Das Israel-Gedicht von Günter Grass…

… rief im April 2012 weltweit Empörung hervor. Gleich nach seiner Veröffentlichung unterzog ich es im Denkraum einer eingehenden Analyse und Kritik. Das Besondere dieser Analyse war die vorgängige Decodierung der zahlreichen Einzelaussagen, die Grass in seinem Prosagedicht in höchst verschachtelter Form verpackt hatte. Ich schrieb damals:

Der Sache angemessen ist allein eine am realen Grass-Text mit seinen zahlreichen Thesen, Behauptungen und Argumenten und an den sonstigen Fakten orientierte differenzierte Interpretation und Beurteilung des Gedichts. Grundlage einer kritischen Analyse muss zunächst der Textgehalt sein – das, was in “Was gesagt werden muss” tatsächlich gesagt wird. Um dem näher zu kommen und die mühsam verschachtelte (Prosa-) Gedichtform des Literaturnobelpreisträgers lesbarer zu machen, wird der Text hier in einem ersten Schritt zu einer erläuternden und bewertenden Kommentierung zunächst in Prosaform wiedergegeben. (…)

Gedichttypische Satzbauformen wurden an einigen Stellen um der besseren Verständlichkeit willen einem Prosatext angepasst, ohne jedoch den propositionalen Aussagegehalt zu verändern. Den gesamten Text habe ich unter inhaltlichen Gesichtspunkten in 5 Abschnitte unterteilt, die in weiteren Blogbeiträgen auf ihren Wahrheitsgehalt hin geprüft und auf dieser Grundlage kommentiert werden.

Eine vergleichbare Analyse des israel-kritischen Gedichts von Grass, nämlich dessen Aufschlüsselung in Einzelaussagen und deren Untersuchung auf ihren jeweiligen Wahrheitsgehalt, ist mir nicht bekannt. Die Textanalyse wurde bis heute immer wieder rezipiert, daher weise ich aus Anlass des Todes von Günter Grass noch einmal darauf hin.

Ausserdem:
  • Kaum siebzig Zeilen, weltweite Empörung – FAZ, 14.04.2015
    • „Was gesagt werden muss“, die politische Intervention von Günter Grass in Zeilenform, sorgte im April 2012 für weltweite Aufregung: Repliken, Stellungnahmen – und eine entlarvende Interpretation.
  • Die Grass-Würdigungen der Neuen Zürcher Zeitung (13. & 14.04.2015):
  • Durch Günter Grass habe ich verstanden, was Literatur bedeutet – Rosarote Zeilen, 13.04.2015
    • Eine ziemlich außergewöhnliche Liebeserklärung an Günter Grass von Evelyn Rosar (30, Single, Berlin)
    • „Ich habe Angst, dass Literatur jetzt tot ist. Denn Günter Grass ist tot. – Mit verlaufener Schminke und verquollenen Augen sitze ich auf der Arbeit und versuche zu erklären, warum es so schlimm ist, dass ein 87-jähriger Mann gestorben ist. (…) Durch ihn habe ich verstanden, was Literatur ist, welche Macht Worte haben. Wer das Wort hat, hat die Macht. Wer schreiben kann, ist mächtig. Und ja, er war mächtig, jedes einzelne seiner Worte haut mich um. Meine Mitschülerinnen haben sich 2002 mit 17 im Normandie-Urlaub in den 20-jährigen Kellner verliebt. Ich habe mich in den 74-jährigen Günter Grass verliebt. In jeden endloslangen Satz auf 819 Seiten ‚Blechtrommel‘.“

Das Grass-Gedicht: Was zutrifft und was nicht (5)

Analyse des 5. Abschnitts des Gedichts „Was gesagt werden muss“ von Günter Grass:

(5) Und zugegeben: ich schweige nicht mehr, weil ich der Heuchelei des Westens überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen, es mögen sich viele vom Schweigen befreien, den Verursacher der erkennbaren Gefahr zum Verzicht auf Gewalt auffordern und gleichfalls darauf bestehen, daß eine unbehinderte und permanente Kontrolle des israelischen atomaren Potentials und der iranischen Atomanlagen durch eine internationale Instanz von den Regierungen beider Länder zugelassen wird. Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern, mehr noch, allen Menschen, die in dieser vom Wahn okkupierten Region dicht bei dicht verfeindet leben, und letztlich auch uns, zu helfen.

Dieser 5. und letzte Abschnitt des Gedichts enthält folgende Aussagen:

  1. Grass offenbart („und zugegeben“) einen weiteren Grund, warum er nicht mehr schweigt: er ist „der Heuchelei des Westens überdrüssig“.

