Papst Franziskus: Radikale Kapitalismuskritik

In eindrucksvoll radikaler Weise kritisiert Papst Franziskus in seinem Ende November veröffentlichten Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ (Die Freude des Evangeliums) unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem.

In der Presseberichterstattung kommen weder die unmissverständliche Klarheit und Schärfe der päpstlichen Kapitalismuskritik noch der heilige Zorn, mit dem sie vorgetragen wird, genügend zum Ausdruck. Daher werden die betreffenden Passagen – die Punkte 53 bis 60 des päpstlichen Schreibens – hier im deutschsprachigen Volltext wiedergegeben.

Wäre bei den Koaltionsverhandlungen der Geist des neuen Papstes anwesend gewesen und hätte die Vertreter der „christlichen“ Parteien erleuchtet, dann wären in der Finanzpolitik und bei der Bankenregulierung dickere Bretter gebohrt worden, und die Sozialdemokraten brauchten am Erfolg ihres Mitgliedervotums keinen Moment zweifeln. 

Nach meiner bisherigen Recherche existiert übrigens kein auch nur annähernd vergleichbarer Text von Seiten der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung

53.  Ebenso wie das Gebot „du sollst nicht tö­ten“ eine deutliche Grenze setzt, um den Wert des menschlichen Lebens zu sichern, müssen wir heute ein „Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkom­men“ sagen. Diese Wirtschaft tötet. Es ist un­glaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht. Das ist Ausschließung. Es ist nicht mehr zu tolerie­ren, dass Nahrungsmittel weggeworfen werden, während es Menschen gibt, die Hunger leiden. Das ist soziale Ungleichheit. Heute spielt sich al­les nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit und nach dem Gesetz des Stärkeren ab, wo der Mächtigere den Schwächeren zunichte macht. Als Folge dieser Situation sehen sich große Mas­sen der Bevölkerung ausgeschlossen und an den Rand gedrängt: ohne Arbeit, ohne Aussichten, ohne Ausweg. Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann. Wir haben die „Wegwerf­kultur“ eingeführt, die sogar gefördert wird. Es geht nicht mehr einfach um das Phänomen der Ausbeutung und der Unterdrückung, sondern um etwas Neues: Mit der Ausschließung ist die Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der man lebt, an ihrer Wurzel getroffen, denn durch sie befindet man sich nicht in der Unterschicht, am Rande oder gehört zu den Machtlosen, sondern man steht draußen. Die Ausgeschlossenen sind nicht „Ausgebeutete“, sondern Müll, „Abfall“.

54.  In diesem Zusammenhang verteidigen einige noch die „Überlauf“-Theorien (trickle-down-Theorie), die davon ausgehen, dass jedes vom freien Markt begünstigte Wirtschaftswachstum von sich aus eine größere Gleichheit und soziale Einbindung in der Welt hervorzurufen vermag. Diese Ansicht, die nie von den Fakten bestätigt wurde, drückt ein undifferenziertes, naives Ver­trauen auf die Güte derer aus, die die wirtschaft­liche Macht in Händen halten, wie auch auf die sakralisierten Mechanismen des herrschenden Wirtschaftssystems. Inzwischen warten die Aus­geschlossenen weiter. Um einen Lebensstil ver­treten zu können, der die anderen ausschließt, oder um sich für dieses egoistische Ideal begeistern zu können, hat sich eine Globalisierung der Gleichgültigkeit entwickelt. Fast ohne es zu merken, werden wir unfähig, Mitleid zu emp­finden gegenüber dem schmerzvollen Aufschrei der anderen, wir weinen nicht mehr angesichts des Dramas der anderen, noch sind wir daran interessiert, uns um sie zu kümmern, als sei all das eine uns fern liegende Verantwortung, die uns nichts angeht. Die Kultur des Wohlstands betäubt uns, und wir verlieren die Ruhe, wenn der Markt etwas anbietet, was wir noch nicht ge­kauft haben, während alle diese wegen fehlender Möglichkeiten unterdrückten Leben uns wie ein bloßes Schauspiel erscheinen, das uns in keiner Weise erschüttert.

