Die braven Medien und der böse Wulff

Ein Leserkommentar zu meinem Blogartikel „Zapfenstreich, Mob und Zivilgesellschaft“ hat mich veranlasst, das Thema noch einmal aufzugreifen. Hier meine Antwort an den Verfasser des Kommentars.

Sie vertreten offenbar allen Ernstes die Auffassung, Christian Wulff solle in der gegebenen Situation auf seinen ihm rechtlich zustehenden und mit dem dafür vorgesehenen Verfahren zuerkannten “Ehrensold” verzichten. Ihre Überzeugung begründen Sie mit zwei Argumenten: zum einen habe Wulff in früheren Zeiten selbst eine Absenkung der Ruhestandsbezüge für ausgeschiedene Bundespräsidenten gefordert, und nun, wo es ihn selbst betrifft, nehme er diese gleichwohl dankend an – immer so, wie es gerade opportun ist. Zum anderen habe der zurückgetretene Bundespräsident sich gravierende Verfehlungen zuschulden kommen lassen („die Bürger an der Nase herumgeführt“, „ein unwürdiges Spiel getrieben“, „nur scheibchenweise zugegeben, was sich nicht mehr leugnen ließ“), und als Buße sei es nur angemessen, wenn er auf seine Ruhestandsbezüge verzichte. Ein “Absahner” sei Wulff, hörte ich neulich in meinem Freundeskreis, und gegen so einen könne man gar nicht genug protestieren.

Was Ihr erstes Argument betrifft, so vergessen Sie, dass er seinerzeit – damals noch niedersächsischer Ministerpräsident – nicht vorschlug, eine Senkung des präsidialen „Ehrensolds“ solle auch rückwirkend gelten (was rechtlich gar nicht möglich wäre), oder alternativ sollten der amtierende Präsident und seine Vorgänger auf überhöht erscheinende Beträge von sich aus verzichten. Vielmehr sprach Wulff sich für eine Gesetzesänderung für zukünftige Fälle aus, und ich wette, zu diesem vernünftigen Vorschlag steht er auch noch heute. Eine solche Änderung der Rechtsgrundlage der Ruhestandsbezüge gibt es aber derzeit (noch) nicht. In dieser Situation ist ein freiwilliger Verzicht zugunsten der Staatskasse völlig weltfremd und im Übrigen rechtlich vermutlich gar nicht vorgesehen. Vielleicht könnte Christian Wulff Teile seiner Ruhebezüge wohltätigen Zwecken zukommen lassen oder in eine Stiftung einbringen – warten Sie doch mal ab, womöglich geschieht dies irgendwann. Aber: Allein er hat zu entscheiden, was er mit seinem Geld macht, uns geht das nicht im Mindesten etwas an. Wir fordern ja auch von den mit monatlichen Vorstandsgehältern in Höhe von sieben- bis achtunderttausend Euro und mehr ausgestatteten DAX-Vorständen nicht, sie sollten einen Teil dieses nun wirklich übertriebenen Salärs zurückgeben oder für wohltätige Zwecke spenden. Allenfalls setzen wir uns dafür ein, dass derartige Gehaltsstrukturen in Zukunft geändert werden.

Zu Ihrem zweiten Argument: Wir alle kennen die Geschehnisse nicht aus eigenem Erleben, sondern konnten uns unsere Meinung nur aufgrund der Medienberichterstattung bilden. Wissen Sie denn sicher, dass stets die umfassende Wahrheit ermittelt und berichtet wurde, und dass sämtliche Umstände berücksichtigt wurden, einschließlich der entlastenden Aspekte? Wurden Wulffs mögliche Verfehlungen z.B. denen anderer Politiker – Stichwort Wowereit – gegenübergestellt, und wurde dabei auch wirklich nicht mit zweierlei Maß gemessen? Haben Sie angesichts des Medien-Hypes der vergangenen Monate gar keine Zweifel, ob die chronisch skandallüsterne Presse gegenüber Christian Wulff zu einem Urteil gekommem ist, das man als gerecht und ausgewogen bezeichnen kann, und das den uralten Grundsatz “in dubio pro reo” angemessen berücksichtigt?

