Der mit den coolsten Sprüchen – Führungskultur bei Axel Springer

Mathias Döpfner ist ohne Zweifel ein hochintelligenter Mann. Man erkennt dies mühelos, wenn man sich einige seiner zahlreichen Interviews und Reden auf YouTube anschaut, in denen er sachkundig und höchst eloquent über die Herausforderungen spricht, denen die Medienbranche im Zeitalter der Digitalisierung gegenübersteht.

Und doch hat er, wie die „Zeit“ aufdeckte, in zahlreichen Chatmitteilungen an führende Mitarbeiter politische Überzeugungen offenbart, die einfach unsäglich sind. In drastischer Stammtischmanier verkündet er dort reaktionäre Ansichten voller Pauschalurteile, Entwertungen und Ressentiments, formuliert in einer vulgären, verrohten Sprache.

Einige seiner Äußerungen im Originaltext (nach einer Zusammenstellung der Süddeutschen Zeitung):

  • „…über Ostdeutsche: ‚Meine Mutter hat es schon immer gesagt. Die ossis werden nie Demokraten. Vielleicht sollte man aus der ehemaligen ddr eine Agrar und Produktions Zone mit Einheitslohn machen.‘ Und: ‚Die ossis sind entweder Kommunisten oder faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig.'“
  • „…über ‚M‘, mutmaßlich Angela Merkel, als diese gerade zornig nach Thüringen telefoniert hatte, nachdem dort die CDU mit Hilfe der AfD den FDP-Menschen Kemmerich zum Ministerpräsidenten gewählt hatte: ‚Das Land hat jeden Kompass verloren. Und M den Verstand. Sie ist ein sargnagel der Demokratie. Bald hat die afd die absolute Mehrheit.'“
  • „…über die westliche Welt: ‚free west, fuck the intolerant muslims und all das andere Gesochs.'“
  • „…über seine Kompassnadel und – ja, davon muss man ausgehen – Friedrich den Großen: ‚Mein Kompass geht so: Menschenrechte – keine Kompromisse. Rechtsstaat – zero tolerance … Lebensstil (( was Ficken und solche Sachen betrifft – Fritz zwo: jeder soll nach seiner Fasson (oder facon)…))'“.
  • „…über die Erderwärmung: ‚ich bin sehr für den Klimawandel. Zivilisationsphasen der Wärme waren immer erfolgreicher als solche der Kälte. Wir sollten den Klimawandel nicht bekämpfen, sondern uns darauf einstellen.'“

Wie lässt sich verstehen, dass dieser zweifellos gebildete, promovierte Musik- und Theaterwissenschaftler, der in einer beispiellosen Karriere vom Musikkritiker zum Vorstandsvorsitzenden eines der bedeutendsten Verlagskonzerne Europas aufstieg, den er seit mehr als 20 Jahren überaus erfolgreich führt, der die Firmenerbin Friede Springer derart begeisterte, dass sie ihm ein Aktienpaket im Wert von ca. einer Milliarde Euro schenkte (von der Süddeutschen Zeitung als „größter Enkeltrick der Geschichte“ bezeichnet), wie kann es sein, dass dieser smarte Überflieger gegenüber Führungskräften seines Konzerns derart niveaulose, törichte Überzeugungen vertritt?

Friede Springer, Mathias Döpfner, Kai Diekmann, Julian Reichelt

In seiner in der Bildzeitung veröffentlichten Entschuldigung erklärt Döpfner, es gelinge ihm nicht immer, private Nachrichten im korrekten Ton zu schreiben: „Wenn ich wütend oder sehr froh bin, wird mein Handy zum Blitzableiter. Ich schicke dann manchmal Menschen, denen ich sehr vertraue, Worte, die ‚ins Unreine‘ gesagt oder getippt sind. Weil ich davon ausgehe, dass der Empfänger weiß, wie es gemeint ist.“

Aber auch „ins Unreine getippt“ bleiben es seine Überzeugungen. Und eleganter formuliert wären sie genauso empörend. Herr Döpfner möge uns doch bitte nicht weismachen wollen, die Mitteilungen an seine Buddies im Springer-Führungszirkel entsprächen nicht seinem wirklichen Denken. Eher sind es doch seine an die Öffentlichkeit gerichteten Äußerungen, die „political correct“ angepasst, gefiltert und aufpoliert werden.

Chatmitteilungen des Springer-Chefs an seine leitenden Mitarbeiter, die an Meinungsstärke wahrlich nichts zu wünschen übrig lassen, sind mitnichten rein private Äußerungen. Sie sind Teil der Führungskommunikation mit Ausstrahlung auf die gesamte Führungskultur des Unternehmens. Wenn Döpfner in vertrautem Kreis seine Einstellung zu grundlegenden politischen Vorgängen kundtut, dann lässt er keinen Zweifel daran, wie der Chef denkt. In einem Medienkonzern wie Springer, der seit vielen Jahrzehnten höchst engagiert öffentliche Meinungsbildung betreibt, ist dies von besonderer Brisanz. Die übliche verlegerseitige Zurückhaltung, den Redaktionen keine Vorgaben zu machen, übrigens auch in den Compliance-Regeln des Springer Verlags verankert, wird dadurch konterkariert.

Indes hat sich Mathias Döpfner derlei Zurückhaltung oft gar nicht erst auferlegt. Im letzten Wahlkampf forderte er beispielsweise den damaligen Bild-Chefredakteur Reichelt, angeblich ein Ziehsohn von ihm, in aller Deutlichkeit zur Unterstützung der FDP auf. Sieben Wochen vor der Wahl schrieb Döpfner ihm (laut „Zeit“): „Unsere letzte Hoffnung ist die FDP. Nur wenn die sehr stark wird – und das kann sein – wird das grün rote Desaster vermieden. Können wir für die nicht mehr tun. Die einzigen die Konsequenz gegen den Corona Massnahmen Wahnsinn positioniert sind. It’s a patriotic duty.“ Eine Woche später setzte er nach: „Kann man noch mehr für die FDP machen? Die sollten 16 Prozent mindestens kriegen.“ Und zwei Tage vor der Wahl: „Please Stärke die FDP.“

Wie soll man die Diskrepanz zwischen dem kultivierten öffentlichen Döpfner, Kunstliebhaber und zuweilen Schöngeist, wie man hört, und dem groben, unkultivierten, ordinären Schreiber primitiver, dumpfbackiger Chatmitteilungen an Mitarbeiter interpretieren?

Mich erinnert das Ganze nicht zuletzt an eine Gruppe männlicher Jugendlicher, in denen derjenige die Alpha-Position einnimmt, der die größte Klappe hat und mit den krassesten, coolsten Sprüchen imponiert. Der selbstbewusst gegen das üblicherweise Gebotene verstößt und sich traut, die Regeln von Anstand und geltender Moral zu brechen, was die anderen so nicht wagen. Dieser Anführer prägt aber nun die Kultur der Gruppe.

Vielleicht hat der erfolgsverwöhnte und durch die überaus spendable Schenkung der Gründerwitwe zum Großaktionär gewordene Medienmanager, der mit einer Körpergröße von gut zwei Metern den überwiegenden Teil seiner Mitmenschen deutlich überragt, auch das Gefühl eingebüßt, sich rechtfertigen zu müssen, sei es gegenüber den Mitarbeitern oder dem handverlesenen Aufsichtsrat.

Es ist jedenfalls absolut inakzeptabel, wenn der Vorstandvorsitzende eines bedeutenden Medienhauses seinen leitenden Mitarbeitern und Redakteuren Denkweisen und Wertmaßstäbe vorlebt, wie sie eher für rechtspopulistische Kreise charakteristisch sind: Einstellungen, mit denen ganze Menschengruppen pauschal entwertet und gesellschaftliche Feindbilder geschürt werden.

Derartige Gesinnungen werden in der Soziologie als „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ bezeichnet. Zu deren Symptomen zählt übrigens nicht zuletzt Sexismus.

Ergänzungen am 21.04.2023

Man mache sich bewusst, in welch sensiblen Feld sich diese Affäre bewegt. Mathias Döpfner kontrolliert und führt ein Medienunternehmen, das mit großer Reichweite und großem Einfluss öffentliche Meinungsbildung betreibt. Der von den Presseorganen des Springer Verlags, allen voran der Bildzeitung, ausgeübten gesellschaftlichen Meinungsmacht sollte auf Seiten der Journalisten, vor allem aber auch des Verlegers, eine an den Grundsätzen der Medienethik orientierte Verantwortungshaltung entsprechen. Der Springer-Chef wäre gut beraten, bei seinen führenden Mitarbeitern und Chefredakteuren ein Bewusstsein für die ethische Dimension journalistischen Handelns zu wecken. Stattdessen flüstert er ihnen, seiner offenkundigen Lust am Tabubruch frönend, als Scharfmacher Parolen ein, die den beklagenswerten gesellschaftlichen Trend einer regressiven Entzivilisierung befeuern.

Am Ende seiner „Entschuldigung“ in der Bildzeitung spricht Mathias Döpfner die Lehren an, die er aus der Tatsache zieht, dass die an Personen seines Vertrauens „ins Unreine getippten“ Worte weitergegeben wurden. Eine dieser Lehren bleibe „die Idee von der ‚Gedankenfreiheit‘“.

Dieser Einfall Döpfners zeigt einmal mehr, wie schräg, wie exzentrisch der Springer-Chef denkt. Der Verweis auf die Idee von der „Gedankenfreiheit“ passt in seinem Fall doch gar nicht. Selbstredend kann Herr Döpfner jederzeit denken, was er will, doch hier geht es um seine Kommunikation mit ihm unterstellten Führungskräften, denen er mitteilt, wie und was er denkt. Dass dies in einer auf Vertraulichkeit angelegten Kommunikation geschieht, macht deren Einfluss auf die Adressaten nur umso wirkungsvoller.

Um deutlich zu machen, wie verstiegen der Verweis auf „Gedankenfreiheit“ im Fall Döpfner ist, zitiere ich zwei Beispiele, die Wikipedia zur historischen und politischen Bedeutung des Liedes „Die Gedanken sind frei“ anführt.

„Immer wieder war das Lied in Zeiten politischer Unterdrückung oder Gefährdung Ausdruck für die Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit.
Der Vater Sophie Scholls, Robert Scholl, wurde Anfang August 1942 wegen hitlerkritischer Äußerungen inhaftiert. Sophie Scholl stellte sich abends an die Gefängnismauer und spielte ihrem dort einsitzenden Vater auf der Blockflöte die Melodie vor.
Auch in der tagespolitischen Auseinandersetzung gegen staatliche Überwachung und Restriktion wird das Lied häufig gesungen. 1989 wurde während der friedlichen Revolution in der DDR das Lied von Mitgliedern der Dresdner Staatskapelle auf dem Theaterplatz in Dresden gespielt und von tausenden Demonstranten mitgesungen. Es war ein ergreifender Höhepunkt der damaligen historischen Ereignisse.“

Das sind die Kontexte, in die der Begriff Gedanken- oder Meinungsfreiheit gehört.

Mathias Döpfner sei die zweite Strophe des Liedes ans Herz gelegt:

Ich denke, was ich will,
und was mich beglücket,
doch alles in der Still,
und wie es sich schicket.

Mein Wunsch und Begehren
kann niemand verwehren,
es bleibet dabei:
die Gedanken sind frei.

Außerdem:
  • Kommentare der Spiegel-Journalisten Markus Feldenkirchen und Sabine Rennefanz – Der Spiegel, 14.04.2023
  • Der allerschönste GrößenwahnLaura Hertreiter und Willi Winkler – Süddeutsche Zeitung, 14.04.2023
    • „Es gehörte immer zum Geschäftsmodell des Medienimperiums Springer, die Würde des Menschen anzutasten. Aber mit seinen internen Botschaften hat Mathias Döpfner die Abgründe jetzt noch einmal klar sichtbar gemacht.“
  • Die «Zeit» wollte Mathias Döpfner blossstellen und hat sich blamiert Marc Felix Serrao – Neue Zürcher Zeitung, 17.04.2023
    • „Der viel zitierte Bericht der Hamburger Wochenzeitung über den CEO von Axel Springer illustriert, wie ein Medium durch einen Mangel an Distanz und Differenziertheit zum Spielball von Informanten werden kann. Das Ergebnis ist schlechter, unfairer Journalismus.“
    • Denkraum-Kommentar: Der Deutschland-Chef der NZZ bemüht sich wacker, dem Springer-Chef zur Seite zu eilen. Im Wesentlichen bezweifelt er, dass Döpfners Chatmitteilungen dessen tatsächliches Denken wiedergeben, da der Kontext des Dialogs unbekannt ist, in dem die Äußerungen stattgefunden haben. Jeder mag selbst entscheiden, für wie stichhaltig er diese Begründung hält. Die weiteren Argumente des Schweizer Journalisten sind derart weit hergeholt, dass sie keinesfalls überzeugen können.
  • Der Fairness und Vollständigkeit halber soll hier auch ein Beispiel für den „anderen Döpfner“, den erfolgreichen, weitsichtigen Medienmanager verlinkt werden.

Agitation mit verdeckter Strategie: das „Friedensmanifest“ Alice Schwarzers und Sahra Wagenknechts

Schulter an Schulter stehen sie da, die beiden Ikonen des Feminismus und der bundesdeutschen Linken, um ihren Widerstand gegen einen (männlich geprägten?) Mainstream in der Debatte um den richtigen Weg Deutschlands im Ukrainekrieg zu artikulieren.

Politische Krisen sind die Zeit der Manifeste. Intellektuelle und Prominente aller Couleur melden sich mit Thesen, Appellen und offenen Briefen zu Wort, um den gesellschaftlichen Diskurs im Kampf um die öffentliche Meinung in ihrem Sinn zu beeinflussen. Das ist grundsätzlich zu begrüßen: Wenn alternative Sichtweisen und Argumente vorgetragen werden und beispielsweise auf Aspekte aufmerksam gemacht wird, die im öffentlichen Diskurs unterbelichtet sind, wird das Problembewusstsein der Bevölkerung erweitert, und es können tiefergehende Reflexionsprozesse angeregt werden. Der gesellschaftliche Meinungsbildungsprozess kann so wertvolle Impulse erhalten.

