„Denn sie wissen nicht, was sie tun“ überschreibt Jakob Augstein seine heutige Spiegel-Kolumne, in Anspielung auf den gleichnamigen James-Dean-Film, in dem der Protagonist „nur durch Glück das ‚Hasenfußrennen‘ überlebt“, sein Kontrahent jedoch in den Abgrund stürzt. Augstein sieht Russland und den Westen auf dem besten Weg zu einem ähnlich halsbrecherischen Spiel mit dem Feuer:
„Markige Worte und militärische Manöver: An ihrer Ostgrenze will die Nato gegenüber Russland jetzt Stärke zeigen. Der Kalte Krieg ist zurück. Nicht mal 25 Jahre hielt die Entspannung.“
In der Tat: Im Ukraine-Konflikt wird munter eskaliert, von allen wesentlichen Akteuren. Wahrlich auch vom Westen. Allen voran vom demnächst gottlob ausscheidenden NATO-Generalsekretär Rasmussen, berüchtigt für seine aggressive militaristische Rhetorik:
Einige (…) Verbündete [finden], dass Rasmussen den Konflikt mit dem östlichen Nachbarn unnötig angeheizt hat. Woche für Woche irritierte er die Westeuropäer einschließlich Berlin mit Äußerungen, die nicht dem diplomatischen Lehrbuch entsprechen. Mal stellte er der Ukraine und anderen osteuropäischen Staaten einen Nato-Beitritt in Aussicht. Mal bestätigte er angebliche Grenzverletzungen Russlands, auch dem russischen Hilfskonvoi unterstellte er sofort und öffentlich böse Absichten. (Spiegel online, 04.09.2014)
Bereits Mitte Mai hatte Rasmussen mehr Militärausgaben und neue Verteidigungspläne der NATO für Osteuropa gefordert und Anfang August Vollzug gemeldet. Auf dem in diesen Tagen in Wales stattfindenden NATO-Gipfel werden diese gegen Russland gerichteten militärischen Maßnahmen nun beschlossen, die der Abschreckung dienen und den als alleinigen Aggressor ausgemachten Putin einschüchtern sollen (NATO-Manöver in Osteuropa; Gründung einer 4000 Mann starken „schnellen Eingreiftruppe“; wer ernsthaft glaubt, Putin damit abschrecken zu können, informiere sich über die russischen Streitkräfte.).
Jakob Augstein:
„Man wird sich an diesen Tag erinnern. Er besiegelt den Neubeginn des Kalten Krieges. Ab jetzt regiert wieder die irre Logik der Militärs. Das wäre vermeidbar gewesen. Wenn es denn jemand hätte vermeiden wollen. Die Russen wollten nicht – und wir im Westen auch nicht. „It takes two to tango“, hat Ronald Reagan einmal zum US-sowjetischen Verhältnis gesagt. Das gilt für die Entspannung ebenso wie für die Konfrontation. (…)
Hinter uns lassen wir (…) die Trümmer der Entspannungspolitik. Wir konnten ihre Früchte nicht einmal 25 Jahre lang genießen.“
Bei Maybritt Illner diskutierten dazu sehr treffend der ehemalige Generalinspekeur der Bundeswehr und Vorsitzende des NATO-Militärausschusses Harald Kujat, EU-Parlamentspräsident Martin Schulz und der Philosoph und Publizist Richard David Precht. Hier ein kurzer Ausschnitt:
Selbstverständlich wissen die Akteure, wie Eskalation funktioniert. Wer sich jemals mit der Zuspitzung von Konflikten befasst hat, kennt z.B. die Eskalationsstufen, die Friedrich Glasl erstmalig 1980 beschrieben hat.
Glasls Standardwerk zum Konfliktmanagement ist inzwischen in 11. Auflage erschienen. Übrigens auch auf russisch. Die Konflikt- und Friedensforschung erarbeitete zudem detaillierte
Handlungsanleitungen zum Ausstieg aus Eskalationsszenarien.
Man weiß also, wie man in einem politischen Konflikt deeskalierend agieren könnte, tut es aber nicht. Auch der Westen nicht, in seiner Gesamtheit. Steinmeier, Merkel und EU-Parlamentspräsident Schulz mal ausgenommen.
Demzufolge sehen wir uns heute mit einer politischen Lage konfrontiert, in der die bisherige europäische Friedensordnung in Auflösung begriffen ist und ein neuer Kalter Krieg mit Russland immer wahrscheinlicher wird. Es stellt sich die Frage, warum der Westen an der Eskaltionsspirale, die zu diesem fatalen, folgenschweren Ergebnis geführt hat, so leichtfertig mitgestrickt hat – im Sinne der Spieltheorie: „mitgespielt“?
