Joseph E. Stiglitz: Griechenland – eine moralische Erzählung

Am 03. Februar 2015, kurz nach den von SYRIZA gewonnenen Parlamentswahlen in Griechenland,  veröffentlichte der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz beim Project Syndicate einen Kommentar, in dem er den ökonomischen Umgang der europäischen Finanzinstitutionen (EZB, Eurogruppe, EU-Kommission) und des Internationalen Währungsfonds mit der griechischen Staatsschuldenkrise analysierte und scharf kritisierte. Da diese Analyse von Stiglitz über den Tag hinaus von grundsätzlicher Bedeutung ist, wird sie hier wiedergegeben. Hervorhebungen von mir (MW).

Griechenland – eine moralische Erzählung

Als die Eurokrise vor einem halben Jahrzehnt begann, prophezeiten Keynesianer, dass die Sparmaßnahmen (austerity), die Griechenland und den anderen Krisenländern auferlegt wurden, scheitern würden. Sie würden das Wachstum behindern und die Arbeitslosigkeit steigen lassen – und es nicht einmal schaffen, die Schuldenquote sinken zu lassen. Andere – in der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und einigen Universitäten – sprachen von expansiv wirkenden Verringerungen (expansionary contractions). Aber sogar der Internationale Währungsfonds machte geltend, dass Kontraktionen, wie etwa Kürzungen der Staatsausgaben, eben genau das sind – kontraktiv.

Ein erneutes Ausprobieren wäre kaum nötig gewesen. Austerität war bereits wiederholt gescheitert, angefangen bei ihrem frühen Einsatz unter US-Präsident Herbert Hoover, der den Börsencrash zur Großen Depression werden ließ, bis zu den IWF-„Programmen“, die Ostasien und Lateinamerika in den letzten Jahrzehnten auferlegt wurden. Und doch ist es wieder mit Austerität probiert worden, als Griechenland in Schwierigkeiten geriet.

Griechenland hat sich weitgehend erfolgreich an die Weisungen der Troika (die Europäische Kommission, die EZB und der IWF) gehalten: Es hat ein Primärdefizit in einen Primärüberschuss verwandelt. Aber die Kürzung der Staatsausgaben hatte, wie vorherzusehen war, verheerende Folgen: 25% Arbeitslosigkeit, ein BIP-Rückgang um 22% seit 2009 und eine Zunahme der Staatsschuldenquote um 35%. Mit dem überwältigenden Wahlsieg der austeritätsfeindlichen Partei Syriza haben die griechischen Wähler nun erklärt, dass sie genug haben.

Was also muss getan werden? Zunächst einmal müssen wir uns über folgendes im Klaren sein: Man könnte Griechenland die Schuld an seinen Problemen geben, wenn es das einzige Land wäre, in dem die Medizin der Troika kläglich versagt hat. Doch auch Spanien hatte vor der Krise einen Überschuss und eine niedrige Schuldenquote und auch Spanien steckt in der Wirtschaftskrise. Es werden nicht so sehr Strukturreformen innerhalb von Griechenland und Spanien gebraucht, als vielmehr Strukturreformen des Konstrukts Eurozone und ein grundlegendes Überdenken der politischen Rahmenbedingungen, auf die die spektakulär schlechte Leistung der Währungsunion zurückzuführen ist.

Zudem hat uns Griechenland erneut erinnert, wie dringend die Welt ein Verfahren zur Umstrukturierung von Schulden braucht. Übermäßige Verschuldung hat nicht nur die Krise 2008 ausgelöst, sondern auch die Asienkrise in den 1990er-Jahren und die lateinamerikanische Krise der 1980-er Jahre. In den USA, wo Millionen von Eigenheimbesitzern ihre Häuser verloren haben, sorgt Überschuldung weiterhin für unermessliches Leid, und gegenwärtig droht Millionen von Menschen in Polen und anderswo Unheil, die Kredite in Schweizer Franken aufgenommen haben.

Wenn man das Ausmaß betrachtet, in dem übermäßige Verschuldung für Bedrängnis sorgt, muss man sich fragen, warum Einzelpersonen und Länder sich wiederholt in diese Situation begeben. Schließlich sind solche Schulden Verträge – also freiwillige Vereinbarungen –, für die Gläubiger ebenso viel Verantwortung tragen wie Kreditnehmer. Tatsächlich tragen Gläubiger wohl mehr Verantwortung: Normalerweise handelt es sich um spezialisierte Finanzinstitutionen, wohingegen Kreditnehmer oftmals weit weniger Erfahrung mit den Launen der Märkte und den Risiken im Zusammenhang mit verschiedenen vertraglichen Vereinbarungen besitzen. Tatsächlich wissen wir, dass sich US-Banken gezielt Kreditnehmer ausgesucht und ihre mangelnde finanzielle Kompetenz ausgenutzt haben.