Er äußert die Hoffnung,

  1. „es mögen sich viele vom Schweigen befreien“,
  2. Israel als „ den Verursacher der erkennbaren Gefahr“ wahrnehmen,
  3. Israel „zum Verzicht auf Gewalt auffordern“ und
  4. „gleichfalls darauf bestehen, daß eine unbehinderte und permanente Kontrolle des israelischen atomaren Potentials und der iranischen Atomanlagen durch eine internationale Instanz von den Regierungen beider Länder zugelassen wird.“

Eine zusammenfassende Begründung dieser Aussagen bildet die letzte Strophe des Gedichts:

  1. „Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern, mehr noch, allen Menschen, die in dieser vom Wahn okkupierten Region dicht bei dicht verfeindet leben, und letztlich auch uns, zu helfen.“

Die ersten drei Aussagen enthalten schwerwiegende Anklagen:

  • Der Westen wird in Bezug auf die Thematik des Gedichts der Heuchelei bezichtigt.
  • Die Hoffnung, es möchten sich „viele vom Schweigen befreien“, setzt einen Zustand der Unterdrückung von Gedanken und Urteilen voraus, die eigentlich „gesagt werden müssten“.
  • Israel wird als „Verursacher der erkennbaren Gefahr“ gebrandmarkt.

Mit „Heuchelei des Westens“ dürfte der Autor vor allem das Messen mit zweierlei Maß in Bezug auf die atomare Bewaffnung von Israel und dem Iran meinen – die stillschweigende Duldung (und vermutlich verdeckte Förderung) des beträchtlichen Atomwaffenarsenals Israels, während die Fähigkeit des Iran, eigene Atomwaffen herzustellen, bereits im Vorfeld massiv bekämpft wird; zudem die Forderung nach umfassender Kontrolle der iranischen Atomanlagen, während Israels atomare Kapazitäten jeglicher Kontrolle von dritter Seite entzogen sind; und schließlich die Beteiligung an der Geheimhaltungstaktik hinsichtlich der israelischen Atomkapazitäten.

Diese Haltung des Westens kann man durchaus als Heuchelei bezeichnen. Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Iran im Unterschied zu Israel dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten ist und sich hinsichtlich der Einschränkung der Kontrollen durch die IAEA nicht vertragskonform verhält. Der iranische Staatspräsident Ahmadinedschad erläuterte in einem kürzlichen, sehr aufschlussreichen Interview, das Claus Kleber (ZDF) mit ihm geführt hat, die (offiziellen) Gründe für diese Einschränkung der Kontrollen: ein nicht vertragsgerechtes Verhalten der Kontrolleure in der Vergangenheit – u.a. seien gewonnene Erkenntnisse an „Feinde des Iran“ weitergegeben worden.

Mit der Aussage, es sei „zu hoffen, es mögen sich viele vom Schweigen befreien“, nimmt Grass auf die 4. Strophe seines Gedichts Bezug, in der er ein „allgemeines Verschweigen“ des wachsenden, unter keinerlei Kontrolle der Weltgemeinschaft stehenden nuklearen Potentials Israels beklagte. Dieses allgemeine Verschweigen empfand er „als belastende Lüge und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt, sobald er mißachtet wird“.  – „das Verdikt ‚Antisemitismus‘ (sei) geläufig“.

Diese Unterstellung ist starker Tobak. Grass prangert an, Israel und jüdische Organisationen würden mit manipulativen Mitteln ein Klima schaffen, das ein offenes Ansprechen des israelischen Nuklearpotentials wirksam unterdrückt. Als ein solches manipulatives Mittel benennt Grass das Antisemitismus-Verdikt – eine Verurteilung, im übertragenen Sinn auch ein Verdammungsurteil – das Israel-Kritikern angeblich droht.  Allemal in Intellektuellen-Kreisen „geht“ Antisemitismus natürlich „gar nicht“. Entsprechende Vorwürfe könnte man in der Tat fürchten und zu vermeiden suchen.

Wer aber fürchtet den Vorwurf des Antisemitismus? Dazu schreibt der New Yorker Professor für Iran-Studien und Vergleichende Literaturwissenschaft, Hamid Dabashi, in einem äußerst lesenswerten Beitrag für Al Jazeera zum Grass-Gedicht:

„But has the charge of anti-Semitism really silenced the critics of Israel – as Günter Grass suggests in this poem? Not really – or perhaps only so in Germany, for obvious reasons, but certainly not around the globe. The only people who are afraid of being called anti-Semites are the anti-Semites. Yes certain segments of pro-Israeli Zionists, by no means all, hurtle that accusation to silence their opponents. But by no stretch of the imagination has that charge silenced anyone but the anti-Semites – and they better remain silent. (…) To be sure, the condition in Germany is perhaps different – as indeed it should be. But by overcoming that false fear, Günter Grass can no longer be accused of anti-Semitism…“

Bis zur Lektüre des bereits zitierten Artikels von Antony Lerman konnte ich mir nur schwer vorstellen, dass der Antisemitismus-Vorwurf von israelischer bzw. jüdischer Seite leichtfertig erhoben wird, allemal aus manipulativen Gründen. Durch die Feststellungen dieses ausgewiesenen Kenners antisemitischer Tendenzen und Gegentendenzen bin ich an dieser Stelle allerdings nachdenklich und unsicher geworden – zumal Grass nach Veröffentlichung seines Gedichts genau dies widerfahren ist. Vielleicht wäre es an der Zeit, nicht nur die Verbreitung antisemitischer Tendenzen empirisch zu untersuchen, sondern auch einmal die Verbreitung ungerechtfertigter Antisemitismus-Vorwürfe. – Vgl. zu dieser Thematik vor allem auch: Henryk M. Broder, Erich Follath: Gebt den Juden Schleswig-Holstein! – ein Streit darüber, was passiert, „wenn Deutsche Israel kritisieren“.

