Geheuchelte Empörung im Abhörskandal?

Wenn es stimmt, was Elmar Theveßen, stellvertretender Chefredakteur des ZDF und Geheimdienstexperte,  gestern abend im ZDF-heute journal höchst plausibel darlegte, so wäre dem Abhörskandal ein weiteres Kapitel hinzufügen, das geeignet wäre, unsere Politiker in hohem Maße zu desavouieren und bloßzustellen.

Theveßen behauptet, die gegenwärtigen empörten Reaktionen der Politiker seien pure Heuchelei – die nachrichtendienstlichen Abhörpraktiken seien seit vielen Jahren bekannt.

„Macht uns doch nichts vor! Politiker aller Parteien wussten längst Bescheid. (…) Deutsche Politiker quer durch die Parteien spielen hier offenbar ‚mein Name ist Hase, ich weiß von nichts‘.“

In einem offenen Brief an Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger hatte der ZDF-Experte sich bereits am 22. Juni verwundert über die Entrüstung der Ministerin über das umfassende Ausspähprogramm von britischen und amerikanischen Geheimdiensten gezeigt und festgestellt,

„Sie – und eigentlich alle Politiker, die sich qua Amt in Sicherheitsfragen auskennen – wissen doch längst über das alles Bescheid.“

Entsprechende Informationen seien unter anderem bereits im Frühjahr 1998 in einem offiziellen Bericht an das EU-Parlament enthalten gewesen, in dem es hieß:

„Innerhalb Europas werden alle E-Mail-, Telefon- und Fax-Kommunikationen routinemäßig von der NSA abgefangen. Sie transferiert alle Zielinformationen über den wichtigen Knotenpunkt Menwith Hill in den Sümpfen von Nord Yorkshire im Vereinigten Königreich nach Fort Meade in Maryland“ (dem Hauptquartier der NSA in den USA).

Wenige Monate später, im Oktober 1998, habe das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg eine Warnung an deutsche Wirtschaftsunternehmen versandt:

Echelon (das damalige Abhörprogramm) hört ungefiltert den gesamten E-Mail-, Telefon-, Fax- und Telexverkehr ab, der weltweit über Satelliten weitergeleitet wird“.

Theveßen in seinem offenen Brief weiter:

„Sie, sehr geehrte Frau Leutheusser-Schnarrenberger, (…) wundern sich, wie andere deutsche Politiker, über etwas, was sie seit langem wissen mussten? Die amerikanische NSA, das britische GCHQ und ihre Partner haben in den verstrichenen 15 Jahren nur ihre Kapazitäten ausgebaut, neue Speicherserver angeschafft, Anzapfmethoden verfeinert – das Einklinken in Unterseekabel gibt es schon seit 1921 – und die Auswertungssoftware perfektioniert, z.B. PRISM. Ansonsten machen sie eigentlich das Gleiche wie immer. Allerdings haben Politiker die rechtlichen Rahmenbedingungen erleichtert und die Kontrollmechanismen abgeschliffen.

Ach, und schließlich, sehr geehrte Frau Bundesjustizministerin, noch die Frage: Was für Daten sammeln eigentlich französische, spanische und deutsche Geheimdienste in ihrem gemeinsamen Satellitenzentrum in Torrejon, Spanien?“

Wenn es stimmt, dass die allenthalben geäußerte Entrüstung über die bislang angeblich unbekannten Abhörpraktiken der Geheimdienste nur vorgetäuscht ist, dann werden wir nicht nur von „befreundeten“ Staaten an der Nase herumgeführt, sondern auch von unseren eigenen Politikern.

Es wäre in diesem historischen Skandal das Tüpfelchen auf dem I. Der Bürger könnte sich nur angewidert abwenden.

(Besser wäre natürlich, wir würden uns auf den Tahirplätzen unseres Landes versammeln und dort unsere Empörung zeigen. Aber anders als beim Stuttgarter Bahnhof wird die Bedrohung in diesem Fall nur abstrakt und distanziert erlebt. Die 68er sind auf dem Weg in die Rente, und das Wutbürgerpotential der Deutschen im allgemeinen ist höchst überschaubar.)

