleichgewichte. Wäre diese Theorie richtig, sollten zumindest Teile unserer Volkswirtschaften auf Hochtouren laufen, und einige Berufe sollten stark nachgefragt sein. Dies ist jedoch in den meisten Ländern nicht der Fall. Alle bedeutenden Wirtschaftssektoren haben zu kämpfen, und alle Berufe verzeichnen eine höhere Arbeitslosigkeit als üblich. Das Problem muss also ein allgemeiner Mangel an Ausgaben bzw. Nachfrage sein.

In den 1930er Jahren wurde das gleiche strukturelle Argument in den USA gegen Konjukturprogramme angeführt. Als die Ausgaben dann zwischen 1940 und 1942 endlich anstiegen, wuchs die Wirtschaftsleistung um 20%. Das Problem in den 1930ern war also, genau wie heute, zu wenig Nachfrage, und nicht Restriktionen der Angebotsseite.

Als Konsequenz dieser fehlgeleiteten Vorstellungen erlegen viele Entscheidungsträger des Westens ihren Bevölkerungen massives Leid auf. Ihre Konzepte zum Umgang mit der Rezession wurden von so gut wie allen Ökonomen nach dem Desaster der 1930er Jahre verworfen, und für die darauffolgenden vierzig Jahre genoss der Westen eine beispiellose Ära wirtschaftlicher Stabilität und geringer Arbeitslosigkeit. Es ist tragisch, dass die alten Vorstellungen in den letzten Jahren wieder Fuß fassen konnten. Wir können jedoch nicht länger akzeptieren, dass fehlgeleitete Ängste vor höheren Zinsen bei den Entscheidungsträgern mehr Gewicht haben als die Gräuel der Massenarbeitslosigkeit.

Bessere Politik wird von Land zu Land unterschiedlich sein und bedarf detaillierter Debatten. Diese müssen allerdings auf einer korrekten Analyse des Problems beruhen. Wir fordern deshalb alle Ökonomen und andere, die mit diesem Manifest in groben Zügen übereinstimmen, dazu auf, ihre Zustimmung auf www.manifestoforeconomicsense.org einzutragen und öffentlich für einen gesünderen Ansatz einzutreten. Die ganze Welt nimmt Schaden, wenn Männer und Frauen zu dem schweigen, was sie als falsch erkannt haben.

Richard Layard & Paul Krugman

Zum Unterzeichnen des Manifests
Siehe auch:
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2 Kommentare

  1. Schön, dass sich jemand meine Schnellübersetzung noch einmal vorgenommen hat. Schreib doch bitte noch dazu, dass deine Version dann automatisch auch unter Creative Commons BY-NC-SA weiterverwertbar ist, wie meine.

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    • Markus Wichmann

       /  15. Juli 2012

      Habe es bei „Über den Denkraum“ eingetragen. Danke für den Hinweis.

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