Der breit diskutierte Bestseller „Capital in the Twenty-First Century“ des französischen Ökonomen Thomas Piketty ist zweifellos eines der einflussreichsten Wirtschaftsbücher der letzten Jahrzehnte (derzeit Platz 1 der Amazon-Bestsellerliste). Das französische Original “Le capital au XXIe siecle” erschien bereits im August 2013, aber erst die im März dieses Jahres folgende englische Ausgabe sorgte weltweit für Aufsehen.
Die Kernaussagen des Buchs, das auf umfangreichen Datenanalysen der Einkommens- und Vermögensverteilung in den Industrieländern in den letzten 300 Jahren beruht, lassen sich in wenigen Sätzen zusammenfassen:
In kapitalistischen Gesellschaften wachsen Vermögenserträge grundsätzlich schneller und kontinuierlicher als Arbeitseinkommen, u.a. deshalb, weil sie auch in Zeiten wirtschaftlicher Krisen kaum zurückgehen. Durch die besonderen historischen Umstände in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (zwei Weltkriege, wirtschaftliche Depression Ende der 20er Jahre, Währungsreformen) wurde viel Vermögen vernichtet, weshalb in den Jahren von 1930 bis 1975 die Vermögenskonzentration nicht zunahm. Danach stieg sie in den Industrienationen jedoch wieder erheblich an. Da Vermögen meistens vererbt wird, werden sich zukünftig stark wachsender Reichtum und entsprechende wirtschaftliche Macht in den Händen einer relativ kleinen Gruppe von Erben großer Vermögen konzentrieren – das obere „1 Prozent“, vielleicht gar 1 Promille der Haushalte (Patrimonialer Kapitalismus). Wie schon in der Belle Époque, den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, werden extrem reiche Familien im Wirtschaftsleben eine dominierende Position einnehmen, mit der Folge einer Refeudalisierung und der Gefahr oligarchischer Machtstrukturen. Die einzig wirksame Möglichkeit, diese Entwicklung zu verhindern, ist eine Umverteilung mit Hilfe einer stark progressiven Einkommenssteuer von bis zu 80 % sowie einer etwa zweiprozentigen Vermögenssteuer.
Am 25. April veröffentlichte die New York Times unter dem Titel The Piketty Panic einen Kommentar von Wirtschafts-Nobelpreisträger Paul Krugman zu den Reaktionen von konservativer und rechter Seite zu Pikettys Buch. Hier meine Übersetzung (unter Verwendung einer Übersetzung von Sabine Tober).
Paul Krugman: Die Piketty-Panik
„Capital in the Twenty-First Century“, das neue Buch des französichen Wirtschaftswissenschaftlers Thomas Piketty, ist ein echtes Phänomen. Auch andere Bücher über wirtschaftliche Themen sind Bestseller geworden, aber Mr. Pikettys Beitrag beinhaltet – anders als die meisten Bestseller – seriöse, diskursverändernde Wissenschaft. Und die Konservativen geraten in Panik. So warnt James Pethokoukis vom American Enterprise Institute im National Review, Mr. Pikettys Arbeit müsse widerlegt werden, sonst “werde sie sich unter den Intellektuellen [clerisy] verbreiten und das wirtschaftspolitische Feld neu gestalten, auf dem alle künftigen politischen Kämpfe ausgetragen werden”.
Nun, viel Glück damit. Das Bemerkenswerte an der Debatte bis jetzt ist, dass es der Rechten offenbar nicht gelingt, einen substantiellen Gegenangriff gegen Mr. Pikettys Thesen zu führen. Stattdessen besteht ihre Reaktion aus Beschimpfungen – vor allem aus der Behauptung, Mr. Piketty sei Marxist, wie alle anderen, die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen als wichtiges Thema ansehen.
Auf die Beschimpfungen komme ich gleich zurück. Sehen wir uns zunächst an, warum “Capital” eine so große Wirkung [impact] entfaltet.