In manchen Fällen arbeiten die Deklarationen prominenter Mitbürger allerdings mit den Mitteln der Agitation und Demagogie. Ein bedauerliches, aber treffendes Beispiel dieser Art der Einflussnahme ist das „Manifest für Frieden von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht. Die beiden Friedensaktivistinnen setzen auf Polarisierung, Emotionalisierung, Vereinfachung und Suggestion. Sachliche Abwägungen oder gar die Berücksichtigung anderer Sichtweisen und Argumente fehlen. Es geht allein darum, Verunsicherung zu verbreiten und die reichlich vorhandenen Ängste der Bevölkerung nach Kräften zu schüren.

Schauen wir uns den Verlauf der Argumentation näher an. Zu Beginn ihres Statements führen die beiden Friedensstreiterinnen den ganzen Schrecken dieses Krieges noch einmal vor Augen und weisen auf die Ängste der Menschen in ganz Europa hin, er könne sich ausweiten. Andererseits lassen sie keinen Zweifel daran, dass „die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung“ unsere Solidarität braucht. Aber, so fragen sie im gleichen Zuge, „was wäre denn jetzt solidarisch?“ Sie öffnen unseren Blick dafür, dass es grundsätzlich eine offene Frage ist, auf welche Weise wir unsere Solidarität zeigen wollen und worin sie bestehen soll. Soweit, so gut. Oder verfolgen die Damen mit dieser Frage noch eine andere, verdeckte Agenda? Wir werden sehen.

Sie stellen sodann noch zwei weitere Fragen in den Raum: „Wie lange noch soll auf dem Schlachtfeld Ukraine gekämpft und gestorben werden?“ Und vor diesem Hintergrund: Was ist jetzt eigentlich das Ziel des Krieges, ein Jahr nach dessen Beginn? Präsident Selenskij jedenfalls mache aus seinem Ziel kein Geheimnis: Er fordere jetzt Kampfjets, Langstreckenraketen und Kriegsschiffe – „um Russland auf ganzer Linie zu besiegen?“ So wird es, wenn auch mit einem Fragezeichen versehen, nahegelegt. Dann aber wäre nicht nur Putin, sondern auch Selenskij der Kriegstreiber!

Nun fahren die beiden Aktivistinnen beim Ängsteschüren ein schweres Geschütz auf: Spätestens bei einem Angriff auf die Krim, so sei zu befürchten, werde Putin „zu einem maximalen Gegenschlag“ ausholen. Dieser Einfall ist merkwürdig, denn tatsächlich steht ein Angriff auf die Krim weder bevor noch überhaupt zur Debatte. Allen einigermaßen realpolitisch denkenden Beobachtern, Herrn Selenskij eingeschlossen, ist klar, dass die Ukraine die Krim eben wohl nicht zurückerhalten wird.

Die Befürchtung der beiden Putinversteherinnen sollte denn auch lediglich dazu dienen, einen weiteren Teufel an die Wand zu malen: Unaufhaltsam könnten wir so „auf einer Rutschbahn“ in einen Weltkrieg und Atomkrieg schlittern. Schließlich wäre es „nicht der erste große Krieg, der so begonnen hat“. Aber, dieser Hinweis darf nicht fehlen, „es wäre vielleicht der Letzte“.

In ihrer grundsätzlichen militärischen Lagebeurteilung sind sich beide Damen sicher: Zwar könne die Ukraine, unterstützt durch den Westen, einzelne Schlachten gewinnen, nicht aber einen Krieg gegen die größte Atommacht der Welt. Auch General Milley, der höchste militärische Befehlshaber der USA, spreche „von einer Pattsituation, in der keine Seite militärisch siegen und der Krieg nur am Verhandlungstisch beendet werden kann“. „Warum dann nicht jetzt, sofort!“ beeilen sich Schwarzer und Wagenknecht zu fordern – und blenden aus, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinerlei Bereitschaft zu Verhandlungen besteht, auf beiden Seiten.

Aber sie hatten ja ausdrücklich offen gelassen, was denn jetzt solidarisch wäre, worin zum gegenwärtigen Zeitpunkt unsere Solidarität mit der Ukraine bestehen sollte. Hier kommt nun die verdeckte Argumentationsstrategie der beiden Friedensstifterinnen ins Spiel. Wenn die Ukrainer nicht verhandeln wollen, weil es das Ziel von Präsident Selenskij ist, „Russland auf ganzer Linie zu besiegen“, dann müssen eben die Waffenlieferungen des Westens gestoppt werden. Die unausgesprochene Schlussfolgerung: Dann wird die Ukraine gezwungen sein zu verhandeln.

„Verhandeln“, wird Selenskij ins Stammbuch geschrieben, bedeute ja nicht „Kapitulieren“, sondern Kompromisse schließen, auf beiden Seiten. Mit dem ehrenwerten Ziel, weitere Hunderttausende Tote und Schlimmeres zu verhindern. So definieren die beiden Damen den rechten Weg für die Ukraine, und so denke auch die Hälfte der deutschen Bevölkerung. Daher sei der Kanzler jetzt in die Pflicht zu nehmen und an seinen Schwur zu erinnern, Schaden vom deutschen Volk zu wenden. „Jetzt“, unverzüglich, müsse er die Eskalation der Waffenlieferungen stoppen.

Denn darin, das ist die gemeinsame Botschaft der Linken und der Feministin, besteht die wahre Solidarität mit der Ukraine. Wenn man die empfohlene Strategie zuende denkt, kann man es nur als perfide empfinden, sie als Solidarität mit der Ukraine verkaufen zu wollen. Und übrigens: so denkt die Hälfte der deutschen Bevölkerung mitnichten!

Außerdem:

Zu Weihnachten Bergamo in Deutschland?

Bergamo – das ist diese wunderschöne Stadt in Norditalien, die im Frühjahr von einer Katastrophe heimgesucht wurde. Man hatte die Kontrolle über die Ausbreitung des Corona-Virus verloren, und die Intensivstationen der Stadt waren mit Covid-Patienten derart überfüllt, dass die Ärzte entscheiden mussten, wen man noch fachgerecht behandeln könnte und wer wegen seiner schlechteren Prognose aufgegeben werden musste. Wir lernten damals den wohlklingenden französischen Begriff „Triage“ für dieses Ausleseverfahren kennen, mit dem Ärzte die medizinischen Ressourcen, wenn sie nicht für alle Kranken ausreichen, denjenigen mit den besten Überlebenschancen zuteilen. Großzügig übernahmen deutsche Krankenhäuser damals einige Schwerkranke aus Norditalien. In jenen Wochen starben in Bergamo so viele Menschen an der Seuche, dass Lastwagen der italienischen Armee ihre Särge auf Krematorien in ganz Nord- und Mittelitalien verteilen mussten.

Und nun, ein halbes Jahr später, in der von Fachleuten einhellig vorhergesagten zweiten Pandemie-Welle, stehen einige deutsche Regionen am gleichen Punkt wie Bergamo im Frühjahr. Wer hätte sich das damals vorstellen können? Uns Deutschen, in der ganzen Welt bekannt für unsere disziplinierte Vernunft, unseren nüchternen Realismus, unser kluges, weitsichtiges Vorausplanen, uns läuft jetzt, zwei Wochen vor Weihnachten, die Seuche komplett aus dem Ruder. Obwohl es möglich ist, eine Pandemie erfolgreich zu bekämpfen, haben nun auch wir die Kontrolle weitgehend verloren. Genauer gesagt, haben wir sie sehenden Auges aus der Hand gegeben,

Eine Pandemie ist ein klassischer Fall für die Notwendigkeit staatlicher Gesundheitsvor- und fürsorge. Das Risiko jedes Einzelnen von uns, sich anzustecken, ist umso größer, je weiter der Virus in der Bevölkerung verbreitet ist. Also teilen wir alle das Interesse, seine Verbreitung einzudämmen und zu verringern. Dies gelingt jedoch nur, wenn alle kooperieren.

Die winzigen, unsichtbaren Schädlinge werden mit der Atemluft der Virusträger an die nähere Umgebung abgegeben. Zwar verdünnt sich die Viruswolke mit wachsender Distanz, wird aber unschädlich erst in einer Entfernung, die unserem üblichen räumlichen Abstand voneinander im Lebensalltag nicht entspricht. Unter Pandemiebedingungen bedarf es in unserem alltäglichen Umgang miteinander also einer ungewohnten räumlichen Distanzierung. Diese und weitere Schutzmaßnahmen erfordern ein regelgeleitetes, koordiniertes Handeln der gesamten Bevölkerung, und das kann allein der Staat veranlassen und organisieren.

Es liegt in der Natur der Sache, dass die hoheitlich verordneten Restriktionen mit der Einschränkung einiger unserer individuellen Freiheitsrechte verbunden sind, auch wenn wir das bekanntlich überhaupt nicht mögen. Die Freizügigkeit soll uns beschnitten werden, also das Recht, uns innerhalb unseres Landes frei zu bewegen und unseren Aufenthaltsort zu bestimmen, wir dürfen uns nicht mehr nach Belieben versammeln, und sogar in die eigentlich unverletzliche Privatspäre unserer Wohnung, von Artikel 13 unseres Grundgesetzes besonders geschützt, greift der Staat ein und maßt sich an zu bestimmen, wieviel Gäste wir dort allenfalls empfangen dürfen.

All diese staatlichen Eingriffe in unsere Freiheitsrechte haben verhältnismäßig zu sein, sie müssen also einen legitimen öffentlichen Zweck verfolgen und zudem geeignet, erforderlich und angemessen sein. Aber welche Maßnahmen sind erforderlich und angemessen, wenn sich 30.000 Menschen pro Tag neu mit dem Virus infizieren und 600 im gleichen Zeitraum daran sterben? Diese lawinenartige Ausbreitung der Seuche bekommen wir in diesem Stadium nur noch in den Griff, sagen uns die Wissenschaftler, wenn wir unser soziales Leben weitestgehend einschränken und alle nicht unbedingt notwendigen Kontakte und Begegnungen unterlassen.

Dies kollidiert natürlich gravierend mit wesentlichen Bedürfnissen und Interessen aller gesellschaftlichen Bereiche und jedes Einzelnen von uns. Daher bedarf es einer Güterabwägung: Weiterhin täglich 30.000 Neuerkrankungen und einen Zusammenbruch unseres Gesundheitssystems akzeptieren, von den 600 Toten pro Tag nicht zu reden, oder das private Leben drastisch einschränken und das öffentliche Leben fast zum Erliegen bringen. Zwei Wochen vor Weihnachten, womöglich bis weit in den Januar hinein. Das ist die Alternative, vor der wir stehen. Wir wissen, setzen wir den Mittelweg der halbherzigen Restriktionen fort, führt dies weiterhin zu Tausenden um Luft ringende Schwerkranke, von denen viele nicht überleben und viele andere schwere, langwierige gesundheitliche Beeinträchtigungen davontragen werden. Andererseits: Ein harter Lockdown, vielleicht vier bis sechs Wochen lang, würde neben erheblichen anderen Misslichkeiten große finanzielle Verluste mit sich bringen und den Steuerzahler auf Jahre hinaus zusätzlich belasten.

Aber schon immer haben die Menschen Seuchen mit allen jeweils verfügbaren Mitteln bekämpft. Und heute ist nur der sofortige Shutdown ein wirksames Mittel gegen das weitere Wüten der außer Kontrolle geratenen Pandemie. Halbherzige Maßnahmen haben sich als unwirksam erwiesen. Sie kommen also nicht in Betracht.

Bergamo übrigens hat verstanden, Länder wie Irland und Neuseeland auch. Während bei uns diskutiert und rumgeeiert wird, hat man dort die gefährliche Entwicklung in den Griff bekommen. Es geht also – wenn auch nur mit drastischen Maßnahmen. Hätten unsere Politiker diese schon früher eingeleitet, mutig und beherzt, wären wir in die jetzige Lage gar nicht gekommen.

Wenn nicht sofort konsequent gehandelt und das öffentliche und soziale Leben weitgehend heruntergefahren wird, dann haben wir bei uns zu Weihnachten die gleichen Verhältnisse wie Bergamo im Frühjahr. Das möge man unter allen Umständen verhindern.

Außerdem:

Wie eine COVID-19-Erkrankung das Leben eines berühmten Virologen veränderte“Denkraum, 19. Mai 2020

Philosophie der Pandemie Warum wir die Coronakrise noch immer nicht begreifen – Spiegel, 18.01.2021
Die Coronakrise ist eine Naturkatastrophe – leider verstehen das noch immer viele nicht. Warum? Es liegt in der Natur des Menschen, sagt Philosophieprofessor Albert Newen.

Wie Deutschland schon im März fast coronafrei werden kannCaroline Ring – Tagesspiegel, 04.02.2021

Mitte Februar könnte die Inzidenz unter die 50er-Marke sinken. Dennoch fordern Wissenschaftler eine Verlängerung der harten Maßnahmen. Sie haben gute Gründe.

Null-Fälle-Strategie soll Deutschland aus der Corona-Krise führenFlorian Schumann und Sven Stockrahm – Zeit, 18.01.2021

Infektionen auf null bringen und konsequent eindämmen: Führende Forscher schlagen der Kanzlerin einen No-Covid-Plan vor.

„Wie eine COVID-19-Erkrankung das Leben eines berühmten Virologen veränderte“

Medscape ist eine internationale medizinische Webseite, die sich primär an Fachkreise richtet. In der Ausgabe vom 19. Mai 2020 findet sich ein eindrucksvoller Bericht des renommierten belgischen Virologen Prof. Peter Piot über seine eigene COVID-19-Erkrankung.

„Ärzte kennen Prof. Dr. Dr. Peter Piot (Vitavor allem als Mit-Entdecker des Ebolavirus in Zaire im Jahr 1976 und als Initiator früher HIV/AIDS-Hilfsprogramme in den 1980er-Jahren. Der Forscher lebt in England und ist Leiter der London School of Hygiene and Tropical Medicine. Der Virologe erkrankte vor einigen Wochen an COVID-19. Im Gespräch mit der belgischen Zeitschrift Knack berichtet er über seine Erfahrungen – und über Lehren, die man aus der Pandemie ziehen sollte. (…)

Eineinhalb Stunden lang erzählt er – zunächst zögernd, weil es eine emotionale Erfahrung war und er kein emotionaler Mensch ist, wie er sagt. Er berichtet, wie ihn die Krankheit beeinflusst hat und äußert seine Sorge darüber, dass viele Menschen die Auswirkungen des Coronavirus auf unsere Gesellschaft unterschätzen.“

Angesichts der „Pandemie“ der im Netz verbreiteten Falschinformationen zu COVID-19 und der Welle von Demonstrationen gegen die staatlichen Infektionsschutzmaßnahmen wird die Lektüre dieser sehr persönlichen Schilderung des 71-jährigen Arztes über seine Erfahrungen während seines Krankheitsverlaufs wärmstens empfohlen.