Jedes (fortschrittliche) Land hat erkannt, dass es notwendig ist, dem Einzelnen einen Neuanfang zu ermöglichen, damit Kapitalismus funktioniert. Die Schuldgefängnisse des neunzehnten Jahrhunderts waren ein Misserfolg – unmenschlich und nicht gerade hilfreich dabei, eine Rückzahlung sicherzustellen. Was geholfen hat, waren bessere Anreize für eine gute Kreditvergabe, indem Darlehensgeber stärker für die Konsequenzen ihrer Entscheidungen verantwortlich gemacht wurden.

Auf internationaler Ebene haben wir bislang noch kein geregeltes Verfahren geschaffen, um Ländern einen Neuanfang zu ermöglichen. Schon vor der Krise 2008 haben sich die Vereinten Nationen, mit Unterstützung fast aller Entwicklungs- und Schwellenländer, darum bemüht, einen solchen Rahmen zu schaffen. Doch die USA haben dies entschieden abgelehnt; vielleicht wollen sie erneut Schuldgefängnisse für die Vertreter verschuldeter Staaten einrichten (wenn ja, werden eventuell Räumlichkeiten in Guantánamo frei).

Die Vorstellung, Schuldgefängnisse wieder einzuführen, mag weit hergeholt erscheinen, schwingt aber im aktuellen Gerede über fahrlässiges Verhalten im Vertrauen auf Rettung von außen, von Fachleuten „moral hazard“ genannt, und Verantwortlichkeit mit. Es gibt Befürchtungen, dass Griechenland, wie andere Länder auch, erneut in Schwierigkeiten geraten wird, wenn eine Umschuldung auf Staatsebene zugelassen wird.

Das ist blanker Unsinn. Glaubt irgendjemand, der bei klarem Verstand ist, dass ein Land bereitwillig auf sich nehmen würde, was Griechenland durchgemacht hat, nur um seine Gläubiger zu seinem eigenen Vorteil ausnutzen zu können? Wenn es einen moral hazard gibt, dann auf Seiten der Kreditgeber – vor allem in der Privatwirtschaft –, die wiederholt gerettet worden sind. Wenn Europa zugelassen hat, dass diese Schulden der Privatwirtschaft zu Schulden des öffentlichen Sektors werden – eine Vorgehensweise, die in den vergangenen fünfzig Jahren gängig geworden ist –, dann sollte Europa, und nicht Griechenland, die Konsequenzen tragen. Die derzeitige Misere in Griechenland, unter anderem der massive Anstieg der Schuldenquote, ist in erster Linie auf die verfehlten Programme der Troika zurückzuführen, die Griechenland aufgedrängt worden sind.

Demnach ist nicht die Umschuldung „unmoralisch“, sondern ihre Abwesenheit. Die Zwangslage, in der sich Griechenland heute befindet, ist im Grunde nichts Besonderes; viele Länder haben sich in der gleichen Situation befunden. Es ist die Struktur der Eurozone, die es erschwert, die Probleme Griechenlands anzugehen: Eine Währungsunion bedeutet, dass eine Währungsabwertung für Mitgliedsländer nicht als Ausweg in Betracht kommt, doch das Mindestmaß an europäischer Solidarität, dass mit diesem Verlust politischer Flexibilität einhergehen muss, ist einfach nicht vorhanden.

Vor siebzig Jahren, am Ende des Zweiten Weltkriegs, haben die Alliierten erkannt, dass Deutschland die Möglichkeit eines Neuanfangs gegeben werden muss. Sie haben verstanden, dass der Aufstieg Hitlers viel mit der Arbeitslosigkeit (nicht der Inflation) zu tun hatte, die eine Folge der neuen Schulden war, die Deutschland am Ende des Ersten Krieges aufgebürdet worden waren. Die Torheit, mit der die Schulden angehäuft wurden, oder Gerede über die Kosten, die Deutschland anderen aufgebürdet hatte, wurden von den Alliierten außen vor gelassen. Stattdessen haben sie nicht nur die Schulden erlassen; sie haben tatsächlich Hilfsgelder gezahlt und die in Deutschland stationierten alliierten Truppen haben die Konjunktur zusätzlich angekurbelt.