Mr. Piketty ist nun wirklich nicht der erste Ökonom, der aufzeigt, dass wir gerade einen starken Anstieg von Ungleichheit erleben, oder der auf den Gegensatz zwischen geringem Einkommenswachstum bei der breiten Masse der Bevölkerung und rapide wachsenden Spitzeneinkommen hinweist. Zwar haben Mr. Piketty und seine Kollegen unser Wissen mit viel historischem Tiefgang angereichert und gezeigt, dass wir tatsächlich in einer neuen Gilded Age leben. Aber das wussten wir ja schon eine Weile.
Nein, das wirklich Neue an “Capital” ist die Art, wie es den Lieblingsmythos der Konservativen zerstört, nämlich das beharrliche Festhalten an der Vorstellung, wir lebten in einer Leistungsgesellschaft [meritocracy], in der Wohlstand verdientermaßen erworben wird.
Während der letzten Jahrzehnte beruhte die konservative Reaktion auf Versuche, die enorm steigenden Spitzeneinkommen zu einem politischen Thema zu machen, auf zwei Verteidigungsstrategien: Erst wird die Tatsache geleugnet, dass es den Reichen wirklich so gut und dem Rest tatsächlich so schlecht geht, und wenn das misslingt, wird behauptet, die hohen Spitzeneinkommen seien ein gerechtfertigter Ausgleich für geleistete Dienste. Nicht „das 1 Prozent“ solle man sie nennen, oder „die Reichen“; man nenne sie “Arbeitsplatzschaffer”.
Wie sieht es aber mit dieser Rechtfertigung aus, wenn der Großteil des Einkommens der Reichen nicht durch Arbeit erworben wird, sondern aus Vermögenserträgen besteht? Und was, wenn großer Wohlstand immer häufiger nicht mehr auf Unternehmertum, sondern auf Erbschaft beruht?
Mr. Piketty zeigt, dass dies keine müßigen Fragen sind. Vor dem Ersten Weltkrieg wurden die westlichen Gesellschaften von einer Oligarchie dominiert, die auf ererbtem Reichtum beruhte. Dieses Buch legt überzeugend dar, dass wir auf dem besten Weg zurück zu diesem Zustand sind.
Was kann also ein Konservativer tun, wenn er befürchtet, diese Diagnose könnte zur Legitimierung höherer Steuern für die Reichen genutzt werden? Er könnte versuchen, Mr. Piketty fundiert zu widerlegen, aber bisher habe ich keine Anzeichen gesehen, dass das geschieht. Stattdessen gibt es, wie gesagt, nur Beschimpfungen.
Ich denke, das muss nicht überraschen. Seit über zwanzig Jahren beteilige ich mich an Debatten über Ungleichheit und habe bisher noch keinen konservativen “Experten” angetroffen, dem es gelungen wäre, die Zahlen anzufechten, ohne dabei über seine eigenen intellektuellen Schnürsenkel zu stolpern. Es sieht so aus, als läge die Wahrheit ganz einfach nicht auf ihrer Seite. Gleichzeitig ist „Rotenhetze“ [red-baiting] das Standardvorgehen der Rechten gegen jeden, der irgendeinen Teil des Dogmas des Freien Marktes in Frage stellt, und das schon seit der Zeit, als Leute wie William F. Buckley die Verbreitung der Keynesianischen Wirtschaftslehre zu blockieren versuchten – nicht indem sie ihr Fehler nachwiesen, sondern sie als “kollektivistisch” verunglimpften.
Aber es ist doch erstaunlich, zu beobachten, wie die Konservativen einer nach dem anderen Mr. Piketty als Marxisten brandmarken. Sogar Mr. Pethokoukis, der anspruchsvoller ist als der Rest, nennt “Capital” ein Werk eines „soften Marxismus“, was nur dann Sinn macht, wenn bereits die bloße Erwähnung ungleichen Wohlstands einen zum Marxisten macht. (Und vielleicht sehen sie das ja auch so: Kürzlich verurteilte der ehemalige Senator Rick Santorum den Begriff “Mittelklasse” als “marxistisches Gerede” – denn, sehen Sie, wir haben doch gar keine Klassen in Amerika.)