Da der betreffende Medscape-Artikel jedoch nur Angehörigen der Heilberufe zugänglich ist, hier einige wesentliche Auszüge:

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„Es gibt einen Ausweg aus dem Nordkorea-Konflikt“

Fareed ZakariaFareed Zakaria ist einer der profiliertesten politischen Journalisten der USA. Er moderiert jeden Sonntag eine einstündige politische Magazinsendung auf CNN, Fareed Zakaria GPS, die weltweit ausgestrahlt wird und nach Angaben von Wikipedia ca. 200 Mill. Haushalte erreicht. Außerdem schreibt er u.a. eine wöchentliche Kolumne für die Washington Post, die er unter dem Titel „Fareed’s Take“ jeweils zu Beginn seiner CNN-Sendung vorträgt.

Am 28. September 2017 befasste sich seine Kolumne mit der gegenwärtigen Nordkorea-Politik der Vereinigten Staaten. Dieser Primitivversion des Umgangs mit einem brandgefährlichen Konflikt stellte er einen elaborierten politischen Lösungsansatz gegenüber, der von einem intimen Kenner der Region und der Konfliktparteien entwickelt wurde.

Diese beiden politischen Ansätze trennen Welten. Es wird schlagartig deutlich, dass der derzeitige, vorwiegend emotionsgesteuerte amerikanische Präsident kaum in der Lage sein wird, die differenzierten politischen Lösungsstrategien nachzuvollziehen (geschweige denn anzuwenden), die allein der Komplexität der unterschiedlichen Interessenlagen der an dem Konflikt Beteiligten gerecht werden und eventuell ermöglichen würden, Bewegung in die starren Fronten zu bringen.

Ich habe diese in meinen Augen besonders interessante Kolumne Fareed Zakarias übersetzt. Den (gekürzten) Vortrag des amerikanischen Originals (Fareed’s Take: „Trump likes to be the tough guy“) durch den Journalisten finden Sie hier.

Es gibt einen Ausweg aus dem Nordkorea-Konflikt

Die Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und Nordkorea ist derzeit an einem gefährlicheren Punkt angelangt als jemals in den letzten Jahrzehnten. Jede Seite proklamiert harte Positionen, verkündet Drohungen und unterstreicht, ihre Standpunkte seien nicht verhandelbar. Jede Seite hat sich festgelegt und kaum noch Spielraum. Wie bricht man aus diesem gefährlichen Weg aus?

Die Trump-Regierung hat einen kolossalen Fehler begangen, indem sie ohne solide Absicherungsstrategie ihre Rhetorik hochgefahren hat. Warum, bleibt unklar. Teilweise scheint es, dieses Weiße Haus will jede Politik der Obama-Ära umkehren. Teilweise ist es der gleiche undisziplinierte Ansatz, der so viele Aktionen dieser Regierung kennzeichnet: Top-Leute, die eigenmächtig und großspurig handeln. Zum Beispiel scheint Nikki Haley, US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, eine harte Linie auch deshalb einzuschlagen, um Außenminister Rex Tillerson zu überflügeln – und sich effektvoll für sein Amt zu empfehlen.

Aber das wichtigste ist vielleicht, dass Präsident Trump es liebt, der harte Kerl zu sein. Frühere Präsidenten reagierten mit Besonnenheit auf angriffslustige Statements von Führern wie Nikita Chruschtschow und Mao Tsetung. Die Vereinigten Staaten waren immer diszipliniert und vorsichtig; es waren die Jungs der Gegenseite, die verrückte Reden geschwungen haben. Aber Trump scheint entschlossen, auch bei den Beleidigungen das letzte Wort zu haben.

Wir müssen die Rhetorik zurückfahren und eine Strategie formulieren. Nordkorea hat eine – seit Jahrzehnten. Vor dem Hintergrund seiner Isolation und Gefährdungslage hat Nordkorea entschieden, nukleare Abschreckung zu benötigen. Und Pyongyang hat auf diesem Weg erstaunliche Fortschritte gemacht. Atomwaffen sind das einzige, das Kim Jong Un davor bewahrt, das Schicksal von Saddam Hussein oder Muammar al-Gaddafi zu erleiden. Das Regime wird diese Versicherung nicht aufgeben. Würden Sie es tun, wenn Sie in Kims Position wären?

Eine Denuklearisierung Nordkoreas zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist eine Wunschfantasie. Sie wird nicht stattfinden, es sei denn, die Vereinigten Staaten würden einen Krieg auf der koreanischen Halbinsel führen. Jeder weiß dies, aber kein Offizieller in Washington ist bereit, es öffentlich zuzugeben. Die Vereinigten Staaten verfolgen eine Zombie-Politik, die keine Chance auf Erfolg hat, aber gleichwohl angewandt wird. Das bedeutet, dass wir keinerlei Fortschritte in Richtung auf ein wünschenswertes und tatsächlich erreichbares Ziel machen können: das nordkoreanische Atomwaffenarsenal einzufrieren, weitere Atomtests zu stoppen und die Atomwaffen unter internationale Kontrolle zu bringen.

Ein Ausweg aus dieser lähmenden Situation wäre, die Problematik in einem neuen Rahmen zu betrachten und den Lösungshorizont zu erweitern. Josua Cooper Ramo, Co-Direktor von Henry Kissingers Beratungsfirma, hat einen Plan entwickelt, der in Washington zirkuliert, mit dem Ziel, eine internationale Konferenz über die Nichtweitergabe von Atomwaffen einzuberufen. Alle bestehenden Atomwaffenstaaten sollen zustimmen, ihre Arsenale für einige Zeit nicht zu testen oder zu erweitern – etwa 36 Monate lang. Inspektoren würden die Einhaltung überwachen. Alle anderen Nationen würden versichern, dass sie nicht beabsichtigen, Atomwaffen zu erwerben. Entscheidend wäre, dass Nordkorea eingeladen würde, sich dieser Vereinbarung anzuschließen, jedoch als Atomwaffenstaat, mit dem Ziel, den gegenwärtigen Entwicklungsstand einzufrieren und das Land möglicherweise später zu denuklearisieren.

Nach Ramos Auffassung sind die Vorteile dieses Ansatzes, dass er das Nordkorea-Problem in den breiteren Kontext der globalen Proliferation stellt, so dass jede Partei eine gesichtswahrende Möglichkeit erhält, ehemals starre, als nicht verhandelbar geltende Standpunkte zu verlassen. Auf diese Weise entstünde eine globale Koalition, die in die Lage versetzt würde, Sanktionen gegen Nordkorea zu verhängen, falls das Land seinen Verpflichtungen nicht nachkommen würde, und China ermächtigen würde, gegen seinen Verbündeten rigoros durchzugreifen. Dieser Plan berücksichtigt auch Pekings zentrale Sicherheitsbedenken: ein Kollaps Nordkoreas würde abgewendet, außerdem würde verhindert, dass Japan und Südkorea in den Besitz von Atomwaffen kämen. Ramo, ein exzellenter China-Kenner, ist überzeugt, dass dieser breitere Ansatz es der chinesischen Regierung ermöglichen würde, ihre Position zu ändern.

Die Details eines solchen Plans könnten bei Bedarf angepasst werden. Eventuell könnte mit dieser Konferenz auch der Versuch verbunden werden, den Vertrag über die Nichtweitergabe von Atomwaffen, der in seiner gegenwärtigen Form nicht mehr dem derzeitigen Stand der Dinge entspricht, zu aktualisieren und zu erweitern. (Der Vertrag, der 1968 ausgearbeitet wurde, ging noch von einer eindeutigen Unterscheidbarkeit von friedlicher Nutzung der Kernenergie und deren Verwendung zum Bau von Atomwaffen aus, die aber heute kaum noch gegeben ist.)

Vielleicht könnte die Konferenz in Form eines regionalen Forums stattfinden, wobei die Beteiligung von Japan und Südkorea besonders zu betonen wäre, damit deren Verpflichtung, keine Atomwaffen zu erwerben, als Schlüsselelement angesehen würde – ebenso wie die implizite Bedrohung, dass diese Länder frei wären, sich in eben diese Richtung zu bewegen, wenn es keine entsprechende Vereinbarung gäbe.

Es existiert keine wirklich gute – geschweige denn perfekte – politische Lösung für das Nordkorea-Problem. Aber die Trump-Regierung muss auf jeden Fall mit den Beleidigungen aufhören, Vernunft annehmen und versuchen, einen Weg zu finden, um die Situation zu stabilisieren. Andernfalls sind wir auf einem Weg, der Washington dazu zwingen wird, entweder in den Krieg zu ziehen oder stillschweigend seine Niederlage gegen den kleinen Rocket Man einzuräumen.

Außerdem:
  • Nordkorea und USA wollen Trumps Geisteszustand ergründen – Analyse von Manuel Escher – Der Standard, 03.10.2017 (mit weiteren Links zum Thema)
    • „Provoziert Trump planvoll oder impulsiv? Die Antwort hat Folgen für Krieg und Frieden.“
    • „Donald Trump will laut Medienberichten als unberechenbarer „Madman“ wahrgenommen werden. Das ist gefährlich, sagen Experten: Gelangt Nordkorea etwa zu der Auffassung, dass ein Angriff der USA unabwendbar sei, könnte das Land einen Erstschlag gegen Südkorea oder Japan starten.“
    • „Donald Trump, schrieb die Internetseite „Axios“ jüngst, soll seinen Mitstreitern kürzlich einen ungewöhnlichen Befehl gegeben haben: Man solle ihn in den Verhandlungen über ein Handelsabkommen mit Südkorea möglichst als Verrückten darstellen, der die Vereinbarung jederzeit in der Luft zerreißen könnte. Die Autoren von „Axios“ schließen daraus, dass Trump auch in anderen Politikbereichen dem Leitfaden folgt, den US-Präsident Richard Nixon einst im Vietnam-Krieg alsMadman-Theorie bekannt gemacht hat: Andere Staaten sollen glauben, dass die USA auch zu irrationalen Handlungen bereit seien, wenn man auf ihre Bedingungen nicht ausreichend eingehe. Trumps teils ungewöhnliches Verhalten wäre demnach Teil seiner Verhandlungstaktik.“
    • „Nicht alle halten diese Erklärungsversuche aber für glaubhaft, auch abseits jener demokratischen Politiker, Medien und Mediziner, die als Ursache für das teils bizarre Verhalten des militärischen Oberbefehlshabers eine medizinische Erklärung – etwa eine Erkrankung an Neurosyphilis– vermuten und daher eine Offenlegung von Trumps medizinischen Befunden fordern. „Man sollte nicht versuchen, etwas durch Bosheit zu erklären, was sich auch hinreichend durch Dummheit erklären lässt“, schrieb etwa der Experte für Meinungsforschung, Nate Silver, auf der vielgelesenen Plattform „Fivethirtyeight“ am Montag. Er sehe Trumps Verhalten nur in den wenigsten Fällen als berechnend, vielmehr lasse sich vieles auch dadurch erklären, dass der Präsident eben ein emotionaler und impulsiv handelnder Mensch sei, der rassistische und sexistische Vorurteile habe und diesen entsprechend handle. Zu selten, so Silver, ergebe sich aus dem Wüten des Präsidenten ein politischer Vorteil.“
  • Kim Jong Un and the Place of PrideAndray Abrahamian – 38 North, 02.10.2017
    • 38 North is a website devoted to informed analysis of North Korea – a project of The US-Korea Institute (About) at Johns Hopkins School of Advanced International Studies (SAIS).
    • „By making it personal, both Kim Jong Un and Donald Trump are boxing themselves in.“
    • „If a cataclysm on the Korean peninsula is to be avoided, President Trump must dial back the personal nature of his rhetoric. What worked well on the campaign trail will not yield results with Kim Jong Un. Kim will push back. He may even stumble into a war for the sake of his personal pride.“
  • Hemmungslos bloßgestellt – Oliver Kühn – FAZ, 02.10.2017
    • „Der amerikanische Präsident Donald Trump macht seinen Außenminister Tillerson öffentlich lächerlich. Er scheint ein Hollywood-Klischee falsch verstanden zu haben.“
    • „Diese Politik mag bei Trumps Anhängern funktionieren, im Fall Nordkoreas jedoch wirkt sie nicht. Genauso wie der amerikanische Präsident will Kim Jong-un nach innen Stärke demonstrieren. Er will seinen Anhängern klar machen, dass er es sogar mit dem amerikanischen Präsidenten aufnehmen kann und sich nicht einschüchtern lässt. Trumps Äußerungen dürften Kim deshalb eher noch darin bestärken, seine Politik fortzuführen. Nur die glaubwürdige Abschreckung mit funktionstüchtigen Atomraketen, die auch das amerikanische Festland erreichen könnten, wird von Kim als Überlebensgarantie angesehen. Seine Drohung, den ersten Test einer Atombombe in der Atmosphäre seit 37 Jahren durchzuführen, muss also durchaus ernst genommen werden. – Schon jetzt würde eine kriegerische Auseinandersetzung nur Verlierer produzieren. Denn militärisch verfügt Kim durchaus über ein ansehnliches Potential. Seine Artillerie kann die südkoreanische Hauptstadt Seoul erreichen und seine Raketen die großen Städte in Japan. Außerdem kann Kim die Granaten und Raketen noch mit chemischen Waffen bestücken, was Millionen Opfer zur Folge hätte.“
  • The best hope for peace in Northeast Asia is that North Korea does not take Trump seriouslyDaniel W. Drezner – Washington Post, 02.10.2017
    • Daniel W. Drezner is a professor of international politics at the Fletcher School of Law and Diplomacy at Tufts University
    • „Trump wants the rest of the world to think he is a madman. Fortunately and unfortunately, the rest of the world thinks he is a blowhard (Angeber, Sprücheklopfer).
  • The Media Needs To Stop Rationalizing President Trump’s BehaviorNate Silver – FiveThirtyEight, 30.09.2017
    • „His outburst on Hurricane Maria and Puerto Rico shows that not everything is a clever ploy to rally his base.“

Gabor Steingart: „Die überforderte Gesellschaft“

Ein „Impulsreferat“ zum Thema „Die verunsicherte Gesellschaft“ hielt Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart beim Deutschen Verbrauchertag am 19. Juni 2017 in Berlin  – nach der Rede der Bundeskanzlerin und vor der Rede von Martin Schulz.