Wenn Grass an dieser Stelle erneut Israel als alleinigen „Verursacher der erkennbaren Gefahr“ bezeichnet, so ist dies nur in einer sehr verkürzten Auslegung der vorausgehenden Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zutreffend. Natürlich wäre es im Fall eines israelischen Angriffs die Regierung Israels, die eine autonome Angriffsentscheidung fällen würde (die Rolle der USA einmal außer Acht gelassen). Aber an der Eskalation des israelisch-iranischen Konflikts bis zu diesem Punkt ist selbstverständlich auch der Iran mit seiner undurchsichtigen Nuklearstrategie bei gleichzeitigen massiven Drohungen gegen Israel wesentlich beteiligt. Indem er diesen Aspekt völlig unterschlägt, setzt Grass auch an dieser Stelle seine einseitig anti-israelische Agitation und Propaganda fort.

Herausragende Beiträge zur Grass-Debatte

Die Qualität der Kommentare und Analysen zum Grass-Gedicht ist höchst unterschiedlich. Sie reicht von wütender Polemik über oberflächliche Pauschalurteile ohne differenziertere Auseinandersetzung mit dem Werk bis hin zu klugen, sachkundigen und tiefgehenden Analysen. Im Wesentlichen letztere sollen hier aufgeführt werden.

Politisch-historische Analysen

  • Günter Grass, Israel and the crime of poetryHamid Dabashi (Wikipedia), Professor of Iranian Studies and Comparative Literature an der Columbia University (New York), stellt das Gedicht von Günter Grass in einen größeren historischen Rahmen und analysiert die Verbindung von europäischem Kolonialismus, Zionismus, Holocaust und dem heutigen Nahostkonflikt. Sehr lesenswert. – Al Jazeera, 10.04.2012
    • „European guilt about the Holocaust is absolutely necessary and healthy – it is an ennobling guilt. It makes them better human beings, for them to remember what they did to European Jewry. But, and there is the rub, they are, with a supreme hypocrisy that Günter Grass notes in his poem, spending that guilt (when not redirecting it into Islamophobia) on sustaining a colonial settlement, an extension of their own colonial legacy, in supporting Israeli colonialism in the Arab and Muslim world – as a garrison state that further facilitates their renewed imperial interests in the region. Europeans are turning their legitimate guilt into an illegitimate instrument of their sustained imperial designs on the globe, from whom Americans then take their cues.“
  • Grass hat grundsätzlich recht – kenntnisreiche und scharfsinnige Analyse von Mohssen Massarrat  (Exil-Iraner, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac, ehemals Politik-Professor an der Universität Osnabrück) – Financial Times Deutschland, 12.04.2012
    • „Der israelische Staat hat die Angst seiner Bürger vor ausländischen Feinden zur Staatsräson erhoben. Damit hat er seine Demokratie geschwächt und die Bedrohung nur verschärft.“