Siehe auch:
  • Orwell 2.0 – Die totale Überwachung ist längst Realität – Ausführliche Darstellung der Geschichte nachrichtendienstlicher Überwachungs- und Abhörpraktiken vom Ende des 2. Weltkriegs bis heute (Echelon, Prism etc.) von Jens Berger  – Nachdenkseiten, 02.07.2013
    • „Das jüngst bekannt gewordene Internetüberwachungsprogramm Prism ist nur die Spitze des Eisbergs. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs wird die internationale Kommunikation systematisch von spezialisierten Geheimdiensten abgehört. Mit dem technischen Fortschritt wuchs auch das Ausmaß der Überwachung rasant an. Heute betreibt wohl jedes bedeutende Land ein eigenes Abhörprogramm, gegen das die Stasi wie ein graues Relikt aus der Vorzeit wirkt. Die USA sind in Sachen Überwachung jedoch eine Klasse für sich. Der Staat, der stets so tut, als habe er ein Patent auf den Begriff „Freiheit“, hat heute ein digitales Überwachungssystem, das jeder orwellschen Totalitarismusphantasie Ehre macht. Wer glaubt, es ginge dabei nur um die „Terrorismusbekämpfung“, beleidigt dabei die Geschichte durch einen Mangel an Phantasie.“
  • Lizenz zum Abhören – Ist das der Preis der Freiheit?Maybritt Illner – Sendung vom 04.07.2013
    • „Ist aus dem großen Bruder USA inzwischen der böse Bruder geworden? Wie zerrüttet ist das deutsch-amerikanische Verhältnis? Wie geheim die Geheimdienstarbeit? Müssen wir uns zwischen Sicherheit und Freiheit entscheiden? Oder geht es am Ende nicht um Terrorabwehr, sondern um Wirtschaftsspionage?“
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20 Kommentare

  1. Müsste sich dann aber selbst Heuchelei vorwerfen lassen, denn wo soll der Bürger gelebt haben, der glaubhaft behaupten kann, dass ihm nicht klar war, dass es Geheimdienste gibt, wofür sie da sind, und was sie naturgemäß tun?

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    • Markus Wichmann

       /  2. Juli 2013

      Na ja, die Vorstellungen der James-Bond-erfahrenen Bürger über Geheimdienste sind vielleicht doch nicht derart differenziert…

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  2. Baer

     /  2. Juli 2013

    Was macht eigentlich unser BND haupberuflich? Pizzabäcker beschnüffeln? Wenn man davon nichts wußte, gehört der gesamte Stab ausgewechselt. Ich denke eher, dass man die Drecksarbeit (das eigene Volk auszuspähen) zwar mitträgt, aber ausführen sollen es die anderen Geheimdienste.

    Für wie dumm hält man eigentlich das Volk? Es wird gelogen und betrogen am laufenden Band. Es ist einfach nur noch zum Kot……

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  3. Ist doch erstaunlich, wie ploetzlich so viele Privatiers, Journalisten und Blogger zu Spionage-Experten werden. Ideologie erlaubt keine Syllogismen. Und so wird ein narzisstischer IT-Soziopath begeistert zum Nobelpreis vorgeschlagen – weil er die maechtigen US und die „Nachrichtendienstliche Internationale“ eigenhaendig vermeintlich zum Narren haelt. Die Narren sind diejenigen, die diesen Bloedsinn kaufen!

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    • Markus Wichmann

       /  2. Juli 2013

      Mmh. Das müssten Sie wohl doch etwas näher erläutern. So ist es nur eine unverständliche, pauschalisierende, überhebliche und entwertende Behauptung.

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  4. Verstehe Ihre Reaktion.
    In der naechsten post auf unserem Blog werde ich erklaeren.

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  5. Wo bitte lesen Sie darin ueber Verschwoerung? Im Gegenteil, ich habe die bekannten Groessen aufgezeigt und das Urteil dem Leser ueberlassen.