Dieser inhaltlich höchst bemerkenswerte und rhetorisch brillante Vortrag wird hier nicht nur verlinkt, sondern in weiten Teilen wiedergegeben, denn Denkraum-Leser sind erfahrungsgemäß eher geneigt, einen Blogbeitrag zu lesen als einen Link anzuklicken.  – Hervorhebungen von mir.

(…) Die verunsicherte Gesellschaft“, lautet mein Thema und ich werde damit beginnen, dass ich die Gesellschaft vor diesem – von mir selbst gewählten – Titel in Schutz nehme. Die Bevölkerung ist nicht verunsichert. Sie ist lediglich realistisch. Die Menschen schätzen die Lage richtig ein, indem sie feststellen: Wir alle sind überfordert. Wir als Individuum, aber auch der Staat, die Wirtschaft und die Parteien leiden an Überforderungssymptomen, selbst wenn die Kanzlerin das erst in ihren Memoiren zugeben kann.

Wir leben im Zeitalter von Hyperkomplexität, Hochgeschwindigkeit, ökonomischer Besinnungslosigkeit und erleben eine schier endlos scheinende Folge von Kontrollverlusten. Erst verloren die Banken die Kontrolle über ihre Bilanzen, dann die Politiker die Kontrolle über unsere Außengrenzen. Der US-Präsident hat schon mit der Selbstkontrolle größte Schwierigkeiten. Ihm können wir – das unterscheidet ihn von Angela Merkel – bei der Überforderung regelrecht zuschauen.

Das Zeitalter der Überforderung erkennen wir schon daran, dass die nähere Zukunft sich jeder Vorhersehbarkeit entzieht. Wer das bestreitet ist entweder Narr oder Hochstapler. Wir wissen nicht, ob die Höchststände an den Weltbörsen die Anleger reich machen oder die Vorboten einer neuen Finanzkrise und damit ihrer Verarmung sind. Wir wissen nicht, ob uns angesichts der vielen Brandherde weltweit ein neuer Krieg ins Haus steht.

Schwer zu ermessen, ob die Welle des Populismus ihren Höhepunkt erreicht hat, oder ob wir uns das nur wünschen. Welche Auswirkungen die sich selbst beschleunigende Digitalisierung auf unser Leben als Gesellschaft hat, wissen nicht mal die Akteure im Silicon Valley, weshalb sie beschlossen haben, darüber gar nicht erst nachzudenken. Fest steht derzeit nur, was Thomas Friedman in seinem neuen Buch „Thank you for being late“ schreibt: Die Innovationsgeschwindigkeit übertrifft unsere menschliche Adaptionsgeschwindigkeit.

Ein neuer Machbarkeitswahn hat sich als Geschäftsmodell durchgesetzt. Kann sein, dass das alles zu einem bequemeren und längeren Leben führt; was wir hoffen. Aber es kann genauso sein, dass alles wie ein Fluch über uns kommt und die neue Titanic aussieht wie ein iPhone. Vielleicht stellen wir eines Tages entsetzt fest: Hurra wir saufen ab – in einem Meer aus Daten, verkaufter Privatheit und flüchtiger Kommunikation in der alle senden und keiner mehr zuhört. Jeder ist sein eigener Programmdirektor, sagen die Propheten der neuen Zeit. Aber vielleicht ist jeder auch nur sein eigener Depp.

Diese Fragen aufzuwerfen heißt noch nicht sie zu beantworten. Es geht heute Morgen nicht darum, der Idiotie derer, die immer genau wissen was kommt und wo es langgeht, eine eigene Idiotie der Verzagtheit entgegenzusetzen. Zukunft ist – und nur darum geht es an dieser Stelle – kein Wort mehr, das von alleine Besserung verspricht. Wir werden etwas dafür tun müssen, dass das wieder so wird.

Das Verlässliche unserer Zeit besteht derzeit darin, dass es keine Verlässlichkeit mehr gibt. In immer kürzerer Abfolge werden wir Zeuge dessen, was die Amerikaner „Freak Event“ nennen; das Verrückte wird normal und die Normalität spielt verrückt. Glück ist, wenn man zur richtigen Zeit auf dem falschen Weihnachtsmarkt ist.

Die Freak Events – von Lehman-Pleite über Brexit bis hin zur Bombe am Ende eines Popkonzerts – haben etwas Systemisches an sich. Das lässt sich schwer leugnen. Der Terrorismus ist kein Zufall, sondern ein gezielter Angriff auf unsere Vorstellung von Liberalität und Freiheit. Das Finanzsystem dient keineswegs automatisch der Realwirtschaft, sondern bedroht sie oft. Politik ist – im Weißen Haus erleben wir das derzeit täglich – nicht mehr automatisch das Kümmern um die Angelegenheiten der Res publica, sondern zuweilen eben nur die Verfolgung des Eigeninteresses mit den Mitteln des Staates.

Auf unsere altwürdigen politischen Parteien ist in dieser Lage kein Verlass. Politik beklagt die Klimaerwärmung und heizt sie weiter an. Man schwört überall im Westen auf die Prinzipien von Sparsamkeit und seriöser Finanzplanung und feiert eine Orgie des Kredits. Seit dem Zusammenbruch des Bankhauses Lehman Brothers hat sich die Verschuldung der westlichen Welt um mehr als 50 Prozent gesteigert.

Unsere Spitzenpolitiker, auch das ist eine Beobachtung, die kein Vertrauen einflößt, haben vielfach das Zuhören verlernt, eine professionelle Deformation ist zu besichtigen; drei Münder, kein Ohr. Wenn die Kanzlerin oder ihr Gegenkandidat mich fragen würden, was ich Ihnen raten würde, dann vor allem dieses: Stellt nicht immer neue Sprecher ein, sondern lieber einen professionellen Zuhörer. Setzt dem Regierungssprecher einen Regierungszuhörer an die Seite. Das löst nicht alle Probleme, aber es hilft zumindest sie zu verstehen.

Wir sollten es der Gesellschaft jedenfalls nicht verübeln, dass sie merkt, dass die Welt bebt und dabei ist, aus den Fugen zu geraten. Oder um es mit Kurt Tucholsky zu sagen: „Das Volk versteht das meiste falsch, aber es fühlt das meiste richtig.“

Vielleicht ist diese Gesellschaft gar nicht verunsichert, sondern nur wachsam und sauer darüber, dass die anderen, die für ihre Wachsamkeit bezahlt werden – die Parteien, die Finanzaufsicht, die Lebensmittelkontrolleure und jene Menschen, die sich beim Bundesamt für Kraftfahrzeuge mit Dieselmotoren und ihren Schadstoffen befassen – so gar nichts merken. Die Mehrheit der Menschen sehnt sich nicht nach mehr Regulierung, aber nach einer die funktioniert. Sie wollen Fortschritt, aber Fortschritt und Wohlergehen für viele. Sie wollen Manager, die mehr im Kopf haben als die Planzahl fürs nächste Quartal und sie sehnen sich nach Politikern, die das meinen, was sie sagen und das tun, was sie versprechen. Und sie wollen Medien, die sich mit ihren Lesern gemein machen und nicht mit den Mächtigen.

Das klingt verdammt links und auch ein bisschen verrückt, wobei ich denen – die das so sehen – den Literaturnobelpreisträger George Bernard Shaw entgegenhalte: „Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute. Seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben.“

Womit ich bei der Zuversicht angelangt bin, die für mich zwingend aus dem bisher Gesagten folgt. Denn: Die angeblich so verunsicherte Gesellschaft ist im besten Sinne des Wortes eine selbstbewusste Gesellschaft. Wir haben es mit einer Gesellschaft zu tun, die sich ihrer Lage selbst bewusst ist. Und auch wenn die Lage kompliziert und zuweilen unkomfortabel ist, so ist doch das Bewusstsein genau dieser unkomfortablen Komplexität der erste Schritt zur Überwindung dieser Zustände.

Zwischenfrage an uns selbst: Warum schaffen es die deutschen Firmen eigentlich in dieser unfriedlichen, fragil gewordenen Welt im ersten Quartal schon wieder Rekordgewinne und Rekordbeschäftigung zu erzeugen?

Antwort: Weil unsere Firmen Kulturen hervorgebracht haben, die mit der Fragilität und dem Unfrieden auf der Welt gelernt haben zu leben. Wir denken, die bei Daimler produzieren Autos, die bei SAP Software und bei Bayer Aspirin. Aber in Wahrheit sind das alles Organismen, die Risiken sehen, verstehen und ausbalancieren. Läuft Russland schlecht, wird der Einsatz in China erhöht. Schwächelt Europa, steigt das Investment in den USA. Und umgekehrt. Das Sehen und Verstehen von Risiko ist die Voraussetzung zum Erkennen und Nutzen von Chancen.

Die Bevölkerung verhält sich sehr ähnlich wie die Vorstände der Dax-30-Konzerne. Sie riecht, fühlt und spürt die tektonischen Verschiebungen auf der Welt, sie braucht keinen Geheimdienst um sich ihr Urteil über Trump, Putin und Erdogan zu bilden; sie benötigt keine volkswirtschaftliche Abteilung, um die Risiken der Nullzinspolitik zu verstehen. Sie weiß wie Risikoausgleich funktioniert, ohne je ein Seminar über Risk-Management besucht zu haben.

Je hochtouriger Trump dreht, desto vorsichtiger und bedachtsamer wird gewählt. So kam es jetzt in Frankreich zum Risikoausgleich: Der Wahlsieg Macrons und die Verrücktheiten, die uns täglich aus Washington erreichen, sind die zwei Seiten der einen Medaille. Auch die europakritischen Bewegungen haben nach dem Brexit-Votum ihre Tonalität verändert. Und da wo sie das nicht taten, wurden sie vom Wähler abgestraft. Die Front National erreicht in der neuen französischen Nationalversammlung nicht einmal mehr den Fraktionsstatus.

Eine Prognose sei gewagt: Dieses Ausbalancieren der globalen Risiken durch die Bevölkerung wird auch die Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl dominieren. Bei ruhigem Seegang gelten andere Kriterien: Wieviel Vision und Erneuerungskraft besitzt ein Kanzlerkandidat, würde dann gefragt. Doch bei orkanartigen Böen und globaler Tsunami-Gefahr suchen die Wähler jemanden, der das Steuerrad fest in der Hand hält und die Strudel der internationalen Politik kennt. Ein Neuling auf der bundespolitischen Bühne, noch dazu einer ohne Regierungserfahrung, hat in dieser Situation keine Chance.

Gleichzeitig entzieht die Gesellschaft den politischen Parteien auch weiterhin politische Energie. Aber diese Energie geht nicht einfach verloren. Es kommt nicht zur Entpolitisierung. Die Bevölkerung setzt lediglich das Vertrauen, dass bei CDU/CSU und SPD verloren gegangen ist, an anderer Stelle wieder ein, zum Beispiel bei den Nichtregierungsorganisationen, auch und insbesondere bei denen, die sich heute so leidenschaftlich und so professionell mit Verbraucherschutz beschäftigen. Es gibt also keinen Rückzug aus dem politischen, nur eine Neudefinition dessen, was die Bevölkerung unter politisch versteht.

Die Menschen sind eben nicht planlos verunsichert, sondern sind aus guten Gründen besorgt und verärgert – über die Raffzahnmethoden mancher Banken, über die noch immer große Intransparenz der Lebensmittelkonzerne, über die Riesenlücke, die bei der Deutschen Bahn AG zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft, über den Schindluder, den die Internetfirmen mit ihren Daten und Algorithmen treiben und über die Unverfrorenheit mit der manche private Krankenversicherer die Beiträge erhöhen.

In diesem Sinne ist die verunsicherte Gesellschaft eine mündige Gesellschaft, die ihre Interessen versteht und wahrnimmt. Unzufriedenheit ist so gesehen kein zu beklagender Endzustand, sondern Ausgangspunkt der Erneuerung. Schauen Sie mit Selbstbewusstsein und Stolz auf diese basisdemokratische Erhebung der Verbraucher, deren Teil Sie sind. Ihre Mission ist es, aus Betroffenen Beteiligte zu machen, denjenigen Stimme und Macht zu geben, die in der Wirtschaft allzu oft keine Stimme und erst recht keine Macht besitzen.

Weiter so, möchte ich daher den deutschen Verbraucherschützern zurufen. Oder um es mit Oscar Wilde zu sagen: „Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut wird, dann war’s noch nicht das Ende.“

Außerdem:
  • “Die Welt ist aus den Fugen”: Von der Macht der Finanzwirtschaft und der Ohnmacht der Politik – Denkraum, 27.08.2011
    • In einem brillanten politischen Essay, der die hoffnungslos verfahrenen Verhältnisse unserer heutigen Welt treffend beschreibt, diagnostiziert Tissy Bruns, damalige Chefkorrespondentin des Berliner Tagesspiegel und im Februar 2013 61jährig leider viel zu früh verstorben, eine Tragödie Shakespeareschen Ausmaßes: „Die Welt ist aus den Fugen – Im Krisensommer 2011 offenbart sich der desaströse Zustand unserer Demokratien. Eine übermächtige Finanzwirtschaft führt Politik und Eliten vor.”

Trumps „Flammenwerfer“ im Video: Senior Advisor Stephen Miller

Die FAZ nennt ihn „Trumps Flammenwerfer“, der Focus seinen „Brandbeschleuniger“. Stephen Miller gilt als der schärfste Hund unter den Chefberatern Donald Trumps im Weißen Haus. Schon im Wahlkampf sein Redenschreiber, war er, wie man inzwischen weiß, auch der wesentliche Autor von Trumps höchst umstrittener, mit alttestamentarischer Rhetorik angereicherter Rede zur Amtseinführung.

Am Wochenende gab Stephen Miller gleich mehreren US-Fernsehsendern Interviews, um die Aktionen seines Präsidenten zu verteidigen. Er tat dies mit einer Schärfe, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt und gestandenen amerikanischen TV-Moderatoren wie Joe Scarborough („Morning Joe“) im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache verschlug. Miller verteidigte Donald Trump nicht nur, er griff auch die Gerichte scharf an, die nicht befugt seien, den Einreisestop des Präsidenten zu blockieren, und verherrlichte die überwältigende militärische Macht der Vereinigten Staaten. Trump sei übrigens „einhundert Prozent korrekt“, ebenso wie sein Pressesprecher.

