In einem vom Tagesspiegel veröffentlichten Offenen Brief an Bundeskanzlerin Merkel fordern fünf renommierte Ökonomen eine grundlegende Korrektur der Sparpolitik, die Griechenland von den europäischen Institutionen und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) aufgezwungen wurde.
Während der IWF inzwischen einräumt, dass die rigide Austeritätspolitik der griechischen Wirtschaft schweren Schaden zugefügt hat, und IWF-Chefin Christine Lagarde jetzt auch einen Schuldenschnitt für Griechenland fordert, stemmen sich weite Teile der CDU/CSU, aber auch mehrere nord- und osteuropäische Euro-Länder, die ähnliche „Anpassungsprogramme“ durchleiden mussten, gegen erleichterte Bedingungen für die Griechen.
Die fünf Ökonomen sind
- Heiner Flassbeck, ehemaliger Staatsekretär im Bundesfinanzministerium und Chefvolkswirt der Welthandels- und Entwicklungskonferenz Unctad,
- Thomas Piketty, Professor für Wirtschaft an der Paris School of Economics
- Jeffrey D. Sachs, Professor für Nachhaltige Entwicklung, Professor für Gesundheitspolitik und Management und Direktor des Earth-Institute an der Columbia University, New York
- Dani Rodrik, Ford-Stiftungs-Professor für Internationale Politische Ökonomie an der Kennedy School, Harvard
- Simon Wren-Lewis, Professor für Wirtschaftspolitik, Blavatnik School of Government, Oxford University
Die Wirtschaftswissenschaftler argumentieren, das Spardiktat funktioniere einfach nicht. Europas finanzielle Forderungen hätten
„die griechische Wirtschaft zu Fall gebracht, Massenarbeitslosigkeit und den Zusammenbruch des Bankensystems verursacht und die Schuldenkrise deutlich verschärft.“
Die Serie der sogenannten „Anpassungsprogramme“ habe
„Auswirkungen, die man seit der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1933 in Europa nicht mehr gesehen hat. Die Medizin, die in Berlin und Brüssel zusammengebraut wird, ist schlimmer als die Krankheit selbst.“
Die Wissenschaftler fordern Bundeskanzlerin Merkel und die Troika auf, diesen Kurs zu korrigieren, um weitere Schäden zu vermeiden.
„Momentan wird die griechische Regierung dazu gedrängt, sich einen Revolver an die Schläfe zu halten und abzudrücken. Doch mit der Kugel wird nicht nur Griechenlands Zukunft in Europa getötet. Die Kollateralschäden werden auch die Eurozone als Leuchtturm von Hoffnung, Demokratie und Wohlstand zerstören. Die Folgen werden auf der ganzen Welt zu spüren sein.“
Bei der Gründung von Europa in den fünfziger Jahren habe das Fundament darauf beruht, Schulden zu streichen – „vor allem die deutschen Schulden“. Das sei ein großer Beitrag zum Wirtschaftswunder und zum Frieden der Nachkriegszeit gewesen. Heute müsse man die griechischen Schulden restrukturieren und senken, denn die dortige Wirtschaft brauche „Raum zum Atmen, um sich zu erholen“. Griechenland müsse erlaubt werden, seine reduzierten Schulden über einen langen Zeitraum zurückzuzahlen.
„Der richtige Zeitpunkt, die gescheiterte Sparpolitik zu überdenken, ist jetzt. Dabei müssen die griechischen Schulden zum Teil erlassen werden und gleichzeitig die dringend benötigten Reformen in Griechenland beschlossen werden.“
Die Ökonomen appellieren an die Bundeskanzlerin,
„die lebenswichtige Führungsrolle für Griechenland, Deutschland und die Welt zu übernehmen. Ihre Taten in dieser Woche werden in die Geschichtsbücher eingehen. Wir zählen auf Sie für mutige und großzügige Schritte auf Griechenland zu – Sie werden Europa auf Generationen dienen.“
Außerdem:
- Der Offene Brief ist auch in anderen Ländern und Sprachen erschienen. Eine Auswahl findet sich auf flassbeck-economics.