Und die Besprechung im Wall Street Journal geht erwartungsgemäß „den ganzen Weg“, schafft irgendwie den nahtlosen Übergang von Mr. Pikettys Forderung nach zunehmender Besteuerung als Möglichkeit, die Konzentration von Reichtum zu begrenzen – ein Mittel, so amerikanisch wie Apple Pie, ehemals nicht nur von führenden Ökonomen propagiert, sondern auch von Mainstream-Politikern vor und einschließlich Teddy Roosevelt – bis hin zu den Übeln des Stalinismus. Ist das wirklich das Beste, was man vom Journal erwarten kann? Offenbar ja.
Allerdings bedeutet die Tatsache, dass den Verteidigern von Amerikas Oligarchen keine stichhaltigen Argumente einfallen, nun nicht, dass sie politisch auf der Flucht sind. Geld wird immer noch gehört – teilweise dank des Roberts-Gerichtshofes spricht es lauter denn je.
Aber Ideen sind ebenfalls bedeutungsvoll, indem sie beeinflussen, wie wir über die Gesellschaft reden, und letztendlich, wie wir handeln. Und die Piketty-Panik zeigt, dass der Rechten die Ideen ausgegangen sind.
Siehe auch:
- Wer hat, dem wird gegeben – Mark Schieritz – Die Zeit, 06.03.2014
- „Ein neues Buch macht Furore: Im Kapitalismus zählt Herkunft, nicht Leistung. Was kann der Staat tun?“
- Ein Buch entschlüsselt die Formel für Reichtum – Nando Sommerfeldt / Holger Zschäpitz – Die Welt, 23.04.2014
- „Nobelpreisträger wie Paul Krugman und Joseph Stiglitz loben das Werk des französischen Ökonomen Thomas Piketty. Es analysiert anhand von Daten, wie im Kapitalismus die Reichen immer reicher werden.“
- Neue Reichtumsdebatte: Etwas ist faul im Kapitalismus – Nicolai Kwasniewski, Gregor Peter Schmitz und Marc Pitzke – Spiegel Online, 23.04.2014
- „Ist Kapitalismus noch fair, wenn die Reichen immer reicher werden? In den USA, Europa und Deutschland tobt eine Debatte über die wachsende Ungleichheit – befeuert durch ein provokantes neues Buch.“
- „Kapital im 21. Jahrhundert“ schreckt Ökonomen auf – Arvid Kaiser – Manager Magazin, 11.04.2014
- „Erleben wir eine Rückkehr der Belle Epoque, in der die Superreichen den Rest der Gesellschaft abhängen? Der Pariser Ökonom Thomas Piketty hat „Das Kapital“ neu geschrieben, mit umfangreichem Datenmaterial. Prominente Kollegen feiern sein Buch als epochales Werk.“
- Why We’re in a New Gilded Age – Paul Krugmans ausführliche Buchbesprechung im New York Review of Books, Ausgabe 08.05.2014
- „Thomas Piketty, professor at the Paris School of Economics, isn’t a household name, although that may change with the English-language publication of his magnificent, sweeping meditation on inequality, Capital in the Twenty-First Century. Yet his influence runs deep. It has become a commonplace to say that we are living in a second Gilded Age—or, as Piketty likes to put it, a second Belle Époque—defined by the incredible rise of the ‚one percent‘.“
- Einkommen und Vermögen sind ungleich verteilt – ein Erklärungsversuch – aufschlussreiche, fachkundige Darlegung von Pikettys Untersuchungsergebnissen von Dieter Wermuth im Zeit-Blog Herdentrieb, 17.01.2014
