Am 4. Oktober 2017 erschien in der Online-Ausgabe des traditions- und einflussreichen US-amerikanischen Magazins „The New Yorker“ ein eindrucksvoller Kommentar des ehemaligen Chefredakteurs der Zeitschrift, Jeffrey Frank, über den grundlegenden Unterschied der politischen Denkweisen und Kommunikationsstile Donald Trumps im Vergleich zu früheren amerikanischen Präsidenten, sowie über die gravierenden Negativentwicklungen und Gefahren, die Trumps Politikstil mit sich bringt. Diesen aus meiner Sicht sehr lesenswerten Beitrag habe ich für den „Denkraum“ übersetzt.
Trump und die Kunst der irrationalen Provokation
Einige Tage nach dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima sinnierte ein Redakteur der Herald Tribune in einem Leitartikel über die „noch kaum zu glaubende Tatsache“, dass ein „kleines Gerät“, auf eine „dicht bevölkerte Stadt“ abgeworfen, „das zweifellos größte in einem einzigen Augenblick vollzogene Massaker in der ganzen Menschheitsgeschichte“ bewirkt hatte. Von dieser Atombombe und drei Tage später noch einer zweiten auf Nagasaki wurden mehr als hunderttausend Menschen getötet, die meisten von ihnen Zivilisten. Ein dritter Bombenabwurf war bereits vorbereitet, wurde aber von Präsident Harry Truman abgesagt. Der frühere Vizepräsident Henry Wallace, damals Handelsminister, erinnerte sich später, dass Truman ihm gesagt hatte, „der Gedanke, weitere hunderttausend Menschen auszulöschen, sei einfach zu grauenvoll. Die Vorstellung, ‚all those kids‘, wie er sich ausdrückte, zu töten, war ihm zuwider.“
Etwa sieben Jahre später, im Jahr 1952, wurde in der Nähe des Eniwetok-Atolls im Pazifischen Ozean die erste Wasserstoffbombe getestet, fast fünfhundert mal so stark wie die Bombe auf Hiroshima. Truman sprach diesen Atomwaffentest in seiner letzten Botschaft zur Lage der Nation an und sagte, dass „der Mensch in einem zukünftigen Krieg in der Lage wäre, Millionen von Menschenleben auf einen Schlag auszulöschen, die großartigen Städte unserer Welt zu vernichten, die kulturellen Errungenschaften der Vergangenheit auszuradieren – also die Struktur einer Zivilisation zu zerstören, die nach und nach mühsam von Hunderten von Generationen aufgebaut wurde. Ein solcher Krieg ist für vernünftige Menschen kein mögliches Mittel der Politik.“ Dies ist seither die rationale Auffassung aller amerikanischen Präsidenten gewesen.
„The war of the future would be one in which man could extinguish millions of lives at one blow, demolish the great cities of the world, wipe out the cultural achievements of the past—and destroy the very structure of a civilization that has been slowly and painfully built up through hundreds of generations. Such a war is not a possible policy for rational men.“ Harry S. Truman, 7. Januar 1953
Ob Donald Trump, der gegenwärtige amerikanische Präsident, nun ein rational denkender Mann ist oder nicht, jedenfalls drohte er kürzlich, den größten Akt einer Massentötung in der menschlichen Geschichte zu begehen, weit über Hiroshima hinausgehend. Das war am Morgen des 19. September bei den Vereinten Nationen, einer Organisation, die im letzten Jahrhundert gegründet worden war, damit, wie Trumps Redenschreiber es ausdrückte, „verschiedene Nationen kooperieren könnten, um ihre Souveränität zu schützen, ihre Sicherheit zu bewahren und ihren Wohlstand zu fördern.“ Um genau zu sein, waren Trumps Worte; „Die Vereinigten Staaten haben große Kraft und Geduld, aber wenn sie gezwungen sind, sich selbst oder ihre Verbündeten zu verteidigen, werden wir keine andere Wahl haben als Nordkorea vollständig zu zerstören“, worauf er hinzufügte, dass „Rocket Man“ – so nannte er Nordkoreas Staatschef Kim Jong Un – „auf einer Selbstmord-Mission für sich selbst und für sein Regime ist.“
Seitdem hat Trump Spieler der National Football League (sowie die Liga selbst) wegen friedlicher Proteste gegen Rassendiskriminierung beleidigt; er unterstützte einen Senatskandidaten in Alabama, der die Wahl verlor, und löschte dann die Tweets, in denen er seine Unterstützung zum Ausdruck gebracht hatte; und am vergangenen Wochenende verunglimpfte er den Bürgermeister von San Juan, der Hauptstadt von Puerto Rico – eine bewährte Methode, um die öffentliche Aufmerksamkeit von seiner vorherigen Vernachlässigung der Naturkatastrophe auf Puerto Rico abzulenken, die das Leben von mehr als drei Millionen Amerikanern betrifft.