Stellungnahmen zum Gedicht

Wohlwollend:
  • Friedenspreis statt Schelte für Günter Grass – Kommentar von Thomas Nehls, WDR, ARD-Hauptstadtstudio, 04.04.2012
  • Es musste gesagt werden – Debattenbeitrag von Jakob Augstein– Spiegel, 06.04.2012
    • „Mit seinem Gedicht ‚Was gesagt werden muss‘ liegt Günter Grass richtig: Er holt Deutschland aus dem Schatten der Worte von Kanzlerin Merkel, die Sicherheit Israels gehöre zur deutschen ‚Staatsräson‘. Und der Schriftsteller kritisiert zu Recht, dass Israel der Welt eine Logik des Ultimatums aufdrängt.“
Differenziert:
  • Dichten und Meinen – Anmerkungen zu Günter Grass von Thomas Steinfeld– Süddeutsche Zeitung, 04.04.2012
    • „Günter Grass beschuldigt den Staat Israel, einen Angriffskrieg gegen Iran zu planen. Sein Gedicht steckt voller Übertreibungen, die für den Schriftsteller allerdings typisch sind. (…)  In Günter Grass ist (…) die Literatur mit dem öffentlichen Auftritt des Literaten verschmolzen. Dichten und Verlautbaren sind bei ihm zwei Seiten derselben Figur geworden, das Werk ist in die Person eingewandert. (…) Der 1999 empfangene Literaturnobelpreis verwandelte ihn endgültig zum schreibenden Republikaner. Als solcher irrt Grass zwar immer wieder, doch der Irrtum gehört zum Meinen.“
  • Was auch noch gesagt werden muss – Intellektuelle melden sich in Hintergrund zu Wort. Kommentare zur Grass-Debatte von Moshe Zuckermann, Noam Chomsky, Domenico Losurdo, Rolf Verleger, Ekkehart Krippendorff, Norman Paech, Adam Keller, Michel Warschawski, Tariq Ali, Yonatan Shapira, Yakov M. Rabkin, Moshé Machover, Brian Klug, Enzo Traverso und Gilbert Achcar– hintergrund.de, 06.04.2012
    • „Hintergrund möchte (dem) Unisono der Affirmation schwarz-gelber Außenpolitik und des „War on Terror“ die Stimmen ausgewiesener Ideologiekritiker entgegensetzen. „Was halten Sie von dem Grass-Gedicht und seiner Rezeption in Deutschland“, fragten wir namhafte Intellektuelle aus den Bereichen Wissenschaft, Politik, Literatur und Kunst. Die ersten Antworten sind eingegangen, weitere werden folgen.“
  • Eine Provokation mit bedrückendem Ergebnis – Gespräch mit dem amerikanischen Historiker Fritz Stern über Günter Grass, die Debatte über dessen Gedicht und über konstruktive Kritik an Israel. – FAZ, 13.04.2012
    • „Befremden bei geteilter Sorge: Fritz Stern bedauert und kritisiert die Irreführung der Israel-Kritik durch Günter Grass. Die Notwendigkeit der Kritik an der israelischen Regierungspolitik rechtfertigt nicht dessen Form der Anklage.“
  • Gunter the TerribleUri Avnery – CounterPunch, 13.04.2012
    • „Uri Avnery is an Israeli writer and peace activist with Gush Shalom. He is a contributor to CounterPunch’s book The Politics of Anti-Semitism.“
    • autorisierte deutsche Übersetzung: Günter der Schreckliche– Homepage Uir Avnery, 14.04.2012
      • „Ich habe schon mehrfach erwähnt, dass das israelische und amerikanische Geschwätz über einen israelischen Angriff bestenfalls Teil eines von den USA geführten psychologischen Krieges ist, um die iranischen Führer zum Aufgeben ihrer (vermuteten) Nuklearambitionen zu bringen. Es ist für Israel total unmöglich, den Iran ohne ausdrückliches, vorheriges amerikanisches Einverständnis anzugreifen, und es ist für Amerika total unmöglich, anzugreifen – oder Israel einen Angriff zu erlauben – wegen der katastrophalen Konsequenzen: ein Kollaps der Weltwirtschaft und ein langer und teurer Krieg. Nehmen wir um der Argumente willen an, dass die israelische Regierung tatsächlich entscheidet, Irans nukleare Installationen anzugreifen: dies würde nicht das iranische Volk oder einen Teil davon „auslöschen“. Nur Wahnsinnige würden nukleare Bomben für diesen Zweck benützen. Die israelischen Führer sind – was immer man von ihnen denken mag – nicht wahnsinnig. Selbst wenn Israel taktische nukleare Bomben mit begrenzter Kraft und begrenztem Radius hätte (oder von den USA erhalten würde), wäre die Reaktion der Welt auf ihre Anwendung katastrophal. – Übrigens ist es nicht ihre eigene Wahl, dass die israelischen Regierungen eine Politik nuklearer Nicht-Transparenz hat. Wenn sie könnten, würden unsere Führer unsere nukleare Macht von den Dächern posaunen. Es sind die USA, die auf Unklarheit bestanden, um nicht gezwungen zu sein, etwas zu tun.“
Verrisse:
Herausgehobene, aber problematische Kommentare
  • Was Grass uns sagen will – Erläuterungen und Gedicht(über?)interpretation von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher– FAZ, 04.04.2012
    • „Es empfiehlt sich, Gedichte von Günter Grass erst mit den Augen und dann mit dem Schraubenzieher zu lesen. Sie ähneln Ikea-Regalen. Auf dem Papier sieht alles ganz einfach aus, aber wenn man das fertige Werk erst einmal auseinander genommen hat, kriegt man es einfach nicht mehr zusammen. Ein Gedicht ist natürlich kein Regal. Man sieht von außen nicht, was in ihm steckt. Ein Gedicht ist ein Gedicht, weil es niemals sagt, was Sache ist. Seit Generationen müssen Schüler im Deutschunterricht deshalb die Frage beantworten, was der Dichter uns verheimlicht. Ganz anders der Leitartikel. Ein Leitartikel ist ein Artikel, der immer sagt, was Sache ist. Generationen von Zeitungslesern streiten sich deshalb jeden Morgen, ob sie richtig finden, was er sagt, oder falsch. Schraubt ein Autor Gedicht und Leitartikel zusammen, muss der Leser folgerichtig herausfinden, ob er richtig oder falsch findet, was der Dichter verheimlicht.“
    • Schirrmacher schaut mit dem Schraubenzieher nach und glaubt, einen „lyrischen Etikettenschwindel“ aufdecken zu können. Hinter dem manifesten Gedicht findet er ein zweites in Form eines „Subtextes“, in dem Grass durch die „Wortfelder“, die er aufrufe, „auf der Assoziationsebene“ etwas suggeriere, was er „auf der Aussageebene“ verneine, mit dem Ergebnis einer „ziemlich bestürzenden Umkehrung westdeutscher Nachkriegsdiskurse“. In diesem „Machwerk des Ressentiments“ ergreife Grass „endlich die Chance (…), einen Rollentausch vorzunehmen“, indem nun Israel eines „geplanten Völkermords“ angeklagt wird und Grass sich als „künftiger Überlebender“ äußert. So werde sein Gedicht zu einem „Dokument der ‚imaginären Rache‘ (Nietzsche) einer sich moralisch lebenslang gekränkt fühlenden Generation“. Eine anregende, weitreichende Interpretation,  jedoch voller tiefenhermeneutischer Annahmen und tiefenpsychologischer Vermutungen, die man teilen kann oder auch nicht.