- „Vor einigen Monaten ist in Frankreich ein fast tausend Seiten dickes (aber gut lesbares) Buch erschienen, das sich in der Tradition der großen Ökonomen des neunzehnten Jahrhunderts mit der Frage beschäftigt, wie und aus welchen Gründen sich die Einkommen und Vermögen in einer Volkswirtschaft verteilen, und welche Trends zu beobachten sind (Thomas Piketty: Le capital au XXIe siècle, 970 S., Paris, September 2013). Anders als seine Vorgänger vor mehr als 150 Jahren (Malthus, Ricardo, Marx) kann Thomas Piketty auf lange Zeitreihen zurückgreifen und seine Thesen auf diese Weise empirisch untermauern oder andere widerlegen, so etwa die von Kuznets aus den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Simon Kuznets, der als einer der Väter der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung gilt, hatte behauptet, dass sich das pro-Kopf-Einkommen im Frühstadium der wirtschaftlichen Entwicklung zunächst ungleichmäßiger verteilt, dass die Ungleichheiten aber abnehmen, wenn das Land ein hohes Wohlstandsniveau erreicht hat; das ist die einst berühmte Kuznets-Kurve. Piketty zeigt – wie in letzter Zeit auch andere Autoren -, dass die These nicht aufrecht zu erhalten ist.“
- The short guide to Capital in the 21st century – sehr gute Zusammenfassung des 700-Seiten-Buches von Matthew Yglesias – Vox, 08.04.2014
- „Everyone is talking about Thomas Piketty’s Capital in the 21st Century, but if you don’t have time to read 700 pages this handy cheat sheet will give you the gist.“
- 9 charts that explain the history of global wealth – die wichtigsten Grafiken aus Pikettys Buch, zusammengestellt und erläutert von Matthew Yglesias – Vox, 10.04.2014
- „Thomas Piketty’s book Capital in the 21st Century advances an important and provocative argument about the future of the world economy. But the argument is built upon the most impressive set of data ever assembled about the history of wealth around the world, and that data tells many stories beyond the main narrative argument of the book. Here we present nine charts drawn from the book that illustrate the history of the global economy.“
- Wikipedia-Artikel „Capital in the Twenty-First Century“ – Zusammenfassung des Inhalts und zahlreiche Weblinks zu Rezensionen, geordnet nach „eher zustimmend“ und „eher ablehnend“.
- Thomas Pikettys Homepage bei der Paris School of Economics mit Links zu Datenmaterial, zu einer Powerpoint-Präsentation der Untersuchungsergebnisse und zu einem zusammenfassenden Working Paper „Capital is Back: Wealth-Income Ratios in Rich Countries 1700 – 2010“ (Juli 2013)
alphachamber
/ 29. April 2014Guten Abend!
Ich habe Pikettys Werk nicht gelesen, nur Ihren Artikel und die Links. Von Krugman las ich seine “Depression Economics”, 1999, was seine Denkweise und ökonomische Arithmetik enthüllt (Zitat: “…The world is an unfair place. Wealthy countries…[…]…Not only are they rich, but they generally have stable and effective governments…[sic.]). Krugmans Kritik an den konservativen Kritikern lässt deduktiv erkennen, dass es dabei nicht um konzeptuelle Lösungen geht, sondern um den üblichen ideologischen Grabenkampf. Piketty belegt also die Resultate von 500 Jahre dauernden staatlichen Kontrollen und Interventionen in die Volkswirtschaften – gut. Das machte ihn eigentlich zum Zeugen der Libertären. Kritik von einer notorisch rhetorisch schwachen konservativen Seite ist noch k e i n Gütesiegel.