Die ersten Minuten des Morning-Joe-Videos vermitteln ein eindrucksvolles Bild dieses grässlichen Senior Advisors des US-Präsidenten – ein Zusammenschnitt von Interviewäußerungen Millers am Wochenende, gefolgt von der entsetzten Reaktion von Joe Scarborough und seinen Gästen in der heutigen Sendung.

Einer fand Stephen Miller allerdings richtig toll:

Congratulations Stephen Miller- on representing me this morning on the various Sunday morning shows. Great job!

— Donald J. Trump (@realDonaldTrump) February 12, 2017

Außerdem:

Gabor Steingart: Die USA nach Trumps Amtseinführung

In seinem heutigen Morning Briefing kommentiert Handelsblatt-Herausgeber und USA-Kenner Gabor Steingart die tolldreiste Rede Donald Trumps zu seiner Amtseinführung  (Video mit deutscher Übersetzung) und die nun entstandene politische Lage in den USA. Er beschreibt aber auch auch den Gegenwind, mit dem Trump im eigenen Land zu rechnen hat, und die Möglichkeit eines frühen Amtsenthebungsverfahrens.

„Was wir gestern von Donald Trump gehört haben, war keine präsidiale Rede, sondern eine president-donald-trumpKampfansage. Übellaunig im Ton. Eisenhart in der Sache. Change minus Hope. Donald Trump nutzte seine Antrittsrede zur Abrechnung mit dem politischen Establishment und lieferte dabei nichts Geringeres als ein populistisches Manifest.

Bisher hätten die Eliten sich immer nur selbst gefeiert, sagte er: „Ihre Siege waren nicht eure Siege, ihre Triumphe waren nicht eure Triumphe“. Diesmal werde die Macht nicht von einer Partei an die nächste, sondern von Washington direkt an das Volk übergeben. In dessen Auftrag will er seine Amerika-First-Politik durchsetzen, das heißt Fabriken „zurückholen“, den Islamismus„ausrotten“, das von Drogengangs angerichtete „Blutbad“ in den Städten beenden, und die Nato-Partner sollen für ihre Sicherheit künftig selbst zahlen. Die Trump-Agenda klingt nach Bürgerkrieg im Innern und Eiszeit in den auswärtigen Beziehungen. Nicht, dass er beides kaltblütig plant, aber er nimmt es in Kauf. Der neue Präsident liebt Streit, nicht Konsens. Er will nicht umarmen, er will zudrücken.

Der gestrige Tag war sein Tag, doch die Tage seiner Gegner kommen auch noch dran. Es sind insbesondere drei Herausforderer, die ihn noch vor dem nächsten Wahltag zu Fall bringen könnten.

Gegner Nummer 1: Das andere Amerika. Im Land baut sich eine Anti-Trump-Stimmung auf. Während zum Washingtoner Open-Air-Konzert am Vorabend der Amtseinführung nur etwa 10.000 Menschen kamen, standen in New York rund20.000 Menschen auf der Straße, um gegen Präsident Nummer 45 zu demonstrieren. Auf ihren Plakaten stand „Not My President“. Die Bewachung des Trump Towers an der Fifth Avenue, Ecke 56th Street, kostet den Staat derzeit rund eine halbe Million US-Dollar am Tag.

Gegner Nummer 2: Die Medien. Trump hat unter Verlegern, Produzenten, Filmemachern und Journalisten kaum Freunde. „CNN“, „Washington Post“, „New York Times“ und Hollywood können sich mit der eruptiven Persönlichkeit des neuen Präsidenten nicht anfreunden. Gegen diese Wand medialer Ablehnung wird Trump auf Dauer nicht antwittern können. Er hasst, sie hassen zurück. Er setzt die Agenda, und sie die ihre dagegen. Die Umfragewerte von Trump waren gestern die niedrigsten, die je am Tag einer Amtseinführung gemessen wurden.

Gegner Nummer 3: Das Parteiensystem. Washington reagiert allergisch auf den Außenseiter. Längst haben sich Demokraten und Republikaner zusammengetan, um die Kontakte des Trump-Teams nach Russland im Geheimdienstausschuss auf Capitol Hill zu untersuchen. Der republikanische Mehrheitsführer Paul Ryan sieht sich nicht als Trump-Unterstützer, sondern als Trump-Nachfolger. Er ist der Wolf, der sich das Schafsfell über die Ohren gezogen hat. Oder anders gesagt: Nicht nur Demokraten träumen von einem frühen Amtsenthebungsverfahren.

Amerika steht vor einer Periode neuerlicher Polarisierung. Die Großartigkeit, von der Trump so gern spricht, wird sich unter diesen Bedingungen nicht einstellen können. Ein eisiger Wind weht durch das Land. Die Dämonen des Bruderzwists sind unterwegs.“

Außerdem:
  • Trump: An American Horror Story – Project Syndicate Focus
    • „Get to grips with President Trump; Project Syndicate has published more than 100 articles exploring the implications of his presidency for politics, the economy, and world peace and security. They are all here.“
  • Kommentar zu Trumps Antrittsrede – Frankfurter Rundschau, 20.01.2017
    • „Donald Trump hat eine demagogische, eine verlogene Rede gehalten. Der Milliardär, der von der Politik der rabiaten Einkommensverteilung von unten nach oben profitierte und weiter profitiert, der sich weigerte Steuern zu zahlen, spielt sich auf als Robin Hood und erklärt: „Heute wird nicht die Macht einfach von einer Regierung auf eine andere übertragen oder von einer Partei auf eine andere Partei – heute übertragen wir die Macht von Washington D.C. und geben sie Euch zurück, dem amerikanischen Volk.“ Dieses „Wir“ ist Donald Trump, niemand sonst. Und das amerikanische Volk ist sein Volk. Das blonde, reiche Amerika, das um ihn herumsteht. Je weniger die Demagogen von ihren Versprechungen verwirklichen können, desto schärfer und aggressiver müssen sie reden. Diesen Weg wird Trump gehen. Er hat keine politische Agenda. Er will gewinnen. Sonst nichts.“
  • Der Imperator gibt kein Pardon – Kommentar von Stephan-Andreas Casdorff (Chefredakteur) – Tagesspiegel, 20.01.2017
    • „Donald Trumps erste Rede im Amt hat gezeigt, welcher Geist von jetzt an herrscht. Das Amerika, wie er es repräsentiert, kommt zuerst, immer und überall. Gegnern macht er Angst.“
  • Amerika kurz und klein geredet – Kommentar von Jochen Arntz (Chefredakteur Berliner Zeitung) – Kölner Stadt-Anzeiger, 20.01.2017
    • „Eine Rede gegen den eigenen Staat.“
  • Eine Gefahr für sein Land und die ganze Welt! – Kommentar von Elmar Theveßen – ZDF, 20.01.2017
    • „Kein Respekt vor seinen Vorgängern. Keine Demut vor der Aufgabe. Keine Kompromisse. „

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Sonia Mikichs cooler Kommentar zum Trump-Interview

Einen klugen und zugleich fetzigen Kommentar zum Trump-Interview mit der Bild-Zeitung ließ sich WDR-Chefredakteurin Sonia Mikich für die Tagesthemen einfallen. In wenigen Sätzen analysiert sie Trumps Versuch einer Neuerfindung von Politik als reines Dealmaking und kommt zu einer verblüffenden Schlussfolgerung: „Make Europe great again.“

Eine Kreuzung aus Nero und Dagobert Duck

Die Vereidigung von Donald Trump rückt näher und mit jedem Tag scheint der Rest der Welt zu hoffen, dass er doch noch zur Vernunft kommt. Doch auch in seinem jüngsten Interview zeigt er nur die Selbstverliebtheit eines Narzissten und Egomanen.

Ein Kommentar von Sonia Seymour Mikich, WDR

Bleiben wir nicht bei den Schlagzeilen stehen: Strafzölle für deutsche Autos, NATO obsolet, Brexit prima, Merkels Flüchtlingspolitik katastrophal. Nein, wer das ganze Interview liest, erlebt Widersprüche, Angeberei, verbale Erektionen und eine Gedankentiefe von höchstens 140 Zeichen. Halbwertszeit: ein Tag.

Das waren nicht Positionen eines Politikers, sondern die Selbstverliebtheit eines Narzissten von altrömischer Größe, eines Egomanen aus einem Comic. So ungefähr die Kreuzung aus Nero und Dagobert Duck.

Trump - typischer Gesichtsausdruck

Keine Ideale, keine Ideologie. Bis auf „Make America great again“ kennen wir Trumps Plan immer noch nicht. Und hoffen heimlich auf die Vernunft seines Teams. Der künftige Präsident der Weltmacht sagt dies und das und andersherum und immer ganz laut und schnell. Sein Anliegen wird immer deutlicher: die Politik zu entpolitisieren, aus ihr einen Deal, eine Transaktion zu machen. Was kostet was, wer zahlt wieviel, wer hat wovon mehr, wer weniger.

Europa muss Machtbewusstsein neu üben

Ob es um einen Golfplatz oder das westliche Verteidigungsbündnis geht: Die Zahl unter dem Strich zählt, und dies ist ein anderer Wert als für Europäer. Politik ist hierzulande ein mühseliges Aushandeln von verbindlichen Verträgen, Kompromisse finden, korrigieren und wieder von vorn. Nix davon beim neuen US-Präsidenten, das verhindert seine Eigenwahrnehmung.

Die Regierungen in aller Welt sollten also ihre Diplomaten fit machen für das ganz große Dealen. Wenn Interessensausgleich – zum Wohle vieler – zu einer naiven Idee von vorgestern gemacht wird, müssen wir in Europa Selbstbewusstsein, ja, Machtbewusstsein neu üben.

„Make Europe great again“ – und das passt sogar in einen Tweet.

Außerdem:
  • President Trump – ausgezeichnete Doku des amerikanischen TV-Senders PBS (Sendereihe „Frontline„) über den Werdegang und die Persönlichkeitsentwicklung Donald Trumps von seiner Kindheit bis heute. Insbesondere die langjährige, prägende Beziehung Trumps zu dem höchst umstrittenen New Yorker Anwalt Roy Cohn wird in der Doku eingehend beleuchtet.
    • „An examination of the key moments that shaped President-elect Donald Trump. Interviews drawn from The Choice 2016 with advisors, business associates and biographers reveal how Trump transformed himself from real estate developer to reality TV star to president.“
  • Amerika über allesTobias Fella – IPG Journal, 23.01.2017
    • „Donald Trumps „America first“ darf nicht als Isolationismus verstanden werden. Es ist viel schlimmer.“
    • „Die Welt des Präsidenten ist eine der Gegensätze: Es sind „wir oder sie“, es wird „gewonnen oder verloren“. Demnach muss die Rückerlangung von Amerikas Großartigkeit zu Lasten anderer gehen. Was die Folgen für die internationale Politik und Ordnung sind, ist nachrangig. – „America first“ darf aber nicht als Isolationismus missverstanden werden. Das Imperium bleibt, bloß seine Definition wird enger und seine Instrumente kruder – im Inneren wie im Äußeren. Wie im Wirtschaftsleben möchte Donald Trump seine Gegner auf allen Ebenen dominieren. Regeln dürften gebrochen und auch Kriege geführt werden, einzige Voraussetzung: sie rechnen sich. Dazu passt sein Bedauern, dass besiegte Länder heute nicht mehr ausgebeutet und behalten werden dürfen. Und wenn er seine Vorgänger kritisiert, dann fordert er nicht etwa weniger Engagement ein, sondern ein Mehr an Selbstsucht und Eigennutz. Im Fall von Libyen, so Kandidat Trump, „würde ich das Öl nehmen und den ganzen Kinderkram lassen. Ohne Öl, bin ich nicht interessiert“.

Wie die Demokraten Donald Trump besiegen wollen

Mit welchen Argumenten die Demokraten den voraussichtlichen republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump besiegen und als nächsten Präsidenten der Vereinigten Staaten verhindern wollen, kann man sehr schön an einer Serie von Tweets erkennen, mit der Elizabeth Warren, hochrespektierte demokratische Senatorin von Massachusetts und als „running mate“ von Hillary Clinton im Gespräch, gestern auf den Sieg Trumps bei den Vorwahlen in Indiana reagierte.

Elizabeth Warren ‏@elizabethforma  14 Std.

@realDonaldTrump is now the leader of the @GOP. It’s real – he is one step away from the White House.

Here’s what else is real: @realDonaldTrump has built his campaign on racism, sexism, and xenophobia.

There’s more enthusiasm for @realDonaldTrump among leaders of the KKK than leaders of the political party he now controls.

@realDonaldTrump incites supporters to violence, praises Putin, and is „cool with being called an authoritarian.“

@realDonaldTrump attacks vets like @SenJohnMcCain who were captured & puts our servicemembers at risk by cheerleading illegal torture.

And @realDonaldTrump puts out out contradictory & nonsensical national security ideas one expert called „incoherent“ & „truly bizarre.“

What happens next will test the character for all of us – Republican, Democrat, and Independent.

It will determine whether we move forward as one nation or splinter at the hands of one man’s narcissism and divisiveness.

I’m going to fight my heart out to make sure @realDonaldTrump’s toxic stew of hatred & insecurity never reaches the White House.

Das ist alles nett zusammengefasst, allerdings sind die von rational denkenden, politisch einigermaßen sachkundigen Menschen für absurd gehaltenen Standpunkte und Äußerungen Trumps in den USA bereits bestens bekannt, ebenso seine narzisstische Persönlichkeit, die wahrlich alles andere als „presidential“ ist.

Seinen eindrucksvollen Erfolg in den republikanischen Vorwahlen hat dies jedoch nicht im mindesten beeinträchtigen können. Trumps Wähler interessiert das alles nicht. Sie lieben und bewundern ihn genau so, wie er ist. So wie die Italiener lange Zeit Silvio Berlusconi toll fanden.

Während Trump im direkten Vergleich mit Hillary Clinton in den Umfragen bisher immer unterlegen war, gibt es inzwischen eine erste Umfrage zur Wahl im November, die Trump mit zwei Prozent Vorsprung vor Clinton ins Weiße Haus einziehen sieht. Hillary hat nämlich ein gravierendes Handicap: Viele Amerikaner mögen sie einfach nicht.

Was also, wenn es Trump tatsächlich gelingen sollte, der nächste Präsident der Vereinigten Staaten zu werden?