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  6. die verlorene generation

     /  3. Juli 2013

    „Die 68er sind auf dem Weg in die Rente“

    Haha, die 68er… jaja… welche generation hat denn die politischen errungenschaften unter leuten wie Brandt fuer status, geld und karriere verkauft? Fischer und Schroeder repraesentieren aus unserer sicht ihre generation ausgezeichnet. der gier nach „macht und kohle“ habt ihr euch als generation alle gleich schuldig gemacht. wenn man euch eure empoerung abnehmen soll ware es besser wenn ihr diese, mal subtile, mal offensichtliche, glorifizierung der sog. 68er abgewoehnen wuerdet.

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    • Markus Wichmann

       /  3. Juli 2013

      Wieviel Wut doch in der Blogosphäre so umherwabert. Selbst gegen die 68er.

      „der gier nach “macht und kohle” habt ihr euch als generation alle gleich schuldig gemacht.“ – Wirklich alle gleich? Oder gilt hier „Wut fresssen Verstand auf.“

      Wenn Fischer und Schröder die 68er-Generation aus Ihrer Sicht „ausgezeichnet repräsentieren“, so liegt das ganz offensichtlich an den Problemen Ihrer Sicht. Zwei Ausnahmepersönlichkeiten, in vieler Hinsicht, denken Sie nur an Brioni, Cohiba, Putin und die vielen Ehen – repräsentativ für die 68er?? Das überlegen Sie sich man nochmal in Ruhe.

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      • die verlorene generation

         /  3. Juli 2013

        “’Wut fresssen Verstand auf.‘ […], liegt das ganz offensichtlich an den Problemen Ihrer Sicht. […] Das überlegen Sie sich man nochmal in Ruhe.“

        nerv getroffen?

        falls sie mich nicht absichtlich falsch verstanden haben sollten:

        diese revolutionaere, prinzipientreue aura welche immer im subtext dieser romantisch zurueckblickenden lobeshymnen mitschwingt hat fuer unsere generation einen zunehmend nervigen beiklang. die einen haben ihre ideale fuer teure italienische anzuege und zigarren verkauft, die anderen eben fuer tolle jobtitel und karriere. (und mal ehrlich, um auf ihre vorlage einzugehen, schauen sie sich mal die scheidungsquoten 1950-2000 an.)

        das wesentliche fuer uns ist doch: hartz IV, freihandel, finanzspekulation, angriffskriege. diesen dingen wurde tuer und tor geoeffnet in einer zeit als die generation der sog. alt-68er in politik, wirtschaft oder schreibenden bzw. filmenden zunft am lenkrad sassen.

        unsere generation hat beileibe keine grundlage andere generationen zu kritisieren, aber der hinweis auf diese onkelhafte selbstverherrlichung wird ja wohl noch erlaubt sein. ich vermute er waere es 1968 jedenfalls gewesen.

      • Markus Wichmann

         /  3. Juli 2013

        Ne, ich hab Sie schon ganz richtig verstanden, wie Ihre Antwort zeigt.

        „die einen haben ihre ideale fuer teure italienische anzuege und zigarren verkauft, die anderen eben fuer tolle jobtitel und karriere.“

        Wieder so ein verächtlich hingeworfenes Pauschalurteil. Haben wirklich alle, meinetwegen auch: die meisten 68er ihre Ideale verkauft? Was ist denn z.B. mit Leuten wie Jutta Ditfurth, auch ein ehemaliges Aushängeschild? Oder Antje Vollmer? Oder Winfried Kretschmann? Hat der seine Ideale für das Amt des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg „verkauft“?? Wollen Sie ihm das unterstellen? Hätte er diesen „Jobtitel“ nicht anstreben sollen? Sie suchen sich ein paar Protagonisten raus, die in das Bild passen, das Sie den 68ern geben wollen, und nehmen die gesamte restliche Generation in Sippen-(Generations-)haft.

        „das wesentliche fuer uns ist doch: hartz IV, freihandel, finanzspekulation, angriffskriege. diesen dingen wurde tuer und tor geoeffnet in einer zeit als die generation der sog. alt-68er in politik, wirtschaft oder schreibenden bzw. filmenden zunft am lenkrad sassen.“

        Und während der 16 Jahre Kohl saßen die 68er auch am Lenkrad. Und die SPD unter Schröder war geschlossen für Hartz IV. Und Schröder hat uns nicht aus dem Irak-Angriffskrieg rausgehalten. – Was wir im Unterschied zu Ihnen allerdings gelernt haben, das ist, derart billige, undifferenzierte und im Ergebnis unwahre Polemik zu vermeiden und stattdessen einigermaßen sachlich zu diskutieren.