Ablenkung ist eine Trumpsche Taktik. Seine UN-Rede ist allerdings nicht durch Ablenkungsmanöver in Vergessenheit geraten, vielmehr steht ihre leichthin zum Ausdruck gebrachte Mehrdeutigkeit weiterhin im Raum. Was bedeutete, „gezwungen, sich selbst oder seine Verbündeten zu verteidigen“? Anstatt zu sagen, dass die Vereinigten Staaten zurückschlagen würden, wenn Nordkorea sie tatsächlich angreifen würde (was jedoch ohnehin selbstverständlich ist), zog Trump es vor, etwas Unklares, nahezu Unverständliches über ein Thema zu sagen, das Eindeutigkeit verlangt.
Vielleicht wollte er die Welt nur daran erinnern, dass ein Staat mit überwältigender nuklearer Überlegenheit einen anderen Staat mit einem total unterlegenen Waffenarsenal leicht auslöschen könnte, „vollkommen zerstören“ – 25 Millionen Menschen, vermutlich innerhalb weniger Minuten. Aber wer benötigt eine solche Erinnerung?
Trump scheint es zu genießen, Kim zu provozieren, einen gefährlichen und leicht reizbaren jungen Mann, indem er sich auf eine Weise äußert, die – wie Evan Osnos am Sonntag schrieb – „prädestiniert ist, Kims Paranoia und Feindseligkeit anzufachen“. Als ob der Ausdruck „vollkommen zerstören“ nicht genug war, tweetete – tweetete! – Trump ein paar Tage später, am 23. September: „Gerade den Außenminister von Nordkorea bei der UNO reden hören. Wenn er die Gedanken von Little Rocket Man wiedergibt, werden sie nicht mehr lange unter uns sein!“
Was für eine Drohung ist das denn? Sie kam von demselben Präsidenten, der vor kurzem noch gesagt hatte: „Mit Ausnahme des großen Abraham Lincoln kann ich präsidialer sein als jeder Präsident, der dieses Amt jemals innehatte.“ Es überraschte daher nicht wirklich, als Kim in seiner Entgegnung gelobte, „den geistesgestörten senilen US-Greis definitiv und endgültig mit Feuer zu zähmen“.
Man kann nur mutmaßen, wie derartige Beschimpfungen den gefährlichsten Moment eines drohenden Atomkriegs im 20. Jahrhundert beeinflusst hätten – die Kubakrise vom Oktober 1962, als die Sowjetunion Atomraketen auf Kuba stationieren wollte. Präsident John F. Kennedy und Ministerpräsident Nikita Chruschtschow waren beide überzeugt, dass für ihre Staaten vitale strategische Interessen auf dem Spiel standen, aber beide waren trotzdem entschlossen, einen Krieg zu vermeiden.
Wie wäre die Sache wohl ausgegangen, wenn Kennedy – während er darauf bestand, dass die Raketen abgezogen werden – Chruschtschow als „Fat Nick“ verspottet hätte oder wenn Chruschtschow Kennedy einen „verdorbenen Dreckskerl“ genannt hätte? Hätte eine derartige Sprache die Welt einem Krieg auch nur einen winzigen Schritt näher gebracht, wie hätte die Geschichte und die Moral dieses Verhalten wohl beurteilt?
Die USA und die Welt haben gelernt, über Vieles von dem, was Trump von sich gibt, achselzuckend hinwegzugehen, auch deshalb, weil er kurz darauf schon wieder etwas anderes dazu sagt, oder zu vergessen scheint, was er ursprünglich gesagt hatte. Am Ende lässt dies viele seiner Äußerungen bedeutungslos erscheinen. Aber es ist die Existenz von thermonuklearen Waffen, die heute etwa die dreitausendfache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe haben, die Trumps irrationale Ausbrüche untragbar machen, ja unanständig.