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Das Grass-Gedicht: Was zutrifft und was nicht (4)

Analyse des Gedichts „Was gesagt werden muss“ von Günter Grass: 4. Abschnitt

(4) Warum aber schwieg ich bislang? Weil ich meinte, meine Herkunft, die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist, verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit dem Land Israel, dem ich verbunden bin und bleiben will, zuzumuten. Warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte: Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden? Weil gesagt werden muß, was schon morgen zu spät sein könnte; auch weil wir – als Deutsche belastet genug – Zulieferer eines Verbrechens werden könnten, das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld durch keine der üblichen Ausreden zu tilgen wäre.

In dieser vierte Passage begründet der Autor näher, warum er hinsichtlich der Thematik des Gedichts bislang geschwiegen hat, seine Israel-kritischen Befürchtungen und Kommentare – vor allem seine Warnung vor einer akuten Gefährdung des Weltfriedens durch die Atommacht Israel – jetzt aber äußert.

Dieser Gedichtabschnitt, bei Grass auf zwei Strophen aufgeteilt, enthält folgende Aussagen:

  1. Grass meinte, seine Herkunft verbiete, „diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit dem Land Israel (…) zuzumuten“.
  2. Seine Herkunft (als Deutscher) ist mit einem „nie zu tilgendem Makel behaftet“.
  3. Er ist dem Land Israel verbunden und will dies bleiben.
  4. Die Atommacht Israel gefährdet den Weltfrieden, der ohnehin brüchig ist.
  5. Grass fragt sich, warum er dies erst jetzt sagt, „gealtert und mit letzter Tinte“.
  6. Seine Antwort: Weil es jetzt „gesagt werden muss“, denn „schon morgen (könnte es) zu spät sein“.
  7. Außerdem: Weil wir Deutsche – belastet genug – „Zulieferer eines Verbrechens werden könnten“.
  8. Dieses Verbrechen ist voraussehbar.
  9. Deshalb wäre „unsere Mitschuld durch keine der üblichen Ausreden zu tilgen“.

Erneut wendet sich Grass den Motiven seines bisherigen Schweigens zu und führt an, er habe gemeint, seine „von nie zu tilgendem Makel“ behaftete (richtiger wohl „mit nie zu tilgendem Makel“ behaftete) Herkunft als Deutscher habe verboten, dem Land Israel „diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit (…) zuzumuten“.

Es ist nicht ganz eindeutig, worauf sich „diese Tatsache“ bezieht – auf die vorherige Strophe oder auf die im nächsten Satz folgende zentrale Behauptung des Gedichts: „Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden.“ Da die vorherige Strophe jedoch keine konkrete Tatsache enthält, die dem Land Israel „als ausgesprochene Wahrheit“ nicht zuzumuten wäre, dürfte der Bezug auf die den Weltfrieden gefährdende Atommacht Israel gemeint sein.

Grass sagt, er habe das Verbot, dem Land Israel „diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit (…) zuzumuten“, für seine Person so empfunden („ich meinte…“), und sagt nicht etwa, die mit nie zu tilgendem Makel behaftete Herkunft als Deutscher verbiete entsprechende israelkritische Äußerungen tatsächlich und generell, womöglich uns Deutschen schlechthin. Mit der Einschränkung auf seine subjektive Empfindung ist gegen diese Aussage kaum etwas einzuwenden. Ich bin überzeugt, viele Deutsche seiner Generation haben aus kollektiven Schuldgefühlen heraus lange so empfunden und gemeint, Israel mit Samthandschuhen anfassen zu müssen.

Ich selbst, im Unterschied zu Grass mit „der Gnade der späten Geburt“ (Helmut Kohl) ausgestattet, habe dies nie so empfunden. Zwar stand ich Israel als dem heutigen Staat der Juden grundsätzlich mit besonderem Wohlwollen gegenüber, aus einem von den Nazi-Verbrechen herrührenden Mitgefühl und aus dem Wunsch nach Handlungen der Wiedergutmachung, die aus Deutschland ganz selbstverständlich zu erfolgen haben. Mit meinem Kibbuzaufenthalt wollte ich mich daran – mehr symbolisch – ein wenig beteiligen. Ich wäre jedoch niemals auf die Idee gekommen, als Deutscher auf Kritik am Handeln des heutigen Staates Israel verzichten zu müssen, wenn diese meiner Auffassung nach erforderlich wäre. Ich vermute, die Mehrheit der deutschen Bevölkerung meiner Generation und späterer Generationen sieht dies ähnlich.