Dann werden, das sage ich hier voraus, seine angekündigten Erfolge nicht eintreten, sondern sich bald als Luftschlösser erweisen. „The Donald“ wird kläglich versagen. Wegen seiner absehbar nicht einzulösenden Versprechungen wird er sich binnen relativ kurzer Zeit so unbeliebt machen, dass man ihn alsbald wieder vom Hofe jagen wird. Gründe werden sich finden lassen.

Außerdem:
  • Donald Trump: Hat er eine Persönlichkeitsstörung? – Johannes Werner – GMX-Magazin, 03.05.2016
    • „Donald Trump präsentiert sich im Wahlkampf machthungrig, egozentrisch und rücksichtslos. Sein Verhalten ist unkalkulierbar und befremdlich. Seine Aussagen sind oft wirr und verstörend. Und statt Inhalten geht es Trump vorrangig um eines: sich selbst. Nach Meinung von Psychologen weist der republikanische Präsidentschaftskandidat eindeutige Merkmale einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung auf.“

Bizarre Pegida-Demo in Potsdam: 40 Demonstranten, 800 Polizisten

Eine skurille Pegida-Demonstration (genauer „Pogida“ wg. „Potsdam“) fand am gestrigen Dienstag  in Potsdam statt. Sie begann mit einer kurzen Kundgebung an der Glienicker Brücke, die jedoch im Lärm der Gegendemo des SV Babelsberg 03 mehr oder weniger unterging.Pogida-Demo Route

Die Pogida-Anmelder hatten ihre Aktion, die 9. dieser Art, mit der Befürchtung begründet, die aktuelle Asylpolitik könne die deutschen und europäischen Werte zerstören, daher müsse man „den Protest auf die Straße bringen“. Das Motto der Veranstaltung lautete: „Abendspaziergang für den Erhalt unserer Heimat.“ Denn, wie es in dem Aufruf hieß, „wir verlieren unsere Heimat Stück für Stück – als würde aus einem modrigen Dorftümpel ein stürmischer Ozean werden, der alles in sich verschlingt.“ Unsere Heimat ein „modriger Dorftümpel“ – welchem Pogida-Poeten mag dieses bemerkenswerte Bild eingefallen sein?

Als der „Abendspaziergang“ sich schließlich auf dem seeseitigen Gehweg der Berliner Strasse in Marsch setzte, wurden sage und schreibe 23 Demonstranten gezählt – am Ende sollen es ca. 40 gewesen sein. Um Krawalle zu verhindern, hatte Potsdams Polizeidirektor seinerseits 800 (!) Polizisten aus ganz Brandenburg aufmarschieren lassen, die unter anderem mit mehreren Wasserwerfern ausgestattet waren.

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Die Potsdamer Lokalpresse hatte bereits seit Tagen vor einem Verkehrschaos gewarnt, das jedoch allein dem völlig überdimensionierten Polizeiaufgebot geschuldet war. Die drei angemeldeten Gegendemonstrationen wurden weiträumig ferngehalten, zumal deren Teilnehmerzahl das Häuflein der 23 bis 40 Abendlandretter ca. um das Zwanzigfache übertraf.

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Nachdem sie sich in Bewegung gesetzt hatten, begannen die heimatliebenden Pegida-Leute, „wir sind das Volk“ zu skandieren und warnten vor der „Islamisierung Europas“. 

IMG_4056Sie mussten jedoch alle an einem beherzten Anwohner vorbei, der ihnen mit einem selbstgebastelten Megaphon gehõrig zusetzte, als er ihnen aus nächster Nähe zurief:IMG_4035

„Ihr seid nicht das Volk, Ihr seid des Volkes Schande!“ Wegen der höchst überschaubaren Zahl der Demonstranten muss er den Begriff „Volk“ dann wohl als unpassend empfunden haben, denn bald wandelte er seinen Slogan ab in „…. ein Häuflein Schande“.

Angesichts der mehrheitlich verdrießlich dreinblickenden Pogida-Anhänger gewann der Chronist jedenfalls den nachhaltigen Eindruck, dass diese Bewegung zumindest in Potsdam auf dem absteigenden Ast ist.

Außerdem:
  • Kulturbewahrer? – Kommentar von Henri Kramer – Potsdamer Neueste Nachrichten, 17.05.2016
    • „Pogida hat es bisher nicht geschafft, sich in Potsdam zu etablieren. Einer der möglichen Gründe: Stumpfsinn.“
    • „Sie wollen „unsere Kultur und unsere Werte“ retten, wie es die Potsdamer gegen die Islamisierung des Abendlandes vollmundig im sozialen Netzwerk „Facebook“ erklären. Für diesen hehren Anspruch wäre aber zunächst einmal ein simpler Kurs in deutscher Rechtschreibung angebracht, wie die aktuelle Einladung zum Pogida-Spaziergang am morgigen Mittwoch zeigt. Für das Rahmenprogramm folgt ein Satz, in dem so ziemlich jedes Wort falsch geschrieben ist: „Mit Musikalische Unterhaltung verschiedenen Redenern über Aktuelle Themen von Politik und Gesellschaft.“ (…)

      Lächerlich haben sich die Pogida-Fremdenfeinde zuletzt allerdings auch ohne ihre Aufzüge gemacht, etwa durch ein im Internet aufgetauchtes Telefonat, in dem der Pogida-Begründer und mehrfach vorbestrafte Gewalttäter Christian Müller unter anderem fantasierte, er sei an der Tötung von Osama bin Laden beteiligt gewesen. Bei so viel schon fast mitleiderregendem Stumpfsinn ist es kein Wunder, dass die Bemühungen der Chaos-Truppe, in Potsdam nennenswert zu mobilisieren, bisher gescheitert sind – was aber auch an einer Zivilgesellschaft liegt, die konsequent gegen die vermeintlichen Kulturbewahrer auf die Straße geht.“

Donald Trump und der republikanische Wähler

Der Erfolg eines Rechtspopulisten wie Donald Trump beruht letztlich auf der Mentalität seiner Anhänger. Trumps rüdes, selbstherrliches Auftreten als Ausdruck seiner narzisstischen Persönlichkeitsstruktur und die psychische Struktur seiner republikanischen Wähler passen zusammen wie ein Schlüssel zum Schloss.

Im amerikanischen Vorwahlkampf führt Donald Trump das Feld der republikanischen Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur in den Umfragen souverän an und hat gute Chancen, Präsidentschaftskandidat der Republikaner zu werden. [Nachtrag 25.02.2016: Inzwischen ist dies so gut wie sicher.] Wenn man sich einen seiner Wahlkampfauftritte anschaut, z.B. in Las Vegas am 21. Januar 2016, erlebt man einen schwer erträglichen Großkotz ohne jede substanzielle politische Kompetenz und fragt sich, wie es sein kann, dass dieser über alle Maßen egozentrische, rüpelhafte Phrasendrescher bei republikanischen Wählern soviel Anklang findet.

Donald Trump

Die Antwort liegt in der Persönlichkeit seiner Anhänger. Deren mentale Struktur ist so beschaffen, dass die zentrale Botschaft des New Yorker Immobilien-Tycoons bei ihnen einen Nerv trifft: die Rede vom Niedergang der amerikanischen Nation, die sich angeblich in einem katastrophalen Zustand befindet, und Trumps Versprechen, das Land wieder zu früherer Größe zurückzuführen, würde er als Präsident die Sache in die Hand nehmen.

Dieses Urteil vom Niedergang der USA nach 8 Jahren Obama-Regierung teilt ein großer Teil der republikanischen Wähler. Aber die Unzufriedenheit insbesondere mit den wirtschaftlichen Verhältnissen ist in den Vereinigten Staaten weit darüber hinaus verbreitet. Die Einkommen der Unter- und Mittelschicht liegen auf dem gleichen Niveau wie vor 10 Jahren, während die Reichen auch in Amerika immer reicher werden. Eine Vielzahl von Jobs sind verlorengegangen, weil zahlreiche Industriebetriebe ihre Produktion in Billiglohnländer verlagert haben. Obwohl die USA sich wirtschaftlich im Aufschwung befinden, mit 4,9 % die niedrigste (offizielle) Arbeitslosenquote seit vielen Jahren haben und militärisch achtmal so stark sind wie Russland, ist eine große Mehrheit der Amerikaner überzeugt, das Land sei „on the wrong track“. Daher ist der Ärger auf das gesamte politische Establishment groß. Für sehr viele Amerikaner ist „Washington“ zu einem höchst negativ besetzten Reizwort geworden, zum Sinnbild für das Versagen der handelnden Politiker auf breiter Front.

Daher der Wunsch nach einer starken Führungspersönlichkeit, die das Land wieder aufrichtet. Zu einer solchen politischen Idolfigur eignet sich Donald Trump hervorragend. Er ist reich und stellt sich als erfolgreicher Macher dar, der sich mit der Attitüde des knallharten Geschäftsmannes durchzusetzen versteht und am Ende immer das bekommt, was er haben will. Als Star einer Reality-Show („The Apprentice“) ohnehin eine Celebrity, tritt er mit einem grandiosen Selbstbewusstsein auf, bei dem Überheblichkeit, Herablassung und Arroganz kaum verborgen werden. Er scheint sich vor nichts und niemand zu fürchten, verachtet „political correctness“ und lebt ausschließlich nach seinen selbst gesetzten Maximen.

In seinem Verhalten spiegelt Trump die Gefühle und Einstellungen seiner Anhänger und macht sich zum öffentlichen Sprachrohr ihrer Frustration und Wut. Er sagt das, was sie denken, und er sagt es in eben jener Sprache und Form, in der sie ebenfalls empfinden. Differenziertere Analysen der realen Komplexität der politischen Lage kommen bei ihm nicht vor, er bietet ausschließlich die einfachen (Schein-) Lösungen an, die seine Wähler hören wollen.

Ezra Klein bringt es auf den Punkt: „The Donald Trump phenomenon is a riotous union of candidate ego and voter id.“ (Mit „ego“ ist das Freudsche „Ich“ gemeint, der bewusste Teil der Persönlichkeit, mit „id“ das Freudsche „Es“, der triebhafte Bereich. Man könnte also übersetzen: „Das Donald-Trump-Phänomen ist eine zügellose Vereinigung des Kandidaten-Ichs mit der triebhaften Sphäre der Wähler.“)

An der Wahrnehmung der Vereinigten Staaten als schwach ist die mentale Sphäre, die Psyche der Menschen, die dies so erleben, ebenfalls beteiligt. Häufig dürfte es sich um eine Projektion handeln: die eigene Person empfindet sich als machtlos in dem Bemühen, sich ein gutes Leben aufzubauen. Dieses frustrierende Gefühl der Unterlegenheit und Ohnmacht kann sodann auf das Land projiziert werden, in dem man lebt. Die Schuld an den eigenen Problemen wird auf die politischen Verhältnisse, auf den unbefriedigenden Zustand des Staates verschoben. Auf diese Weise muss man sich die eigene Machtlosigkeit nicht selbst anlasten. Der Wunsch nach einem starken Mann an dessen Spitze, nach einer Führerfigur, der die Fähigkeit zugetraut wird, mit einer heroischen Leistung das Land wieder aufzurichten, und mit der man sich daher bewundernd identifizieren kann, stellt die zugehörige kompensatorische Phantasie dar.

Es handelt sich gewissermaßen um einen Spezialfall der grundlegenden psychodynamischen Konstellation eines jeden begeisterten Anhängers oder Fans – von wem oder was auch immer: sei es ein Politiker, ein Guru, ein Fußballklub oder ein Gott, der verehrt wird. Das Verbundenheitsgefühl mit dem Objekt der Verehrung steigert das eigene Identitäts- und Selbstwertgefühl. Je schwächer dieses ausgeprägt ist, desto mehr kann dem Erleben von Zugehörigkeit zum bewunderten Objekt – als dessen begeisterter Anhänger – die Funktion zukommen, das Gefühl eigener Schwäche und Bedeutungslosigkeit auszugleichen.


„Nicht Donald Trump ist zu fürchten, sondern die breite Masse, die einem menschenverachtenden und tumben Seelenfänger nachläuft.“

Aus einem Leserbrief an den SPIEGEL


Trumps politische Agenda ist auf wenige rechtspopulistische Themen beschränkt: Unterbindung von Einwanderung, Stärkung des Militärs, Distanzierung von der politischen Klasse, dem „Establishment“. Die Frage, wie er sich die Lösung politischer Probleme im Einzelnen vorstellt, ist bei ihm äußerst unbeliebt und interessiert auch seine Anhänger nicht wirklich. Sie glauben an Donald Trump als Person. Wenn die Frage nach konkreten politischen Problemlösungen doch mal aufkommt, kann Trumps Antwort beispielsweise lauten,  dies sei von den dann gegebenen Umständen abhängig – als überaus erfolgreicher Geschäftsmann verstehe er sich darauf, vorteilhafte „Deals“ auszuhandeln. Als Präsident werde er es ähnlich machen. „Deal“ ist eines seiner Lieblingsworte – er hat sogar einen Bestseller geschrieben mit dem Titel „The Art of the Deal“. Im Wahlkampf ist seine bevorzugte Idee eines Deals der Bau einer riesigen Mauer an der Grenze zu Mexiko, um die illegale Einwanderung zu stoppen. Bezahlt werde die Mauer, dafür werde er sorgen, von Mexiko selbst.

Trump - typischer Gesichtsausdruck

Die Kampagne von Donald Trump ist durch und durch rechtspopulistisch, wobei eine Besonderheit sein raubeiniges, rüpelhaftes, manchmal vulgäres Auftreten ist. Es finden sich alle wesentlichen Bestandteile populistischer Demagogie (nachfolgende Darstellung unter Verwendung eines Wikipedia-Artikels):

  • Er stellt Themen in den Vordergrund, die bei nationalistisch gesinnten Amerikanern besonderen Anklang finden bzw. emotional hoch besetzt sind, und die sich gegen die politischen Gegner (bevorzugt gegen das Washingtoner Establishment) in Stellung bringen lassen, wie z.B. die illegale Einwanderung aus Mexiko und die angebliche militärische Schwäche der USA.
  • Er sieht Amerika in tiefer Krise und im Niedergang („doom and gloom“), und verspricht, es wieder zu alter Stärke und Größe zurückzuführen.
  • Für komplexe Probleme proklamiert er einfache Lösungen, die für politisch Ungebildete gut klingen, in der Realität aber nicht funktionieren („keine Muslime mehr ins Land lassen“).
  • Komplizierte Themen werden ungeachtet ihrer realen Bedeutung vermieden oder in ihrer Bedeutung heruntergespielt („Klimawandel“).
  • Komplexe Missstände werden Sündenböcken angelastet und diese diffamiert (bevorzugt Präsident Obama und andere führende Demokraten).
  • Trump gibt sich volksnah, ungeachtet seines Lebensstils als New Yorker Milliardär. Er vermittelt, dass er – im Gegensatz zu anderen „abgehobenen“, etablierten Politikern – die Sorgen und Nöte der amerikanischen Mittelklasse und des „kleinen Mannes“ nachempfindet, sie ernst nimmt und beseitigen wird.
  • Er präsentiert ein vollkommen vereinfachtes und verzerrtes Bild der Wirklichkeit, eben jenes Weltbild, das seine potenziellen Wähler aufgrund der oben beschriebenen emotionalen Dynamik teilen. Trump macht sich zum Sprachrohr dieser aggressiv getönten Perspektive und bietet mit einprägsamen Slogans einfachste Lösungen an, die oft unverholene Gewaltbereitschaft zeigen. Differenziertere und realistischere Darstellungen, die auch Zwischentöne beinhalten würden, werden vermieden. Es wird ausschließlich der Stammtisch bedient.