- Dem Ressortleiter des Feuilletons der Süddeutschen Zeitung (SZ), Andrian Kreye, war es zwei (!) Artikel wert, eine geradezu groteske Kritik an dem Offenen Brief der Ökonomen zu formulieren: „Wenn Wissenschaftler Kampagne machen“ (8. Juli) und „Wissenschaft beraubt sich ihrer stärksten Waffe“ (9. Juli).
Kern der Kritik des Feuilletonchefs ist die These, als Wissenschaftler habe man neutral zu bleiben und sich nicht in politische Diskussionen einzumischen. Denn dann werde man zum Aktivisten, und das vertrage sich nicht mit der Rolle eines Wissenschaftlers. (Auf diese Beiträge des Herrn Kreye werde ich noch gesondert eingehen. MW)
- Was jetzt verloren ist – Heiner Flassbeck – Flassbeck-economics, 8. Juli 2015
- „Menschen wie ich, die die Hoffnung auf ein wenig mehr Vernunft nicht so schnell aufgeben wollen, hatten es für möglich, wenngleich nicht für sehr wahrscheinlich gehalten, dass es in letzter Minute doch noch einen für Griechenland erträglichen Kompromiss geben wird. Danach sieht es jetzt nicht mehr aus. „Sie wollen eine bedingungslose Kapitulation“, schreibt eine Athener Zeitung heute, und das trifft den Nagel auf den Kopf. Die Gläubiger und vorneweg wieder Deutschland wollen Griechenland endgültig in die Knie zwingen, eine neue willfährige Regierung einsetzen oder den Austritt des Landes aus der Europäischen Währungsunion mit der Gewalt der Europäischen Zentralbank durchsetzen.“
notarfuzzi
/ 10. Juli 2015Die Ökonomen sollten nicht an die Kanzlerin appellieren – das Selbstverständnis dieser Frau ist hinreichend bekannt, die Luft kann man sich deswegen sparen.
Appelliert werden muß an das deutsche Volk. Die Professoren sollten ihre Autorität und ihr publizistisches Gewicht zur Aufklärung des Volkes einsetzen. Das ist bekanntlich der Souverän, jedenfalls in konstitutionellen Demokratien, und erst dieses kann (und muß) seine Kanzlerin zwingen, das zu berücksichtigen, was die Ökonomen aus ihrem Sachverstand heraus verlangen. Denn wir haben in der Geschichte schon mehrfach erlebt, wie die Regierenden den Sachverstand der Wissenschaft beseite wischen, wenn es um den Machterhalt geht.
Nur das Volk kann eine Änderung erzwingen, die Merkel hat ihre angebliche Macht – in Wahrheit ist es nur ein Amt – vom Volk verliehen bekommen!
Markus Wichmann
/ 10. Juli 2015Vielen Dank für den Kommentar – aber er überzeugt mich nicht. „Das Volk“, also die große Mehrheit der Bevölkerung, entscheidet politische Fragen doch vorwiegend emotional, aus einem Bauchgefühl heraus.
NTV fragte seine Zuschauer vor einigen Tagen, ob den Griechen mit weiteren Rettungsmaßnahmen geholfen werden solle. 91 % waren dagegen, nur 9 % dafür. Auf die Frage, ob man denn Mitleid mit den Griechen habe, sagten 82 % „Nein“, nur 18 % bejahten das. Gegen diese emotionalen Urteilsbildungen kann eine nüchterne Aufklärung über schwierige volkswirtschaftliche Zusammenhänge wenig ausrichten.
Von einem guten Politiker darf man dagegen erwarten, dass er seine Gefühle und Stimmungen hintanstellt und im Wesentlichen rational mit dem Verstand entscheidet (vorzugsweise auch mit Sachverstand). Politiker sollten kühlen Kopf bewahren, das Ziel nicht aus dem Auge verlieren und sich in ihrer Urteilsbildung von Emotionen möglichst wenig leiten lassen.