Grass vertritt zudem die Grundsatzüberzeugung, unsere Herkunft als Deutsche sei mit einem „nie zu tilgenden Makel behaftet“ (mit einem „Makel“, nicht – zumindest nicht explizit – mit einer nie zu tilgenden Schuld). Darüber kann man gewiss streiten. Wird dieser Makel wirklich niemals zu tilgen sein? Soll dies auch für Generationen gelten, die, sagen wir, nach 1928 geboren sind, also während der Nazizeit noch Kinder, Jugendliche oder noch gar nicht geboren waren (und die aus diesem Grund für eine Einreise nach Israel auch kein Visum benötigen, im Gegensatz zu den vor 1928 geborenen Deutschen)? Sollen wir den Makel wie eine persönliche Erbsünde ansehen, als „Verstrickungen der Vergangenheit, die man durch die Geburt ‚erbt‘, als quasi eine Hypothek, die Freiheit und Selbstbestimmung einschränkt“ (Christa Mathies)? Wollen wir, theologisch gesprochen, die Angelegenheit nach Mose beurteilen („…der die Missetat der Väter heimsucht auf Kinder und Kindeskinder bis ins dritte und vierte Glied“ – 2. Mose 34, 7) oder nach Hesekiel („Der Sohn soll nicht tragen die Schuld des Vaters, und der Vater soll nicht tragen die Schuld des Sohnes…“ – Hesekiel 18, 20)? Ich frage mich, ob die Russen aufgrund ihrer Herkunft wegen der millionenfachen Morde unter Stalin oder dem Massaker von Katyn nun mit einem dauernden Makel behaftet sind, oder die Türken, wenn sie sich einmal dazu bekannt haben werden, wegen des Völkermords an den Armeniern?

Wie auch immer man dies sehen will, ist es jedenfalls das Gegenteil von Antisemitismus, wenn Grass wegen der deutschen Verbrechen während der Nazizeit diese untilgbare herkunftsbezogene Makelüberzeugung vertritt. Und wenn er sagt, er fühle sich dem Land Israel verbunden und wolle ihm trotz seiner Kritik auch weiterhin verbunden bleiben, so weist dies in die gleiche Richtung.

84jährig zweifellos gealtert und nur noch „mit letzter Tinte“ (für diese Metapher versagt selbst Reich-Ranicki dem Autor dieses nach seiner Auffassung insgesamt „ekelhaften Gedichts“ nicht ein literarisches Lob), formuliert Grass nun seine zentrale Anklage und Warnung: Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden.“ Die Anklage richtet sich an Israel, die Warnung an den Rest der Welt: Das Gedicht wurde zeitgleich von je einer prominenten deutschen, italienischen und spanischen Tageszeitung veröffentlicht. Innerhalb weniger Tage wurde das Gedicht in zahlreiche Sprachen übersetzt und war Gegenstand weltweiter Berichterstattung.

Gefährdet Israel den Weltfrieden? Ja – im Kontext des Nahostkonflikts und vor allem des iranisch–israelischen Konflikts gefährdet auch Israel den Weltfrieden. Aber so sagt Grass es nicht. Das „auch“ fehlt bei ihm, er nennt an dieser Stelle nur eine der beiden Konfliktparteien, die israelische. Somit nimmt er keinen neutralen Standpunkt ein, sondern einen einseitig gegen Israel gerichteten, und setzt demzufolge die Agitation des ersten Abschnitts seines Prosagedichts fort, als er unsinnigerweise davon sprach, ein atomarer israelischer Erstschlag könne das iranische Volk auslöschen; und als er das aggressive, antizionistische und extrem israelfeindliche iranische Regime auf einen „Maulhelden“ reduzierte. Von Maulhelden geht bekanntlich am Ende keine ernsthafte Gefahr aus, für sie gilt, „Hunde, die bellen, beißen nicht“. Grass ordnet das dem iranisch – israelischen Konflikt innewohnende Gefährdungspotential also einseitig der israelischen Seite zu und verzerrt die tatsächlichen Verhältnisse damit erheblich.

Wenn Grass sodann betont, er breche sein Schweigen in dieser Angelegenheit deshalb jetzt, „weil gesagt werden (müsse), was schon morgen zu spät sein könnte“, so setzt diese Aussage die Logik seiner einseitigen Parteinahme fort, denn sie bezieht sich zweifellos allein auf die aktuellen israelischen Drohungen mit einem in naher Zukunft bevorstehenden Präventivschlag gegen die iranischen Atomanlagen.  Grass unterstreicht damit seine Überzeugung, die gegenwärtige Bedrohung des Weltfriedens gehe einzig von Israel aus.

Er führt jedoch noch einen weiteren Grund dafür an, weshalb er sein selbstauferlegtes Schweigegebot jetzt, in dieser Situation, bricht: „weil wir – als Deutsche belastet genug – Zulieferer eines Verbrechens werden könnten“. Sind wir „als Deutsche belastet genug“? Zweifellos. Wären wir im Fall eines israelischen Präventivschlags Zulieferer? Das hinge davon ab, ob die von uns gelieferten und weitgehend auch finanzierten Dolphin-U-Boote dabei zum Einsatz kämen, was Experten für wahrscheinlich halten. In diesem Fall hätten wir mit unseren Lieferungen diesen Präventivschlag überhaupt erst ermöglicht. Wäre ein derartiger Präventivschlag ein Verbrechen? Völkerrechtlich in jedem Fall.