Wenn Vernunft und Rationalität abhanden kommen, wie lange mag es dauern, bis reiner Wahnsinn ihren Platz einnimmt?
Jeffrey Frank, ehemaliger Chefredakteur des New Yorker und Autor von „Ike und Dick: Porträt einer seltsamen politischen Ehe“, arbeitet an einem Buch über die Truman-Ära.
Außerdem:
- Trump says ‚only one thing will work‘ with North Korea – Jeff Mason – Reuters, 07.10.2017
- Trump: “Presidents and their administrations have been talking to North Korea for 25 years, agreements made and massive amounts of money paid,” Trump said in a tweet. “…Hasn’t worked, agreements violated before the ink was dry, making fools of U.S. negotiators. Sorry, but only one thing will work!”
- Donald Trump, and His Voters – Masha Gessen – The New Yorker, 06.10.2017
- „Knowing what we know about Trump and what psychiatrists know about aggression, impulse control, and predictive behavior, we are all in mortal danger. He is the man with his finger on the nuclear button. Contributors to “The Dangerous Case of Donald Trump” ask whether this creates a “duty to warn.” But the real question is, Should democracy allow a plurality of citizens to place the lives of an entire country in the hands of a madman? Crazy as this idea is, it’s not a question psychiatrists can answer.“
- Here’s How Deadly a North Korea Nuclear Attack Could Be – Eli Meixler – Time, 06.10.2017
- „The report offers hypothetical scenarios based on the assumption that North Korea has a nuclear arsenal of some 20-25 warheads. The warheads are estimated to range from 15 kilotons — about the size of the „Little Boy“ bomb dropped on Hiroshima in 1945, killing more than 200,000 — to 250 kilotons — the estimated strength of a thermonuclear weapon. The report suggests that were North Korea to launch its entire arsenal against Tokyo (population 37.9 million) and Seoul (24.1 million), casualties in each city could reach as high as 3.8 million.“
- Die Pöbler und ihre Arsenale des Schreckens – Hauke Friederichs und Steffen Richter – Zeit Online, 05.10.2017
- „Zehntausende Soldaten, Kampfjets, Bomben: Ein Krieg auf der koreanischen Halbinsel würde zu einem internationalen Konflikt führen. Wer kann eigentlich womit drohen?“
- A Hypothetical Nuclear Attack on Seoul and Tokyo: The Human Cost of War on the Korean Peninsula – Michael J. Zagurek Jr. – 38 North, 04.10.2017
- „At various times over the past few weeks, US President Donald Trump and other members of his administration have threatened to use military force to prevent North Korea from conducting additional nuclear or ballistic missile tests. The US carrying out any military option raises a significant risk of military escalation by the North, including the use of nuclear weapons against South Korea and Japan. According to the calculations presented below, if the “unthinkable” happened, nuclear detonations over Seoul and Tokyo with North Korea’s current estimated weapon yields could result in as many as 2.1 million fatalities and 7.7 million injuries.“
- Evan Osnos Talks to David Remnick About Donald Trump’s Provocations of a Nuclear North Korea – Podcast – The New Yorker, 25.09.2017
- „Osnos tells David Remnick that North Korea will never give up its nuclear weapons; they are no longer a bargaining chip but, rather, a source of national identity and security. Despite the forceful rhetoric and threats, Osnos found little appetite for war in either government, concluding that North Korea is not “a suicidal cult.” And he predicts that Trump will contain the risk rather than eliminate it.“
- The Risk of Nuclear War with North Korea – Letter from Pyongyang from Evan Osnos – The New Yorker, 18.09.2017
- „Evan Osnos joined The New Yorker as a staff writer in 2008, and covers politics and foreign affairs. He is the author of “Age of Ambition: Chasing Fortune, Truth, and Faith in the New China.”
- Sehr gutes Video mit Evan Osnos (7:36 Min.) zu diesem Beitrag: „On the ground in Pyongyang: Could Kim Jong Un and Donald Trump goad each other into a devastating confrontation?“
Eckhardt Kiwitt
/ 8. Oktober 2017Freiheit ist m.E. ein Ideal, das sich aus Vernunft selbst trägt.
Wer, wie DJT, die Vernunft aufgibt, stellt auch die eigene Freiheit und die seines Landes zur Disposition.