Nochmal Jakob Augstein:
„Das Denken des Kalten Krieges folgte der ausweglosen Logik der Spieltheorie: Rechne stets mit den schlechtesten Absichten und den besten Fähigkeiten deines Feindes. Jetzt wird wieder so gedacht. Was will Putin? Wäre es ihm nur um die Krim gegangen, dann könnte er sich jetzt zurückziehen. Denn die Krim wird dem Kreml-Herren niemand mehr streitig machen.
Warum der unerklärte Krieg in der Ostukraine? Da ist kein langes Kopfkratzen nötig: Putin will den Westen zerstören – nach dem Motto: Rechne mit den schlechtesten Absichten … Darauf gibt es nur eine Antwort: stark sein, hart sein. Niemand will den neuen Chamberlain geben und bloß kein neues München! Aber Putin ist nicht Hitler. Dass er Walhalla-Weltuntergangsfantasien à la Führer hätte, ist nicht bekannt. Die Kanzlerin sagt, er lebe „in seiner eigenen Welt“. Die „Zeit“ schreibt ihm „Einkreisungsfantasien“ zu.
Die Wahrheit ist: Putin hat lange zugesehen, wie ihm Nato und EU immer näher rückten. Bei der Ukraine war Schluss. Der Westen musste das wissen.“
Das ist genau der Punkt. Die entscheidenden Fehler wurden bereits im Vorfeld des Ukraine-Konflikts gemacht. Man ist Russland zu dicht auf die Pelle gerückt. Mit seinen hochentwickelten politischen, wirtschaftlichen und militärischen Institutionen war der Westen im Begriff, sich leichtfertig und unüberlegt in Russlands Vorgarten breit zu machen.
Wenn eine ehemalige kommunistische Großmacht sich durch ihren Zerfall gedemütigt fühlt, dann aber einen eigenen (durchaus problematischen – Stichwort: Oligarchen) Weg zum Kapitalismus einschlägt, sollte man ihr die Tür öffnen und den Weg ebnen, bei den verbliebenen neuralgischen Punkten jedoch schonend, umsichtig und sensibel mit ihr umgehen. Sie durchaus mit Samthandschuhen anfassen, wenn ihre Empfindlichkeiten berührt werden.
Allemal, wenn diese ehemalige Großmacht über Bodenschätze verfügt, von denen wir mittlerweile abhängig sind, und über Streitkräfte und militärische Möglichkeiten in einer Größenordnung, dass man sich damit ganz gewiss besser nicht anlegt.
Und übrigens auch dann, wenn der Präsident dieser ehemaligen Großmacht mitnichten ein lupenreiner Demokrat, sondern ein mit allen KGB-Wassern gewaschener, von geopolitischer Expansionslust geleiteter skrupelloser Saukerl sein sollte.
Ergänzung am 14.09.2014:
- Auf den untenstehenden Kommentar von Stefan Thiesen möchte ich besonders hinweisen. Hier nochmal der Link zu der erwähnten deutschen Übersetzung des Offenen Briefs der Ex-Geheimdienstmitarbeiter bei Telepolis, sowie zu einem Bericht über die Angelegenheit in der Süddeutschen Zeitung.
18.09.2014: Vietnamisierung der Ukraine?
Gabor Steingart, klarsichtiger, blitzgescheiter und daher zurecht renommierter Journalist, derzeit Handelsblatt-Verlagschef, schreibt montags bis freitags zu früher Stunde einen kurzen, meist brillant formulierten Newsletter, das Handelsblatt Morning Briefing. Die heutige Ausgabe enthält eine Passage, die ich Denkraum-Lesern nicht vorenthalten möchte (Hervorhebungen teilweise von mir):
„Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hält heute eine Rede vor dem US-Kongress. Danach wird wahrscheinlich ein neuer millionenschwerer Scheck für weiteres Kriegsgerät ausgestellt. Die Vietnamisierung der Ukraine nimmt damit ihren Lauf. Dabei ist ein Ausstieg aus der Spirale von Drohung und Gegendrohung, von Gewalt und Gegengewalt durchaus denkbar. Bertolt Brecht wusste, wie das geht: ‚Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.‘
Zur Umkehr rät auch unser heutiger Gastkommentator Friedbert Pflüger, einst Außenpolitiker der CDU und heute Institutsleiter am King‘s College in London: ‚Es gibt keine Lösung der Ukraine-Krise, keine wirksame Terrorbekämpfung, keinen Frieden ohne Russland. So sehr wir Putins Politik kritisieren: Unser Interesse ist der Ausgleich.'“