Analyse des Gedichts „Was gesagt werden muss“ von Günter Grass: 4. Abschnitt
(4) Warum aber schwieg ich bislang? Weil ich meinte, meine Herkunft, die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist, verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit dem Land Israel, dem ich verbunden bin und bleiben will, zuzumuten. Warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte: Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden? Weil gesagt werden muß, was schon morgen zu spät sein könnte; auch weil wir – als Deutsche belastet genug – Zulieferer eines Verbrechens werden könnten, das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld durch keine der üblichen Ausreden zu tilgen wäre.
In dieser vierte Passage begründet der Autor näher, warum er hinsichtlich der Thematik des Gedichts bislang geschwiegen hat, seine Israel-kritischen Befürchtungen und Kommentare – vor allem seine Warnung vor einer akuten Gefährdung des Weltfriedens durch die Atommacht Israel – jetzt aber äußert.
Dieser Gedichtabschnitt, bei Grass auf zwei Strophen aufgeteilt, enthält folgende Aussagen:
- Grass meinte, seine Herkunft verbiete, „diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit dem Land Israel (…) zuzumuten“.
- Seine Herkunft (als Deutscher) ist mit einem „nie zu tilgendem Makel behaftet“.
- Er ist dem Land Israel verbunden und will dies bleiben.
- Die Atommacht Israel gefährdet den Weltfrieden, der ohnehin brüchig ist.
- Grass fragt sich, warum er dies erst jetzt sagt, „gealtert und mit letzter Tinte“.
- Seine Antwort: Weil es jetzt „gesagt werden muss“, denn „schon morgen (könnte es) zu spät sein“.
- Außerdem: Weil wir Deutsche – belastet genug – „Zulieferer eines Verbrechens werden könnten“.
- Dieses Verbrechen ist voraussehbar.
- Deshalb wäre „unsere Mitschuld durch keine der üblichen Ausreden zu tilgen“.
Erneut wendet sich Grass den Motiven seines bisherigen Schweigens zu und führt an, er habe gemeint, seine „von nie zu tilgendem Makel“ behaftete (richtiger wohl „mit nie zu tilgendem Makel“ behaftete) Herkunft als Deutscher habe verboten, dem Land Israel „diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit (…) zuzumuten“.
Es ist nicht ganz eindeutig, worauf sich „diese Tatsache“ bezieht – auf die vorherige Strophe oder auf die im nächsten Satz folgende zentrale Behauptung des Gedichts: „Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden.“ Da die vorherige Strophe jedoch keine konkrete Tatsache enthält, die dem Land Israel „als ausgesprochene Wahrheit“ nicht zuzumuten wäre, dürfte der Bezug auf die den Weltfrieden gefährdende Atommacht Israel gemeint sein.
Grass sagt, er habe das Verbot, dem Land Israel „diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit (…) zuzumuten“, für seine Person so empfunden („ich meinte…“), und sagt nicht etwa, die mit nie zu tilgendem Makel behaftete Herkunft als Deutscher verbiete entsprechende israelkritische Äußerungen tatsächlich und generell, womöglich uns Deutschen schlechthin. Mit der Einschränkung auf seine subjektive Empfindung ist gegen diese Aussage kaum etwas einzuwenden. Ich bin überzeugt, viele Deutsche seiner Generation haben aus kollektiven Schuldgefühlen heraus lange so empfunden und gemeint, Israel mit Samthandschuhen anfassen zu müssen.
Ich selbst, im Unterschied zu Grass mit „der Gnade der späten Geburt“ (Helmut Kohl) ausgestattet, habe dies nie so empfunden. Zwar stand ich Israel als dem heutigen Staat der Juden grundsätzlich mit besonderem Wohlwollen gegenüber, aus einem von den Nazi-Verbrechen herrührenden Mitgefühl und aus dem Wunsch nach Handlungen der Wiedergutmachung, die aus Deutschland ganz selbstverständlich zu erfolgen haben. Mit meinem Kibbuzaufenthalt wollte ich mich daran – mehr symbolisch – ein wenig beteiligen. Ich wäre jedoch niemals auf die Idee gekommen, als Deutscher auf Kritik am Handeln des heutigen Staates Israel verzichten zu müssen, wenn diese meiner Auffassung nach erforderlich wäre. Ich vermute, die Mehrheit der deutschen Bevölkerung meiner Generation und späterer Generationen sieht dies ähnlich.