Zu den “Kernaussagen des Buches”:
Baut sich der wesentliche Inhalt um die “0,01-0,1 Prozent” der Milliardäre (US: billionaires), fragt man sich, ob diese Mikro-Klasse umfassende globale, makroökonomische Anstrengungen wert sind. (Verteilte man die Gesamtvermögen der 1600 Milliardäre auf alle Bewohner der Erde, wäre jeder ca. 2.000 USD reicher. Und dann?) In der BRD z.B. wird 70% des BIPs von kleinen bis mittelständischen Unternehmen erwirtschaftet, deren Inhaber/Familien sehr vermögend sind, oder auch nicht. Manche Vermögen wurden wohl geerbt, manche auch nicht, manchmal verprasst, manche vervielfacht und manche von staatlichen Maßnahmen vernichtet (Krieg, Regularien, usw.). Moderne Oligarchen sind die antiken Feudalherren. Daran haben die Pest, die Hunnen, verheerende Kriege und Marx’sche Utopien mit ihren bolschewistischen Praktikanten nichts geändert; und nach 5000 Jahren Menschheitsgeschichte gibt es immer noch ein paar mehr, als den e i n e n von Marx beschworenen gigantischen globalen Mischkonzern, oder der e i n e, der mehr besitzt als alle anderen.
Krugmans Bezug auf W.F. Buckley (mit dem sich selbst Ayn Rand bei deren erster Begegnung überwarf) ist leider armselig: Als konservatives Paradigma ist er doch keine wirtschaftswissenschaftliche Referenz.
Wenn Piketty mehr zu bieten hat als wirtschaftlichen Populismus und der eigenen literarischen Chrematistik; wenn er sagt, w e r die Rolle des “Herrn der Werte” übernehmen soll, werde ich sein Werk lesen.
Nette Grüße
Markus Wichmann
/ 29. April 2014Genaueren Aufschluss über Pikettys Untersuchungen, Befunde und Schlussfolgerungen als meine kurze Zusammenfassung gibt gewiss der nachfolgende Abstract des Working Papers von Piketty & Zucman, das am Ende meines Beitrags verlinkt ist:
“ How do aggregate wealth-to-income ratios evolve in the long run and why?
We address this question using 1970-2010 national balance sheets recently compiled in the top eight developed economies. For the U.S., U.K., Germany, and France, we are able to extend our analysis as far back as 1700.
We find in every country a gradual rise of wealth-income ratios in recent decades, from about 200-300% in 1970 to 400-600% in 2010. In effect, today’s ratios appear to be returning to the high values observed in Europe in the eighteenth and nineteenth centuries (600-700%). This can be explained by a long run asset price recovery (itself driven by changes in capital policies since the world wars) and by the slowdown of productivity and population growth, in line with the Beta = s/g Harrod-Domar-Solow formula. That is, for a given net saving rate s = 10%, the long run wealth-income ratio Beta is about 300% if g = 3% and 600% if g = 1.5%.
Our results have important implications for capital taxation and regulation and shed new light on the changing nature of wealth, the shape of the production function, and the rise of capital shares.“
S. auch die instruktive Darstellung von Pikettys Untersuchungen von Dieter Wermuth im Zeit-Blog Herdentrieb, der „Guide to Capital in the 21st Century“ von Matthew Yglesias (Vox) sowie dessen Erläuterungen zu den wichtigsten Grafiken des Buchs.
alphachamber
/ 30. April 2014Hallo!