„Demagogie betreibt, wer (…) öffentlich für ein politisches Ziel wirbt, indem er der Masse schmeichelt, an ihre Gefühle, Instinkte und Vorurteile appelliert, sich der Hetze und Lüge schuldig macht, Wahres übertrieben oder grob vereinfacht darstellt, die Sache, die er durchsetzen will, für die Sache aller Gutgesinnten ausgibt, und die Art und Weise, wie er sie (…) durchzusetzen vorschlägt, als die einzig mögliche hinstellt.“

Martin Morlock: Hohe Schule der Verführung.
Ein Handbuch der Demagogie.
Econ Verlag, Wien/Düsseldorf 1977


Trump in FahrtAus heutiger Sicht verfängt dies alles wohl kaum bei der Mehrheit der Amerikaner. Wie wir wissen, ist die amerikanische Bevölkerung politisch tief gespalten in Anhänger der Republikaner, der „Grand Old Party“ (GOP), und der Demokraten. Letztere würden einen simplifizierenden Populisten wie Trump jedoch kaum wählen. Auch vielen differenzierter denkenden Republikanern ist er zuwider, obwohl sich das Parteiestablishment gerade für ihn zu erwärmen beginnt.

Die haarsträubende Vorstellung, dass Barack Obama in einem Jahr sein Amt an einen Rambo wie Donald Trump übergeben muss, wird daher vermutlich nur ein Alptraum bleiben.

Make America great again


„Es ist an der Zeit, Donald Trump ernst zu nehmen. Er ist der Anführer einer autoritären Bewegung voller Hass – und der aussichtsreichste Präsidentschaftsbewerber seiner Partei. Sein Amerika wäre zum Fürchten.

Neu­lich sprach Do­nald Trump über Ame­ri­can Foot­ball. Kein an­de­res Spiel ver­kör­pert den Cha­rak­ter sei­nes Lan­des bes­ser, es geht um Raum­ge­winn, Er­obe­rung, wer sie­gen will, muss hart und furcht­los sein. Wer Angst hat, vom Geg­ner in vol­lem Lauf nie­der­ge­streckt zu wer­den, hat ver­lo­ren. „Ihr wisst, ich habe das Spiel ge­liebt“, sag­te Trump vor sei­nen An­hän­gern in Reno, Ne­va­da. Jetzt aber schal­te er kaum noch ein. „Das gan­ze Spiel ist im Arsch.“Spiegel-Titel 5-2016

Im­mer mehr Stu­di­en hat­ten zu­letzt be­wie­sen, welch ver­hee­ren­de Fol­gen die vie­len „Tack­les“ ha­ben, bei de­nen die Spie­ler mit dem Kopf zu­erst in den Geg­ner flie­gen, um die­sen zu stop­pen: Ge­hirn­t­rau­ma, De­pres­si­on, Selbst­mord. Neue Re­geln wur­den er­las­sen, die kras­ses­ten Fouls wer­den jetzt et­was här­ter be­straft.

Auf der Büh­ne trau­ert Trump „die­sen groß­ar­ti­gen Tack­les, die­sen bru­ta­len Mit-dem-Kopf-vor­aus-Tack­les“, nach. Er wie­der­holt den Be­griff und lässt da­bei sei­ne Fäus­te auf­ein­an­der­pral­len. „Bru­ta­le Tack­les!“ Beim Wort „bru­tal“ wöl­ben sich sei­ne Lip­pen vul­gär nach vorn. „Es war wun­der­bar, da zu­zu­gu­cken.“

(Beginn der Spiegel-Titelgeschichte 5/2016: „Amerikas Hetzer Donald Trump“)


„In den USA Donald Trump, bei uns Frauke Petry – das sind pathologische Symptome. Die liberale Demokratie liegt ermattet darnieder. Leute wie Trump und Petry sind die Dämonen, die ihr Schlaf gebiert. Keine Parole ist zu platt, das ist die Erkenntnis der bösen Populisten von rechts.

Sie sind nicht dumm. Sie haben nur kein Gewissen.“

Jakob Augstein, „Nackte Kanonen“ – Spiegel Online, 01.02.2016


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Gabor Steingart: „Weltkrieg III.“

In seinem heutigen „Morning Briefing überrascht Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart aus Anlass des Pariser Massakers mit einer bemerkenswerten, vom journalistischen Meinungs-Mainstream abweichenden Analyse der Hintergründe des islamistischen Dschihadismus und Terrorismus und der jetzt gebotenen Denkansätze und Maßnahmen. – (Hervorhebungen im Original.)

„In unseren Albträumen hatten wir uns den nächsten Weltkrieg als Atomkrieg vorgestellt, geführt mit Interkontinentalraketen. Doch die Wirklichkeit hält sich nicht an unsere Albträume.

Die neuen Weltkrieger tragen keine Uniform, sondern Jeans. Sie zünden keine Atomsprengköpfe, sondern die Bombengürtel an ihren Hosenbünden. Sie vernichten keine Landstriche, sondern vor allem unser Gefühl von Freiheit und Unbeschwertheit.

Es geht nach dem Massaker von Paris nicht mehr um Einzeltäter. Wer „Terroranschlag“ sagt, will verharmlosen. Die Situation ist fataler und größer, als es die Betroffenheitsadressen der Regierungschefs vermuten lassen. Wir sind nicht nur Opfer eines Terroranschlags, wir sind auch Kriegspartei.

Die Attentäter vom vergangenen Freitag sind für ihre menschenverachtenden Taten allein verantwortlich und müssen mit der Härte des Rechtsstaats zur Rechenschaft gezogen werden. Aber für das feindliche Klima zwischen den Kulturkreisen trägt der Westen eine Mitschuld.

Von den 1,3 Millionen Menschenleben, die das Kriegsgeschehen von Afghanistan bis Syrien mittlerweile gekostet hat, bringt es allein der unter falschen Prämissen und damit völkerrechtswidrig geführte Irak-Feldzug auf 800.000 Tote. Die Mehrzahl der Opfer waren friedliebende Muslime, keine Terroristen. Saddam Hussein war ein Diktator, aber am Anschlag auf das World Trade Center war er nachweislich nicht beteiligt. „Diejenigen, die Saddam 2003 beseitigt haben, tragen auch Verantwortung für die Situation im Jahr 2015“, sagt mittlerweile selbst Tony Blair, einst der willige Krieger an der Seite der USA.

Der Wissenschaftler Samuel Huntington hatte ihm und den anderen westlichen Führern schon vor 9/11 gesagt, dass es niemals gelingen werde, eine Gesellschaft von einem Kulturkreis in einen anderen zu verschieben. Amerikaner und Briten versuchten genau das, als sie mit dem Schlachtruf vom „Regime-Change“ in Bagdad einfielen. Sie kämpften für westliche Werte, indem sie diese diskreditierten. Sie riefen „Freiheit“ und schufen eine Welt in Unordnung.

„Wir werden schonungslos sein“, versicherte auch jetzt wieder ein versteinerter französischer Präsident und schickte in der Nacht von Sonntag auf Montag seine Luftwaffe nach Syrien, um Stellungen des Islamischen Staates zu bombardieren. Ein Herausgeber der „FAZ“ wünscht sich auch an der Spitze der deutschen Regierung „ein hartes Gesicht“. Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner fordert eine „Radikalisierung der bürgerlichen Mitte“.

Doch der Automatismus von Härte und Gnadenlosigkeit, das vorsätzliche Nicht-Verstehen des anderen, die feurigen Reden an das jeweils heimische Publikum, die schnell in Marsch gesetzten Bombergeschwader haben uns in diesem Kampf der Kulturen dahin gebracht, wo wir heute stehen. So beendet man den Terror nicht, sondern facht ihn weiter an. So schafft man keinen Frieden, so züchtet man Selbstmordattentäter. Die bürgerliche Mitte unseres Landes sollte sich nicht radikalisieren, sondern sich ihrer vornehmsten Tugenden erinnern: Besonnenheit und Friedfertigkeit. Mehr Verantwortung übernehmen, das kann nach den Anschlägen von Paris nur mehr Nachdenklichkeit bedeuten. Militärs und Geheimdienste müssen ihre Arbeit tun, aber die Politik und die Gesellschaft ihre auch.

Die einzelnen Terroristen sind in ihrer Verblendung für Obama, Merkel und Hollande nicht erreichbar, doch ihre Hintermänner, Financiers und Verbündeten sind es sehr wohl. Die Schlüsselwörter der kommenden Monate dürfen dann aber nicht Kampf oder Kapitulation lauten, sondern Ordnung, Respekt und Moderation. Nicht aus Liebe zum Islam, sondern aus Liebe zu uns und unseren Familien. Es gibt Alternativen zur militärischen Eskalation, die unserem Land bekömmlicher sind. Deutschland braucht jetzt kein hartes Gesicht an der Spitze, sondern einen kühlen Kopf.“

Außerdem:
  • Dritter Weltkrieg? Geht’s noch? – Kommentar von Matthias Nass – Zeit Online, 24.02.2016
    • „Als wäre der Krieg in Syrien nicht schlimm genug, fantasieren manche Blätter bereits eine weltweite Katastrophe herbei. Mit einem Weltkrieg spielt man doch nicht.“
  • Stell dir vor, es gibt Krieg… – Clemens Wergin – Welt am Sonntag, 21.02.2016
    • „Ein militärischer Konflikt zwischen Russland und Amerika? Er schien lange undenkbar. Doch das syrische Pulverfass enthält alle Zutaten für ein Katastrophen-Szenario. Strategen spielen mittlerweile schlimmstmögliche Wendungen durch.“
  • Im Weltkrieg – Kommentar von FAZ-Mitherausgeber Berthold Kohler zu den Pariser Anschlägen – FAZ, 16.11.2015
  • Die Botschaft von Paris: Nicht unterwerfen, sondern kämpfen – Kommentar von Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner – Welt, 15.11.2015
  • Die Logik des Terrors: Ausweitung der Kriegszone – Kommentar von Wolfgang Sofsky – Neue Zürcher Zeitung, 16.11.2015
    • „Mit geringstem Aufwand an Waffen und Personal die maximale Zerstörung erzielen – das ist die ebenso grausame wie banale Rationalität der Kriegstaktik, die sich in den Pariser Terroranschlägen zeigt.“
  • Samuel P. Huntington (Wikipedia)
  • Islamischer Think Tank gegen den Islamismus: die Quilliam Foundation – Denkraum, 20.03.2011
  • Was verboten, gestattet oder Pflicht ist: Islamgelehrte widerlegen ISIS-Doktrin – Denkraum, 07.10.2014
    • Ausgehend von der Kritik sunnitischer Gelehrter an der ISIS-Version des Islam habe ich in diesem Beitrag die psychischen Motive beschrieben, die junge Männer für die Propaganda der radikalen Islamisten so anfällig machen:
    • “[…] der Wunsch nach klaren, eindeutigen Regeln, an denen man sich ambivalenzfrei orientieren kann; nach religiösen Vorschriften, die fortwährende individuelle Entscheidungen ersetzen, wie sie beim mühsamen, selbstverantwortlichen Aufbau eines erfolgreichen Lebenswegs in der komplexen Wirklichkeit kapitalistischer Leistungsgesellschaften erforderlich sind; statt Konkurrenz und Wettbewerb klare Freund-Feind-Verhältnisse und ein brüderlich-kameradschaftliches Wir-Gefühl im Kreise Gleichgesinnter; vor allem aber das Versprechen, das bisherige Ohnmachtserleben hinter sich zu lassen und stattdessen an kollektiver Machtausübung teilzuhaben, ja im Kampf gegen (angebliche) Feinde zum Helden werden zu können. All dies abgesegnet von einer Illusion – der Phantasie eines allmächtigen, väterlichen Gottes als höchster Autorität: auch die brutalsten Grausamkeiten werden im Namen Allahs begangen, der diesen Weg belohnen wird, so glaubt man, und sei es im paradiesischen Jenseits nach dem Märtyrertod.”
  • Warum schweigen die Lämmer? Demokratie, Psychologie und Empörungsmanagement – Vortrag am 22.06.2015 von Prof. Rainer Mausfeld (Uni Kiel)
    • In diesem hochinteressanten Vortrag rechnet Prof. Mausfeld u.a. vor, wie viele zivile Opfer die Vereinigten Staaten in den seit dem II. Weltkrieg von den USA geführten Kriegen und Militäreinsätzen zu verantworten haben: 20 – 30 Millionen.

Die gegenwärtige Debatte innerhalb der europäischen Linken…

… über die zukünftige Organisation Europas, über die EU, über eine oder keine gemeinsame Währung, die notwendiger ist denn je, wird im neuen deutschland seit einiger Zeit in einem Dossier dokumentiert:

Wie viel linke Verankerung ist innerhalb des Rahmens möglich, den andere gesetzt haben? Beiträge zur Debatte über und aus SYRIZA, die Grenzen des Regierens, den Charakter der EU und die deutsche Linke.

Gestern veröffentlichte das „nd“ ein Interview mit Oskar Lafontaine zu den unterschiedlichen inhaltlichen Positionen innerhalb der europäischen Linken. Da dieses Gespräch einen interessanten Einblick in die derzeit laufende Debatte vermittelt, dokumentiert der Denkraum es mit einigen Erläuterungen.

»Ein Währungssystem ist keine Ideologie«

Oskar Lafontaine über linke Auswege aus der Eurokrise, die Debatten mit Yanis Varoufakis und europäischen Pragmatismus. 