Grass vertritt zudem die Grundsatzüberzeugung, unsere Herkunft als Deutsche sei mit einem „nie zu tilgenden Makel behaftet“ (mit einem „Makel“, nicht – zumindest nicht explizit – mit einer nie zu tilgenden Schuld). Darüber kann man gewiss streiten. Wird dieser Makel wirklich niemals zu tilgen sein? Soll dies auch für Generationen gelten, die, sagen wir, nach 1928 geboren sind, also während der Nazizeit noch Kinder, Jugendliche oder noch gar nicht geboren waren (und die aus diesem Grund für eine Einreise nach Israel auch kein Visum benötigen, im Gegensatz zu den vor 1928 geborenen Deutschen)? Sollen wir den Makel wie eine persönliche Erbsünde ansehen, als „Verstrickungen der Vergangenheit, die man durch die Geburt ‚erbt‘, als quasi eine Hypothek, die Freiheit und Selbstbestimmung einschränkt“ (Christa Mathies)? Wollen wir, theologisch gesprochen, die Angelegenheit nach Mose beurteilen („…der die Missetat der Väter heimsucht auf Kinder und Kindeskinder bis ins dritte und vierte Glied“ – 2. Mose 34, 7) oder nach Hesekiel („Der Sohn soll nicht tragen die Schuld des Vaters, und der Vater soll nicht tragen die Schuld des Sohnes…“ – Hesekiel 18, 20)? Ich frage mich, ob die Russen aufgrund ihrer Herkunft wegen der millionenfachen Morde unter Stalin oder dem Massaker von Katyn nun mit einem dauernden Makel behaftet sind, oder die Türken, wenn sie sich einmal dazu bekannt haben werden, wegen des Völkermords an den Armeniern?
Wie auch immer man dies sehen will, ist es jedenfalls das Gegenteil von Antisemitismus, wenn Grass wegen der deutschen Verbrechen während der Nazizeit diese untilgbare herkunftsbezogene Makelüberzeugung vertritt. Und wenn er sagt, er fühle sich dem Land Israel verbunden und wolle ihm trotz seiner Kritik auch weiterhin verbunden bleiben, so weist dies in die gleiche Richtung.
84jährig zweifellos gealtert und nur noch „mit letzter Tinte“ (für diese Metapher versagt selbst Reich-Ranicki dem Autor dieses nach seiner Auffassung insgesamt „ekelhaften Gedichts“ nicht ein literarisches Lob), formuliert Grass nun seine zentrale Anklage und Warnung: „Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden.“ Die Anklage richtet sich an Israel, die Warnung an den Rest der Welt: Das Gedicht wurde zeitgleich von je einer prominenten deutschen, italienischen und spanischen Tageszeitung veröffentlicht. Innerhalb weniger Tage wurde das Gedicht in zahlreiche Sprachen übersetzt und war Gegenstand weltweiter Berichterstattung.
Gefährdet Israel den Weltfrieden? Ja – im Kontext des Nahostkonflikts und vor allem des iranisch–israelischen Konflikts gefährdet auch Israel den Weltfrieden. Aber so sagt Grass es nicht. Das „auch“ fehlt bei ihm, er nennt an dieser Stelle nur eine der beiden Konfliktparteien, die israelische. Somit nimmt er keinen neutralen Standpunkt ein, sondern einen einseitig gegen Israel gerichteten, und setzt demzufolge die Agitation des ersten Abschnitts seines Prosagedichts fort, als er unsinnigerweise davon sprach, ein atomarer israelischer Erstschlag könne das iranische Volk auslöschen; und als er das aggressive, antizionistische und extrem israelfeindliche iranische Regime auf einen „Maulhelden“ reduzierte. Von Maulhelden geht bekanntlich am Ende keine ernsthafte Gefahr aus, für sie gilt, „Hunde, die bellen, beißen nicht“. Grass ordnet das dem iranisch – israelischen Konflikt innewohnende Gefährdungspotential also einseitig der israelischen Seite zu und verzerrt die tatsächlichen Verhältnisse damit erheblich.