Wichtiger noch als die völkerrechtliche Beurteilung wäre jedoch das weltweite Echo darauf. Im Fall eines atomaren Erstschlags Israels fiele dieses absolut verheerend aus. Israel würde weltweit die letzten noch verbliebenen Sympathien verlieren. Abgesehen von den schwerwiegenden militärischen Konsequenzen einer solchen militärischen Aktion gegen den Iran werden auch die weiteren Sekundärfolgen für Israel von zahlreichen Experten als derart katastrophal angesehen, dass ein atomarer Erstschlag als extrem unwahrscheinlich gilt. Aber auch ein nicht-atomarer Erstschlag Israels wäre völkerrechtswidrig. Angesichts der iranischen Drohungen gegen Israel würde eine nicht-atomare militärische Aktion Israels gegen die iranischen Atomanlagen jedoch in weiten Kreisen der westlichen Welt auf ein gewisses Verständnis stoßen. Ob man sie als „Verbrechen“ oder als legitime Inanspruchnahme des Rechts auf Selbstverteidigung ansehen würde, hinge von der mehr oder weniger israelfreundlichen oder israelfeindlichen Grundhaltung des Beurteilers ab. In seinem Gedicht geht Grass, wie aufgewiesen wurde, jedoch von einem atomaren Erstschlag aus und warnt somit vor einem sehr unwahrscheinlichen Fall – den er selbst jedoch als jederzeit mögliches und realisierbares Geschehen darstellt. Auch dies dient der Dämonisierung von Israel als Feindbild (vgl. Erläuterungen zum 1. Abschnitt).

Somit sind auch die Aussagen 8 und 9 nicht zutreffend – das Verbrechen eines atomaren Erstschlags ist keineswegs „voraussehbar“, sondern im Gegenteil extrem unwahrscheinlich. Dies entzieht der Ausweglosigkeit unserer Mitschuld schon aus rein logischen Gründen den Boden.

Je weiter die Analyse des Gedichts voranschreitet, desto mehr erscheint Grass als Agitator mit einer Agenda – übrigens zu meiner eigenen Überraschung.

Das Grass-Gedicht: Was zutrifft und was nicht (3)

Analyse des Gedichts „Was gesagt werden muss“ von Günter Grass: 3. Abschnitt

(3) Jetzt aber sage ich, was gesagt werden muß, weil aus meinem Land – das von ureigenen Verbrechen, die ohne Vergleich sind, Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird – ein weiteres U-Boot nach Israel geliefert werden soll (rein geschäftsmäßig, wenn auch mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert), dessen Spezialität darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe dorthin lenken zu können, wo die Existenz einer einzigen Atombombe unbewiesen ist, doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will.

Dieser Grass’sche Bandwurmschachtelsatz enthält, wenn man ihn entschachtelt, folgende 6 Aussagen:

  1. Grass sagt jetzt, „was gesagt werden muss“, weil aus Deutschland („meinem Land“) „ein weiteres U-Boot nach Israel geliefert werden soll“.
  2. Die U-Boot-Lieferung soll „rein geschäftsmäßig“ erfolgen, „wenn auch mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert“.
  3. Deutschland wird von seinen „ureigenen Verbrechen (an den Juden), die ohne Vergleich sind, Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt“.
  4. Die Spezialität des gelieferten U-Boots besteht darin, „allesvernichtende Sprengköpfe“ an Orte im Iran lenken zu können, an denen Atombomben vermutet werden.
  5. Dort ist aber „die Existenz (selbst) einer einzigen Atombombe unbewiesen“.
  6. Doch schon „die Befürchtung (will) von Beweiskraft sein“.

Angesichts der Zuspitzung des iranisch-israelischen Konflikts und der israelischen Drohungen, die iranischen Atomanlagen mit militärischen Mitteln vernichten zu wollen, kann man die bevorstehende Lieferung des 4. von insgesamt 6 vereinbarten Dolphin-U-Booten an Israel allerdings als Alarmsituation ansehen, die danach drängt, die Problematik dieses von Deutschland hochsubventionierten Verkaufs atomwaffentauglicher U-Boote an Israel warnend ins Blickfeld zu rücken. Der aus dem Bundeshaushalt  beigesteuerte Kostananteil für die ersten 5 Boote beträgt nach übereinstimmenden Informationen aus verschiedenen Quellen ca. 900 Mill. Euro.

Die nach meiner Kenntnis detaillierteste verfügbare Darstellung der Umstände der deutschen U-Boot-Lieferungen an Israel wurde von Otfried Nassauer vom Berlin Information-Center for Transatlantic Security (BITS) verfasst (Dezember 2011). Hier ein Ausschnitt:

„Seit fast zwei Jahrzehnten baut und liefert Deutschland U-Boote für Israel. In der ersten Hälfte der neunziger Jahre wurden Verträge über drei U-Boote der Dolphin-Klasse geschlossen, die 1999 und 2000 ausgeliefert wurden. Drei weitere Boote der moderneren Klasse Dolphin II oder Dolphin AIP wurden 2005 vereinbart; zwei wurden 2006 bestellt. Seit einigen Monaten kursieren Meldungen, dass Israel ein sechstes U-Boot der Dolphin-II-Klasse bestellen will. (Ist inzwischen erfolgt. MW) Die Bundesregierung hat im Haushaltsentwurf 2012 in den Einzelplan 60 (Allgemeine Finanzverwaltung) insgesamt 135 Millionen Euro eingestellt, mit denen in den kommenden Jahren „Verteidigungsgüter für Israel“ finanziert werden sollen. Der Bundestag hat dies bewilligt. Beschafft werden soll damit Boot Nummer sechs. Nun muss Israels Parlament die Mittel aus Israel bereitstellen, damit die israelische Regierung einen Vertrag mit der Industrie abschließen kann.