Nein zur neuen Vergötterung des Geldes

55.  Einer der Gründe dieser Situation liegt in der Beziehung, die wir zum Geld hergestellt haben, denn friedlich akzeptieren wir seine Vor­herrschaft über uns und über unsere Gesellschaf­ten. Die Finanzkrise, die wir durchmachen, lässt uns vergessen, dass an ihrem Ursprung eine tiefe anthropologische Krise steht: die Leugnung des Vorrangs des Menschen! Wir haben neue Göt­zen geschaffen. Die Anbetung des antiken gol­denen Kalbs (vgl. Ex 32,1-35) hat eine neue und erbarmungslose Form gefunden im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschli­ches Ziel. Die weltweite Krise, die das Finanz­wesen und die Wirtschaft erfasst, macht ihre Un­ausgeglichenheiten und vor allem den schweren Mangel an einer anthropologischen Orientierung deutlich – ein Mangel, der den Menschen auf nur eines seiner Bedürfnisse reduziert: auf den Kon­sum.

56.  Während die Einkommen einiger weniger exponentiell steigen, sind die der Mehrheit im­mer weiter entfernt vom Wohlstand dieser glück­lichen Minderheit. Dieses Ungleichgewicht geht auf Ideologien zurück, die die absolute Autono­mie der Märkte und die Finanzspekulation ver­teidigen. Darum bestreiten sie das Kontrollrecht der Staaten, die beauftragt sind, über den Schutz des Gemeinwohls zu wachen. Es entsteht eine neue, unsichtbare, manchmal virtuelle Tyrannei, die einseitig und unerbittlich ihre Gesetze und ihre Regeln aufzwingt. Außerdem entfernen die Schulden und ihre Zinsen die Länder von den praktikablen Möglichkeiten ihrer Wirtschaft und die Bürger von ihrer realen Kaufkraft. Zu all dem kommt eine verzweigte Korruption und eine ego­istische Steuerhinterziehung hinzu, die weltwei­te Dimensionen angenommen haben. Die Gier nach Macht und Besitz kennt keine Grenzen. In diesem System, das dazu neigt, alles aufzusaugen, um den Nutzen zu steigern, ist alles Schwache wie die Umwelt wehrlos gegenüber den Interes­sen des vergöttlichten Marktes, die zur absoluten Regel werden.

Nein zu einem Geld, das regiert, statt zu dienen

57.  Hinter dieser Haltung verbergen sich die Ablehnung der Ethik und die Ablehnung Gottes. Die Ethik wird gewöhnlich mit einer gewissen spöttischen Verachtung betrachtet. Sie wird als kontraproduktiv und zu menschlich angesehen, weil sie das Geld und die Macht relativiert. Man empfindet sie als eine Bedrohung, denn sie verur­teilt die Manipulierung und die Degradierung der Person. Schließlich verweist die Ethik auf einen Gott, der eine verbindliche Antwort erwartet, die außerhalb der Kategorien des Marktes steht. Für diese, wenn sie absolut gesetzt werden, ist Gott unkontrollierbar, nicht manipulierbar und sogar gefährlich, da er den Menschen zu seiner vollen Verwirklichung ruft und zur Unabhängigkeit von jeder Art von Unterjochung. Die Ethik – eine nicht ideologisierte Ethik – erlaubt, ein Gleich­gewicht und eine menschlichere Gesellschafts­ordnung zu schaffen. In diesem Sinn rufe ich die Finanzexperten und die Regierenden der ver­schiedenen Länder auf, die Worte eines Weisen des Altertums zu bedenken: »Die eigenen Güter nicht mit den Armen zu teilen bedeutet, diese zu bestehlen und ihnen das Leben zu entziehen. Die Güter, die wir besitzen, gehören nicht uns, son­dern ihnen.« (Johannes Chrysostomus, De Lazaro conciones II,6: PG 48, 992 D.57)

58.  Eine Finanzreform, welche die Ethik nicht ignoriert, würde einen energischen Wechsel der Grundeinstellung der politischen Führungskräf­te erfordern, die ich aufrufe, diese Herausforde­rung mit Entschiedenheit und Weitblick anzu­nehmen, natürlich ohne die Besonderheit eines jeden Kontextes zu übersehen. Das Geld muss dienen und nicht regieren! Der Papst liebt alle, Reiche und Arme, doch im Namen Christi hat er die Pflicht daran zu erinnern, dass die Reichen den Armen helfen, sie achten und fördern müs­sen. Ich ermahne euch zur uneigennützigen So­lidarität und zu einer Rückkehr von Wirtschaft und Finanzleben zu einer Ethik zugunsten des Menschen.