In der Linken wird weiter über mögliche Wege in ein solidarischeres Europa diskutiert. Ob dabei ein »Plan B« für die Eurozone die richtigen Antworten geben kann? Inzwischen gibt es sogar mehrere Initiativen für Konferenzen, auf denen die Kritiker der Krisenpolitik über Alternativen beraten wollen.

Herr Lafontaine, was ist aus dem Projekt zu einem internationalen Gipfel für einen Plan B für Europa geworden?

Oskar Lafontaine: Wir wollen in der europäischen Linken eine Diskussion darüber führen, wie man die europäische Idee und damit den europäischen Zusammenhalt retten kann. Dazu werden viele Vorschläge gemacht. Mit geht es vor allem um ein Währungssystem, das allen Staaten die Möglichkeit einer guten wirtschaftlichen Entwicklung lässt. Das gegenwärtige Währungssystem funktioniert nicht. Der Süden Europas wird deindustrialisiert und kein überzeugter Europäer kann diesem Prozess tatenlos zu sehen.

Sie haben diesen Gipfel gemeinsam, unter anderem mit Yanis Varoufakis, vorgeschlagen. Nun sagt der frühere griechische Finanzminister, er sei mit dem Begriff »Plan B« nicht glücklich und stimme mit Ihnen auch nicht darin überein, dass man auf ein Ende der Eurozone hinarbeiten solle.

Unseren Aufruf hat er auch unterschrieben. Es gibt Diskussionen darüber, wie ein anderes Währungssystem zu gestalten ist. Ich zum Beispiel bin gegen Eurobonds und eine Bankenunion, wie sie Varoufakis jetzt vorgeschlagen hat. Eurobonds sind überholt, weil es mittlerweile einen Europäischen Schuldenfonds gibt. Und der Bankenunion können wir nicht zustimmen.

Warum nicht?

Die Kleinsparer in der Bundesrepublik können nicht für Risiken haften sollen, die von europäischen Bankkonzernen beim Spekulieren aufgehäuft wurden.

Was sagt Varoufakis zu Ihrer Position?

Ich habe ihn gebeten, seine Argumente gegen das Europäische Währungssystem EWS zu präzisieren. Als Finanzminister hatte er die Kontrolle über die Zentralbank, einen Schuldenschnitt und die Vorbereitung einer Parallelwährung vorgeschlagen. Das ginge alles innerhalb des EWS.

Sie haben den Euro für gescheitert erklärt. Varoufakis sagt, wir sollten die Eurozone reparieren. Das klingt nach grundlegendem Dissens.

Die Eurozone reparieren wollen wir alle. Wir müssten aber darüber reden, was konkret getan werden kann. Ich plädiere dafür, das Europäische Währungssystem wieder zu aktivieren. Es existiert ja noch, Dänemark nimmt derzeit zwar als einziges Land am Wechselkursmechanismus teil – aber es geht ihm wirtschaftlich ausgezeichnet.

Was hätten die anderen Länder von Ihrem Vorschlag?

Staaten wie Griechenland zum Beispiel, die in einer schweren Krise stecken, hätten wieder die Möglichkeit, ihre Währung abzuwerten. Wechselkursänderungen sind der einzige Weg, um die riesigen wirtschaftlichen Ungleichgewichte wieder zu beseitigen. Das Europäische Währungssystem hat lange Jahre besser funktioniert als der Euro.

Sie haben den Euro für gescheitert erklärt.

Viele, die sich an der Diskussion beteiligen, verwechseln das Währungssystem mit einem Geldstück. Ein Währungssystem ist viel umfassender, es bestimmt im Grunde genommen die Bedingungen, unter denen die Volkswirtschaften existieren. Deshalb ist mein Vorschlag wohl auch auf die Formel verkürzt worden, Griechenland solle aus dem Euro austreten.

Das stimmt so nicht?

Ich habe vorgeschlagen, Griechenland die Möglichkeit einer eigenen Währung einzuräumen, aber mit der entscheidenden Bedingung, dass die Europäische Zentralbank diese Währung stützt. Griechenland hätte also eine eigene Währung und eine eigene Zentralbank, bliebe aber im europäischen Währungsverbund. Es würde wieder die Möglichkeit der Abwertung bestehen – und das ist die beste Medizin, um eine nicht mehr konkurrenzfähige Volkswirtschaft wieder lebensfähig zu machen.

Griechenland muss Lebensmittel und Energie importieren, es hat kaum eine Exportwirtschaft. Mit einer Abwertung würden die Einfuhren teurer. Die soziale und ökonomische Krise würde sich verschärfen.

Sie übersehen das entscheidende Element meines Vorschlages. Wenn die Europäische Zentralbank die Abwertung einer eigenen griechischen Währung moderiert, besteht auch keine Gefahr, dass diese Währung ins Bodenlose stürzt. Es gibt aber auf der Welt funktionierende Beispiele, dass auch ohne die Unterstützung einer starken Zentralbank Abwertungen Wunder bewirken. Beispiele sind Island oder Argentinien.

Die SYRIZA-Abspaltung Laiki Enotita hat mit dem Ziel Grexit bei den Neuwahlen nicht gepunktet. Die Menschen wollen das einfach nicht.

Das sollte uns nicht davon abhalten, Vorschläge zu machen, wie der europäische Zusammenhalt zu retten ist. Wir sind allerdings in einem demokratischen Dilemma: Wenn schon Politiker Währungssysteme nicht verstehen, und Äußerungen auch aus den Reihen der Linkspartei deuten darauf hin, wie will man dann ein Währungssystem einer Volksabstimmung unterwerfen?

Angela Merkel sagt: Scheitert der Euro, dann scheitert Europa. Das erinnert mich an die derzeit geführte Debatte in der europäischen Linken, in der es nicht selten nur um ein Zahlungsmittel geht. Reicht es denn, sich über ein Währungssystem Gedanken zu machen, wenn man über die Zukunft der europäischen Integration reden will?

In der linken Diskussion werden auch öffentliche Investitionen und die Bekämpfung von Lohndumping in Europa gefordert, ebenso eine gesamteuropäische Schuldenkonferenz. Richtig ist aber, die europäische Idee lebt nicht nur von ökonomisch-technischen Voraussetzungen, sondern sie muss kulturell vermittelt werden. Das passiert aber nicht, es wird nicht aufeinander Rücksicht genommen. Die Flüchtlingskrise ist das beste Beispiel.

Inwiefern?

Die Kanzlerin, die schon in der Griechenlandfrage die anderen Europäer düpiert hat, agierte ohne Abstimmung, als sie die Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland ließ. Jetzt wundert sie sich, dass in europäischen Hauptstädten keine Bereitschaft besteht, ihr zur Hilfe zu kommen. Sie muss begreifen, dass man Europa nicht aus Berlin regieren kann. Oder um es mit Thomas Mann zu sagen: Wir brauchen ein europäisches Deutschland und kein deutsches Europa.

Sie haben gesagt, der entscheidende Fehler der Währungsunion war, dass ihr keine politische Union vorausging. Wäre es da nicht logisch, jetzt für diese politische Union zu kämpfen, statt in der Geschichte zurückzuspringen?

Das Europäische Währungssystem ist keine Rückkehr zum Nationalstaat, wie zu lesen war. Mich hat das Argument sehr überrascht. Denn mein Vorschlag zielt darauf, den deutschen Exportnationalismus einzudämmen – und zwar auf europäischer Ebene. Richtig ist allerdings auch, dass es manchmal sinnvoll sein kann, wenn man Zuständigkeiten, die auf eine höhere staatliche Ebene übertragen wurden, wieder auf nächst niedere Ebene zurücküberträgt. Ich will ein simples Beispiel geben. Wir hatten hier im Saarland einen landesweiten Abfallbeseitigungsverband. Es hat sich dann aber als sinnvoll erwiesen, die Abfallbeseitigung auch wieder in kommunale Hände zu legen. Das ist eine Frage des Pragmatismus. Und der sollte auch auf europäischer Ebene herrschen. Ein Währungssystem ist ein dienendes Instrument, keine Ideologie.

Mit Oskar Lafontaine sprach Tom Strohschneider.

Links:

  1. http://www.neues-deutschland.de/artikel/987141.da-widerspreche-ich-oskar-lafontaine.html

EWS, Eurobonds, Bankenunion (aus dem „neuen deutschland“)

Das Europäische Währungssystem EWS wurde 1979 als System fester Wechselkurse innerhalb der EG errichtet; ihm gehörten die Zentralbanken aller Mitgliedsländer der Europäischen Union an. Das System sollte dazu beitragen, eine größere wirtschaftliche Stabilität, besonders bezogen auf Preisniveau und Wechselkurse zu schaffen, den Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr zu erleichtern sowie über eine gemeinsame Währungspolitik zu einer gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzpolitik zu gelangen. Wesentliche Elemente des EWS waren die Schaffung des ECU als Europäische Rechnungs- und Währungseinheit sowie ein Wechselkurs- und Interventionsmechanismus. Nach der Einführung des Euro und der Errichtung der Europäischen Zentralbank 1999 leistet das EWS II die Anbindung der Währungen der noch nicht an der Währungsunion teilnehmenden EU-Staaten an den Euro.

Offener Brief an Merkel: Ökonomen fordern Abkehr von Spardiktat

In einem vom Tagesspiegel veröffentlichten Offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel fordern fünf renommierte Ökonomen eine grundlegende Korrektur der Sparpolitik, die Griechenland von den europäischen Institutionen und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) aufgezwungen wurde.

Während der IWF inzwischen einräumt, dass die rigide Austeritätspolitik der griechischen Wirtschaft schweren Schaden zugefügt hat, und IWF-Chefin Christine Lagarde jetzt auch einen Schuldenschnitt für Griechenland fordert, stemmen sich weite Teile der CDU/CSU, aber auch mehrere nord- und osteuropäische Euro-Länder, die ähnliche „Anpassungsprogramme“ durchleiden mussten, gegen erleichterte Bedingungen für die Griechen.

Die fünf Ökonomen sind

  • Heiner Flassbeck, ehemaliger Staatsekretär im Bundesfinanzministerium und Chefvolkswirt der Welthandels- und Entwicklungskonferenz Unctad,
  • Thomas Piketty, Professor für Wirtschaft an der Paris School of Economics
  • Jeffrey D. Sachs, Professor für Nachhaltige Entwicklung, Professor für Gesundheitspolitik und Management und Direktor des Earth-Institute an der Columbia University, New York
  • Dani Rodrik, Ford-Stiftungs-Professor für Internationale Politische Ökonomie an der Kennedy School, Harvard
  • Simon Wren-Lewis, Professor für Wirtschaftspolitik, Blavatnik School of Government, Oxford University

Die Wirtschaftswissenschaftler argumentieren, das Spardiktat funktioniere einfach nicht. Europas finanzielle Forderungen hätten

„die griechische Wirtschaft zu Fall gebracht, Massenarbeitslosigkeit und den Zusammenbruch des Bankensystems verursacht und die Schuldenkrise deutlich verschärft.“  

Die Serie der sogenannten „Anpassungsprogramme“ habe

„Auswirkungen, die man seit der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1933 in Europa nicht mehr gesehen hat. Die Medizin, die in Berlin und Brüssel zusammengebraut wird, ist schlimmer als die Krankheit selbst.“ 

Die Wissenschaftler fordern Bundeskanzlerin Merkel und die Troika auf, diesen Kurs zu korrigieren, um weitere Schäden zu vermeiden.

„Momentan wird die griechische Regierung dazu gedrängt, sich einen Revolver an die Schläfe zu halten und abzudrücken. Doch mit der Kugel wird nicht nur Griechenlands Zukunft in Europa getötet. Die Kollateralschäden werden auch die Eurozone als Leuchtturm von Hoffnung, Demokratie und Wohlstand zerstören. Die Folgen werden auf der ganzen Welt zu spüren sein.“

Bei der Gründung von Europa in den fünfziger Jahren habe das Fundament darauf beruht, Schulden zu streichen – „vor allem die deutschen Schulden“. Das sei ein großer Beitrag zum Wirtschaftswunder und zum Frieden der Nachkriegszeit gewesen. Heute müsse man die griechischen Schulden restrukturieren und senken, denn die dortige Wirtschaft brauche „Raum zum Atmen, um sich zu erholen“. Griechenland müsse erlaubt werden, seine reduzierten Schulden über einen langen Zeitraum zurückzuzahlen.

„Der richtige Zeitpunkt, die gescheiterte Sparpolitik zu überdenken, ist jetzt. Dabei müssen die griechischen Schulden zum Teil erlassen werden und gleichzeitig die dringend benötigten Reformen in Griechenland beschlossen werden.“

Die Ökonomen appellieren an die Bundeskanzlerin,

„die lebenswichtige Führungsrolle für Griechenland, Deutschland und die Welt zu übernehmen. Ihre Taten in dieser Woche werden in die Geschichtsbücher eingehen. Wir zählen auf Sie für mutige und großzügige Schritte auf Griechenland zu – Sie werden Europa auf Generationen dienen.“

Außerdem:
  • Der Offene Brief ist auch in anderen Ländern und Sprachen erschienen. Eine Auswahl findet sich auf flassbeck-economics.

Kern der Kritik des Feuilletonchefs ist die These, als Wissenschaftler habe man neutral zu bleiben und sich nicht in politische Diskussionen einzumischen. Denn dann werde man zum Aktivisten, und das vertrage sich nicht mit der Rolle eines Wissenschaftlers. (Auf diese Beiträge des Herrn Kreye werde ich noch gesondert eingehen. MW)

  • Was jetzt verloren istHeiner Flassbeck – Flassbeck-economics, 8. Juli 2015
    • „Menschen wie ich, die die Hoffnung auf ein wenig mehr Vernunft nicht so schnell aufgeben wollen, hatten es für möglich, wenngleich nicht für sehr wahrscheinlich gehalten, dass es in letzter Minute doch noch einen für Griechenland erträglichen Kompromiss geben wird. Danach sieht es jetzt nicht mehr aus. „Sie wollen eine bedingungslose Kapitulation“, schreibt eine Athener Zeitung heute, und das trifft den Nagel auf den Kopf. Die Gläubiger und vorneweg wieder Deutschland wollen Griechenland endgültig in die Knie zwingen, eine neue willfährige Regierung einsetzen oder den Austritt des Landes aus der Europäischen Währungsunion mit der Gewalt der Europäischen Zentralbank durchsetzen.“