Israel kauft U-Boote in Deutschland, wenn und weil ihm ein erheblicher Preisnachlass gewährt wird. Anders formuliert: Wenn und weil der deutsche Steuerzahlers einen großen Teil der Anschaffungskosten trägt. So, wie bei den fünf Booten, die bislang bestellt wurden. Die Boote eins und zwei wurden vollständig aus dem deutschen Bundeshaushalt bezahlt. (Die Kosten betrugen ca. 550 Mill. Euro. MW) Boot Nummer drei gab es zum halben Preis. Bei den deutlich teureren Booten vier und fünf griff nach mehrjährigem Tauziehen eine andere Kostenteilung: Deutschland zahlt ein Drittel des Preises direkt und kaufte für ein weiteres Drittel (Rüstungs-) Güter in Israel. Israel zahlt schließlich das letzte Drittel. Beim sechsten Boot soll der Anteil des deutschen Steuerzahlers erneut etwa bei einem Drittel liegen.“

Die U-Boote können jeweils einen ganzen Monat lang kreuzen. Eines davon befindet sich ständig im Meer, um sofort zurückschlagen zu können, wenn Israel angegriffen wird.

Zurück zu Grass. Er beeilt sich, sogleich die deutschen Verbrechen gegenüber den Juden zu erwähnen und sie als solche zu qualifizieren, „die ohne Vergleich sind“. Das Schwergewicht seiner Bemerkung dazu liegt jedoch auf der Aussage, unser Land werde von diesen Verbrechen „Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt“. Was will er damit an dieser Stelle sagen? So, wie Grass es formuliert, erhält diese Aussage eine deutlich negative Konnotation. Zumindest im Zusammenhang mit dem laufenden, „mit flinker Lippe als Wiedergutmachung“ deklarierten U-Boot-Geschäft mit Israel scheint er zu beklagen, dass Deutschland von seinen Verbrechen an den Juden „Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird“. Er scheint damit andeuten zu wollen, dass dies immer wieder zu Situationen führen kann, in denen von Deutschland eine Büßerposition erwartet wird, und unser Land sich auf dieser Grundlage zu Handlungen bewegen lässt, die – aus anderen Perspektiven als dem Büßerblickwinkel betrachtet – problematisch sind.

Denn Deutschland liefert normalerweise aus gutem Grund keine Waffen in Krisengebiete. Bei Israel wird eine der wenigen Ausnahmen gemacht. Dahinter steht der Gedanke, dass Deutschland eine besondere Verantwortung für die sichere Existenz Israels zukommt, dass wir wenigstens jetzt zum Schutz Israels beitragen, nach dem von uns als Land oder Volk zu verantwortenden Holocaust. Erst jüngst erklärte Angela Merkel die Sicherung der Existenz Israels in einer Rede vor der Knesset zur deutschen Staatsräson. Mit diesem Argument wird auch die hohe staatliche Subventionierung der U-Boot-Lieferungen begründet, mit denen Israel in die Lage versetzt werden soll, nach einem Atomangriff auf das Land einen Zweitschlag vom Meer aus durchzuführen, was der Abschreckung potentieller Israel-Angreifer dienen soll und gewiss auch dient. Somit ist der Vorwurf von Grass, die U-Boot-Lieferung erfolge „rein geschäftsmäßig“ und werde „mit flinker Lippe“ als Wiedergutmachung nur deklariert (2. Aussage), unzutreffend. Hätte Grass sich mit der Geschichte der deutschen U-Boot-Lieferungen an Israel eingehender befasst, was man von ihm hätte erwarten können, wenn er ein derartiges Werk in die Welt setzt, so wäre ihm gewiss selbst aufgefallen, dass diese Aussage Unfug ist.

Die vierte Aussage von Grass – die deutschen U-Boote könnten dazu eingesetzt werden, einen Präventivschlag gegen die iranischen Atomanlagen auszuführen – scheint nach meinem bisherigen Kenntnisstand voll und ganz zuzutreffen, und zumindest für mich gilt, dass mir dieser Umstand bis zur Beschäftigung mit dem Gedicht von Grass nicht bekannt war.

Die fünfte Aussage, die Existenz iranischer Atombomben sei unbewiesen, ist ebenfalls richtig. Allerdings spricht sehr viel dafür, dass der Iran in naher Zukunft – die Expertenschätzungen reichen von ein paar Monaten bis zu ca. 3 Jahren  – über Atomwaffen aus eigener Produktion verfügen wird. Dass schon die entsprechende „Befürchtung von Beweiskraft sein will“, ist indessen wieder eine dieser Grass’schen Zuspitzungen, die einer nüchternen Überprüfung nicht standhalten.