Nein zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervorbringt

59.  Heute wird von vielen Seiten eine größe­re Sicherheit gefordert. Doch solange die Aus­schließung und die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft und unter den verschiedenen Völkern nicht beseitigt werden, wird es unmöglich sein, die Gewalt auszumerzen. Die Armen und die ärmsten Bevölkerungen werden der Gewalt beschuldigt, aber ohne Chancengleichheit finden die verschiedenen Formen von Aggression und Krieg einen fruchtbaren Boden, der früher oder später die Explosion verursacht. Wenn die lokale, nationale oder weltweite Gesellschaft einen Teil ihrer selbst in den Randgebieten seinem Schicksal überlässt, wird es keine politischen Programme, noch Ordnungskräfte oder Intelligence geben, die unbeschränkt die Ruhe gewährleisten können. Das geschieht nicht nur, weil die soziale Ungleich­heit gewaltsame Reaktionen derer provoziert, die vom System ausgeschlossen sind, sondern weil das gesellschaftliche und wirtschaftliche System an der Wurzel ungerecht ist. Wie das Gute dazu neigt, sich auszubreiten, so neigt das Böse, dem man einwilligt, das heißt die Ungerechtigkeit, dazu, ihre schädigende Kraft auszudehnen und im Stillen die Grundlagen jeden politischen und sozialen Systems aus den Angeln zu heben, so gefestigt es auch erscheinen mag. Wenn jede Tat ihre Folgen hat, dann enthält ein in den Struk­turen einer Gesellschaft eingenistetes Böses im­mer ein Potenzial der Auflösung und des Todes. Das in den ungerechten Gesellschaftsstrukturen kristallisierte Böse ist der Grund, warum man sich keine bessere Zukunft erwarten kann. Wir befinden uns weit entfernt vom sogenannten „Ende der Geschichte“, da die Bedingungen für eine vertretbare und friedliche Entwicklung noch nicht entsprechend in die Wege geleitet und ver­wirklicht sind.

60.  Die Mechanismen der augenblicklichen Wirtschaft fördern eine Anheizung des Kon­sums, aber es stellt sich heraus, dass der zügel­lose Konsumismus, gepaart mit der sozialen Un­gleichheit das soziale Gefüge doppelt schädigt. Auf diese Weise erzeugt die soziale Ungleichheit früher oder später eine Gewalt, die der Rüstungs­wettlauf nicht löst, noch jemals lösen wird. Er dient nur dem Versuch, diejenigen zu täuschen, die größere Sicherheit fordern, als wüssten wir nicht, dass Waffen und gewaltsame Unterdrüc­kung, anstatt Lösungen herbeizuführen, neue und schlimmere Konflikte schaffen. Einige fin­den schlicht Gefallen daran, die Armen und die armen Länder mit ungebührlichen Verallgemei­nerungen der eigenen Übel zu beschuldigen und sich einzubilden, die Lösung in einer „Er­ziehung“ zu finden, die sie beruhigt und in ge­zähmte, harmlose Wesen verwandelt. Das wird noch anstößiger, wenn die Ausgeschlossenen je­nen gesellschaftlichen Krebs wachsen sehen, der die in vielen Ländern – in den Regierungen, im Unternehmertum und in den Institutionen – tief verwurzelte Korruption ist, unabhängig von der politischen Ideologie der Regierenden.

Siehe auch:
  • Schwule, Frauen, Abtreibung – Der Papst rüttelt die Kirche aufMarc Pitzke (New York) – Spiegel Online, 20.09.2013
    • Franziskus, der Reformer: Mit einem sensationellen Interview sprengt der Papst die Verkrustungen der Kirche. Seine für den Vatikan beispiellos progressiven Gedanken zur Sexualmoral sind eine Kampfansage an die Fundamentalisten – und rühren abtrünnige Katholiken zu Tränen.
  • Überraschung: Papst-Interview in „La Repubblica“Radio Vatican fasst die wichtigsten Passagen zusammen – 01.10.2013
    • Papst Franziskus hat mit dem bekannten italienischen Intellektuellen Eugenio Scalfari am 24. September im Vatikan ein langes Gespräch geführt. Ein Transkript dieses Dialogs veröffentlicht der Nichtglaubende Scalfari in der von ihm gegründeten Tageszeitung „La Repubblica“ an diesem Dienstag. Erst unlängst war ein Briefwechsel zwischen Scalfari und Papst Franziskus zum Thema Glauben und Nichtglauben bekannt geworden. Wir veröffentlichen hier die wichtigsten Auszüge aus dem Papst-Interview in unserer eigenen Übersetzung.