Wenn Grass sodann betont, er breche sein Schweigen in dieser Angelegenheit deshalb jetzt, „weil gesagt werden (müsse), was schon morgen zu spät sein könnte“, so setzt diese Aussage die Logik seiner einseitigen Parteinahme fort, denn sie bezieht sich zweifellos allein auf die aktuellen israelischen Drohungen mit einem in naher Zukunft bevorstehenden Präventivschlag gegen die iranischen Atomanlagen. Grass unterstreicht damit seine Überzeugung, die gegenwärtige Bedrohung des Weltfriedens gehe einzig von Israel aus.
Er führt jedoch noch einen weiteren Grund dafür an, weshalb er sein selbstauferlegtes Schweigegebot jetzt, in dieser Situation, bricht: „weil wir – als Deutsche belastet genug – Zulieferer eines Verbrechens werden könnten“. Sind wir „als Deutsche belastet genug“? Zweifellos. Wären wir im Fall eines israelischen Präventivschlags Zulieferer? Das hinge davon ab, ob die von uns gelieferten und weitgehend auch finanzierten Dolphin-U-Boote dabei zum Einsatz kämen, was Experten für wahrscheinlich halten. In diesem Fall hätten wir mit unseren Lieferungen diesen Präventivschlag überhaupt erst ermöglicht. Wäre ein derartiger Präventivschlag ein Verbrechen? Völkerrechtlich in jedem Fall.
Wichtiger noch als die völkerrechtliche Beurteilung wäre jedoch das weltweite Echo darauf. Im Fall eines atomaren Erstschlags Israels fiele dieses absolut verheerend aus. Israel würde weltweit die letzten noch verbliebenen Sympathien verlieren. Abgesehen von den schwerwiegenden militärischen Konsequenzen einer solchen militärischen Aktion gegen den Iran werden auch die weiteren Sekundärfolgen für Israel von zahlreichen Experten als derart katastrophal angesehen, dass ein atomarer Erstschlag als extrem unwahrscheinlich gilt. Aber auch ein nicht-atomarer Erstschlag Israels wäre völkerrechtswidrig. Angesichts der iranischen Drohungen gegen Israel würde eine nicht-atomare militärische Aktion Israels gegen die iranischen Atomanlagen jedoch in weiten Kreisen der westlichen Welt auf ein gewisses Verständnis stoßen. Ob man sie als „Verbrechen“ oder als legitime Inanspruchnahme des Rechts auf Selbstverteidigung ansehen würde, hinge von der mehr oder weniger israelfreundlichen oder israelfeindlichen Grundhaltung des Beurteilers ab. In seinem Gedicht geht Grass, wie aufgewiesen wurde, jedoch von einem atomaren Erstschlag aus und warnt somit vor einem sehr unwahrscheinlichen Fall – den er selbst jedoch als jederzeit mögliches und realisierbares Geschehen darstellt. Auch dies dient der Dämonisierung von Israel als Feindbild (vgl. Erläuterungen zum 1. Abschnitt).
Somit sind auch die Aussagen 8 und 9 nicht zutreffend – das Verbrechen eines atomaren Erstschlags ist keineswegs „voraussehbar“, sondern im Gegenteil extrem unwahrscheinlich. Dies entzieht der Ausweglosigkeit unserer Mitschuld schon aus rein logischen Gründen den Boden.
Je weiter die Analyse des Gedichts voranschreitet, desto mehr erscheint Grass als Agitator mit einer Agenda – übrigens zu meiner eigenen Überraschung.