Lassen wir den hochproblematischen Aspekt der Boulevardisierung der Berichterstattung, des „Schimpf-und Schande-Journalismus“ einmal beiseite, so bleibt jedenfalls ein Faktum: Ihre Auffassung wird zwar von der Mehrheit der Bevölkerung geteilt, aber keineswegs von der gesamten Bevölkerung. Meines Wissens etwa 10 – 20 Prozent der Bürger halten Wulffs Verfehlungen, wenn sie überhaupt welche erkennen, eher für Kleinigkeiten, die einen Rücktritt nicht gerechtfertigt hätten.

Ihre Forderung an den Ex-Bundespräsidenten macht indessen nur dann Sinn, wenn Sie davon ausgehen, Christian Wulff würde Ihre Bewertung seines Verhaltens teilen und Ihre Schuldzuweisung im Grunde akzeptieren. Andernfalls würde er sich mit einem Pensionsverzichts der Mehrheitsmeinung schlicht unterwerfen, entgegen seiner eigenen Überzeugung – und das würden vermutlich selbst Sie nicht verlangen.

Nach allem, was wir wissen, teilt er aber Ihre Sichtweise nicht. Wie die Bevölkerungsminderheit ist er vermutlich der Auffassung, es handele sich bei den Vorwürfen entweder um Missverständnisse oder um Petitessen, die nur mittels einer populistischen, skandalisierenden Medienberichterstattung hochgekocht wurden. Und Sie erwarten von ihm gleichwohl, er solle auf seine Ruhebezüge als Bundespräsident verzichten und entgegen seiner eigenen Überzeugung der mehrheitlichen Volksmeinung folgen? Weshalb nicht der Auffassung der Minderheit – das sind schließlich auch Millionen Bundesbürger?

Selbstverständlich würde ein Pensionsverzicht als Ausdruck eines schlechten Gewissens und Eingeständnis einer Schuld ausgelegt werden. Selbst wenn Christian Wulff wegen der einen oder anderen seiner früheren Handlungen so etwas wie Schuldgefühle empfinden sollte, würde ihm jeder halbwegs vernünftige Anwalt von deren Bekenntnis während eines staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens entschieden abraten – und unser Rechtssystem erwartet ausdrücklich nicht, dass ein Verdächtigter oder Beschuldigter sich selbst belastet. Im Übrigen ist bekannt, dass Wulff für einige Jahre, bis seine Pensionsansprüche aus seiner Abgeordnetentätigkeit und aus seinem Ministerpräsidentenamt fällig werden, bei einem Ausfall des „Ehrensolds“ praktisch keine Einkünfte hätte.

Nein, das Problem liegt meiner festen Überzeugung nach bei denjenigen, die so denken wie Sie. Die sich berechtigt fühlen, ihre eigene Weltauffassung den Mitmenschen auf’s Auge zu drücken. Die Minderheitsmeinung soll gefälligst dem Urteil der Mehrheit folgen, und Christian Wulff allemal. Wenn nicht, wird’s ungemütlich. Zuerst wird der Ex-Präsident mit Spott und Häme überzogen und zur Unperson erklärt, über die man sich – so die Standardvokabel – nur noch fremdschämen kann. Sodann bläst ihm das Volk zur Abschiedsfeier den Marsch mit lärmenden Tröten.

Dies alles gehört zu den bedauerlichen Folgen der monatelangen populistischen Skandalberichterstattung, mit der die Medien bereitliegende Klischees aus dem weiten Feld der Politikverdrossenheit bedienten und anheizten. Große Teile des emotionalisierten Publikums sind unter diesen Bedingungen nur allzu geneigt, den Berichten und Kommentaren kritiklos Glauben zu schenken. Eine differenzierte, ausgewogene Urteilsbildung findet unter Empörungsumständen nicht statt, es entsteht vielmehr ein Feindbild.

Massenmedien tendieren dazu, aus den Menschen eine Masse zu machen, was deren Meinungsbildung betrifft. Massenmedien erzeugen Massenmeinungen, indem sie das von ihnen propagierte Weltverständnis in die Köpfe der Mehrheit bringen und das Denken der einzelnen Individuen auf diese Weise tendenziell gleichschalten. Der Masse zugehörig gibt der Mensch allzu leicht seinen individuellen Geist auf und wird im Denken und Handeln unkritisch, undifferenziert, irrational, ja manchmal primitiv. Sie wissen, dass ich noch untertreibe, hinsichtlich des Verrohungspotentials.

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