Bis jetzt erkenne ich nur künstlichen – offenbar erfolgreichen – Wirbel um die Vermarktung eines scheinbar gut vernetzten Wirtschaftsautors. Die Nationalökonomie ist eine Gesellschaftswissenschaft und ernste Arbeiten entstehen nur durch Einbezug der Philosophie, Geschichte und Anthropologie. Offenbar geht das Werk tief in die Geschichte, aber es fehlen wichtige Verknüpfungen; menschliche Eigenschaften werden – wie schon von Marx – missachtet und philosophische Axiome fehlen gänzlich. Von Ökonomen erwartet man gelehrte Zahlen und Formeln. “…But the argument is built upon the most impressive set of data ever assembled about the history of wealth around the world…” Volle Punktzahl für Fleiß – aber seine Schlüsse reflektieren weder den Menschen noch seine kulturellen Institutionen; dies war schon Marxs monumentalster Irrtum. Piketts größte Schwächen scheinen aber die – die er sich selbst nachweist:
1.) “We find in every country a gradual rise of wealth-income ratios in recent decades,…[…]… In effect, today’s ratios appear to be returning to the high values observed in Europe in the eighteenth and nineteenth centuries…. This can be explained by a long run asset price recovery…[…]…and by the slowdown of productivityr and population growth,…” Seit den frühesten Zivilisationen überstanden die Gesellschaften jeden Zyklus stets mit größerem allgemeinen Wohlstand als dem zuvor.
2.) Piketty zeigt, dass diese Vermögensanstiege in Zeiten eigenütziger staatlicher Interventionen erscheinen, entweder als Vorbereitung für Kriege und Kolonialisierungen oder als Folge des Wiederaufbaus; übersieht dabei, dass diese Vermögen dem Staate als Resourcen dienten, für imperialistische Ansprüche oder zur sozialen Ruhestellung des Volkes – als eine Art “Rücklagen” für die staatlichen Kriegs- , Aufbau- und Wahl-Kassen.
3.) Die Umverteilung entspricht mitnichten Marxs Idee eines “wahren” Kommunismus (siehe seine sarkastische Auseinandersetzung mit Proudhon) und trägt eher faschistische Züge (vergleiche wirtschaftliche Maßnahmen von W. Wilson und F.D.R.).
4.) Es geht nicht um Vermögenswerte und deren Lokalität, sondern um die eigenen Unzufriedenheiten und die Hindernisse für n e u e Bewerber im Vermögensklub. Die Umverteilung ändert daran nichts. Umgeteilte Werte müssen verwaltet werden. Diejenigen die sie besitzen, haben sich schon qualifiziert. Dass der Staat der bewiesenermaßen schlechteste Vermögensverwalter ist, könnte Piketty schwer bestreiten.
5.) Die Erbfolgeregelung ist eine Sackgasse, in der sich schon die Herrschaften des frühen Mittelalters, die Römer, Adam Smith und seine Klassiker, sowie das gerade unabhängig gewordene Amerika befanden.
6.) Am schwersten wiegt Pikettys Anspruch auf eine “holistische ökonomische Endlösung”, beim gleichzeitigen Ignorieren dieser Fakten:
– Deutschland war bis 1871 keine homogene Wirtschaftsnation (s. Hegels Kritik am Staat).
– P. berücksichtigt nicht die Entwicklung der Chinesischen Kaiserreiche gleicher Perioden.
– Ich sehe keine Hinweise der Einflüsse der erheblichen Kolonien U.K. und Frankreichs.
– P. übersieht die “Anomalie” der Zeit des nahezu reinen Kapitalismus der US Gründerzeit.
– P. gibt sich global-marxistisch/sozial, ignoriert aber 2/3 der Menschheit und ihre Gesellschaften in Fernost auf denen seine Probleme/Lösungen nicht anwendbar sind. Also keine “Internationale der Umverteilung”. Es gibt noch mehr Widersprüchliches und vor allen Dingen philosophisch-moralisch-rechtliche Einwände. Bleibt nur eine populistische Neuauflage von der Eliminierung “arbeitslosen Vermögens” = “Proudhon reloaded”.
H.G. Wells hätte sicher mehr Freude an Pikettys Werk gehabt.
Bitte beachten, mein Urteil gilt nur auf die Inhalte der Zusammenfassungen und Abstracts.
P.S. Zur weiteren Erläuterung, darf ich auf diesen Link hinweisen: http://liberalerfaschismus.wordpress.com/2014/04/25/eiertanz-der-ideologen/
Nette Grüße.