Wenn Unternehmen in Konkurs gehen, ist ein Debt Equity Swap, die Umwandlung von Verbindlichkeiten in Eigenkapital, eine faire und wirksame Lösung. Die analoge Vorgehensweise für Griechenland ist die Umwandlung seiner derzeitigen Staatsanleihen in Schuldverschreibungen, die an die Entwicklung des BIP gekoppelt sind (GDP-linked bonds). Wenn Griechenland seine Sache gut macht, werden seine Gläubiger mehr von ihrem Geld bekommen; wenn nicht, werden sie weniger bekommen. Beide Seiten hätten somit einen starken Anreiz, wachstumsfördernde Strategien zu verfolgen.

Es kommt nur selten vor, dass demokratische Wahlen eine derart klare Botschaft aussenden wie just in Griechenland. Wenn Europa die Forderungen griechischer Wähler nach einem Kurswandel zurückweist, bringt es damit zum Ausdruck, dass Demokratie nicht von Bedeutung ist, zumindest, wenn es um die Wirtschaft geht. Warum der Demokratie nicht gleich das Aus erklären, so wie beim Staatsbankrott in Neufundland vor dem Zweiten Weltkrieg?

Es ist zu hoffen, dass sich diejenigen durchsetzen werden, die verstehen, wie Schulden und Austerität in der Wirtschaft funktionieren, und die an Demokratie und menschliche Werte glauben. Ob es so kommen wird, bleibt abzuwarten.

(Aus dem Englischen von Sandra Pontow.)

Außerdem:
  • Gebt Tsipras mehr Zeit – Kommentar von Sven Giegold – Zeit, 23. März 2015 – Sven Giegold sitzt für die Grünen im EU-Parlament und beschäftigt sich vor allem mit dem Banken- und Steuerrecht. Der 43-Jährige hat die globalisierungskritische Organisation Attac mitbegründet.

    „Griechenland soll nicht nur sparen, sondern auch Schulden abbauen, ganz schnell. Das ist ökonomischer Unsinn und verhindert, dass sich das Land wirklich erholen kann.“ 

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Ein Kommentar

  1. cashca

     /  23. März 2015

    Die Politik der letzten Jahre war katastrophal. Sie trägt die Verantwortung für die Zustände der total verschuldeten Länder, die defacto vor dem Bankrott stehen.

    Was hat man daraus gelernt? NICHTS. Weiterhin bestimmen die Leute, die mit ihren Ansichten falsch lagen, die entweder nichts begreifen wollen oder bewusst dahin steuern, die Geschicke Europas. Man sollte endlich auf die Leute hören, die mit ihren Prognosen, Warnungen, Aussagen richtig lagen.

    Was ist das für eine Politik, wo 3 Hansel, die sog. Troika, mit diktatorischen Maßnahmen ganze Länder in den Ruin treiben können. Allesamt Goldmann Banker noch dazu, die einzig und allein im Interesse der Banken gearbeitet haben. Wenn das die moderne Demokratie ist, dann gute Nacht.

    Die Konsum…Schuldenorgien der letzten Jahre sind schon pervers, sie haben Europa in den Abgrund gestürzt und alle Regierenden haben das kräftig angeheizt und gefördert. Die Gläubigerbanken werden gerettet, das Geld, die Gewinne wurden verräumt, sie haben nichts zu befürchten. Der Dumme ist immer der Bürger. Ein Volk, das diese Politik durch die Wahlen bestätigt, indem erneut genau diese Politiker gewählt werden, bekommt das, was sie verdienen. Den Schuldensumpf.

    Auch DE wird noch bekommen, was sie befürwortet haben, nur mit einer zeitlichen Verzögerung. Auch hier gilt immer noch konsumieren, Schulden machen auf Teufel komm raus. Sie reden von Reichtum, dabei fehlt das Geld bereits an allen Ecken und Enden. Man hat nicht investiert in die Zukunft, sondern alles verkonsumiert. Das ist ein großer Unterschied. Auch uns werden die fatalen Fehlentscheidungen der letzten Jahre noch einholen. Mit endlos gepumpten Geld kann man ein Volk nur eine zeitlang befrieden, ihm grenzenlosen Wohlstand vorgaukeln, der eigentlich nicht durch produktive Arbeit erwirtschaftet wird, sondern nur noch durch Geldspekulation und Druckerpresse erreicht wird. Der Tag der Abrechnung kommt auch bei uns. Die Bürger sorgen dafür freiwillig. Sie werden es merken, wenn die NOT auch sie erreicht.

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