  7. Winston Foshay

     /  3. Juli 2013

    Mich würde mal interessieren welche Parteien genau Theveßen mit „Politiker aller Parteien“ meint?. Auch die Politiker der Linken ? Oder ist das wiedermal nur die bekannte Marginalisierung der Linken durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk…also dass die Linke nicht zu „allen Parteien“ gezählt werden?

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  8. Thoma

     /  3. Juli 2013

    Wenn das stimmt, dann muss sich keiner mehr fragen, warum unsere Angie so still ist:
    http://www.heise.de/tp/artikel/39/39408/1.html

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  9. Eckart Kügele

     /  3. Juli 2013

    Ich habe so etwas schon vermutet, obwohl man es kaum glauben kann. Man kann offenbar gar nicht so „schlimm“ denken, wie die Wirklichkeit es uns dann vorführt.

    Die Frage, die mich dabei bewegt: Wieso ist das so? Wenn sie alle Bescheid gewusst haben, kommen unsere Volksvertreter ihren Pflichten nicht mehr nach. Ihre vornehmste Pflicht ist es, uns Bürger zu schützen vor willkürlichen Übergriffen, die offenbar schon zur Routine geworden sind.

    Liegt das auch an uns, die zu viel Vertrauen haben ins demokratische System Deutschlands? Kümmern wir uns zu wenig um die Angelegenheiten, wodurch wir diesen Verantwortungslosigkeiten unsererseits Vorschub leisten?

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  10. Bonsta

     /  3. Juli 2013

    Dieser Kommentar Thevesens ist mir zu pauschal. Natürlich, all diese Fakten und viele mehr, können einen Experten auf diesem Gebiet nicht überraschen. Im Grunde ärgert sich der Experte seit vielen Jahren, was die Geheimdienste so treiben, aber niemanden schien es zu interessieren. Hier liegt aber auch das Problem Thevesens; er ist eben Experte! Politiker sind das meistens gerade nicht! In seinem offenen Brief greift er Leutheuser Schnarrenberger direkt an. Das ist legitim, denn in diesem Amt sollte man sich schon mit der Materie vertraut machen, und ein derart plumpes Statement ist von ihr inakzeptabel. Aber ob das auch für einen Trittin gelten kann? Da habe ich meine Zweifel. Auch habe ich meine Zweifel, dass das auch nur annähernd die Hälfte der im Bundestag vertretenen Politiker wussten.

    Der Verdienst Snowdens ist es, dass er einen seit Jahrzehnten laufenden Skandal für die ganze Welt sichtbar aus seinem Schattendasein geholt hat. Auch für Politiker. So fair sollte man schon sein. Nun steht das Thema auf der Agenda und so schnell wird es dort nicht verschwinden. Dass sich Politiker nun erstmal positionieren müssen, das ist doch auch klar. Man kann von ihnen nicht verlangen, ohne Grund an ein derart heikles Thema heranzugehen. Dass dieses Thema sehr wohl heikel ist, sollte außer Frage stehen. Dass Thevesen mit keinem Wort die Linkspartei erwähnt, ist auch sehr merkwürdig, denn diese hat zumindest, was seine Frage in dem offenen Brief bzgl. Torrejon angeht, eine deutliche Antwort gegeben – und zwar schon lange vor prism…

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    • Winston Foshay

       /  3. Juli 2013

      Ja, das mit der Linkspartei hat mich auch sehr gewundert. Er redet von allen Parteien, auch von der Opposition, aber so recht kann ich das nicht bei der Linkspartei glauben. Immerhin wollte die Linkspartei eine Sondersitzung des Bundestages zum Thema Prism und Tempora anberaumen, aber alle anderen Parteien haben dies abgelehnt, weil sie kein Interesse hätten. Scheinbar wird die Linkspartei bei den öffentlich-rechtlichen nicht als richtige Partei betrachtet. Und für solche Berichterstattung muss man auch noch bezahlen. Ziemlich absurd alles!

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