Das Grass-Gedicht: Was zutrifft und was nicht (5)

Analyse des 5. Abschnitts des Gedichts „Was gesagt werden muss“ von Günter Grass:

(5) Und zugegeben: ich schweige nicht mehr, weil ich der Heuchelei des Westens überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen, es mögen sich viele vom Schweigen befreien, den Verursacher der erkennbaren Gefahr zum Verzicht auf Gewalt auffordern und gleichfalls darauf bestehen, daß eine unbehinderte und permanente Kontrolle des israelischen atomaren Potentials und der iranischen Atomanlagen durch eine internationale Instanz von den Regierungen beider Länder zugelassen wird. Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern, mehr noch, allen Menschen, die in dieser vom Wahn okkupierten Region dicht bei dicht verfeindet leben, und letztlich auch uns, zu helfen.

Dieser 5. und letzte Abschnitt des Gedichts enthält folgende Aussagen:

  1. Grass offenbart („und zugegeben“) einen weiteren Grund, warum er nicht mehr schweigt: er ist „der Heuchelei des Westens überdrüssig“.

Er äußert die Hoffnung,

  1. „es mögen sich viele vom Schweigen befreien“,
  2. Israel als „ den Verursacher der erkennbaren Gefahr“ wahrnehmen,
  3. Israel „zum Verzicht auf Gewalt auffordern“ und
  4. „gleichfalls darauf bestehen, daß eine unbehinderte und permanente Kontrolle des israelischen atomaren Potentials und der iranischen Atomanlagen durch eine internationale Instanz von den Regierungen beider Länder zugelassen wird.“

Eine zusammenfassende Begründung dieser Aussagen bildet die letzte Strophe des Gedichts:

  1. „Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern, mehr noch, allen Menschen, die in dieser vom Wahn okkupierten Region dicht bei dicht verfeindet leben, und letztlich auch uns, zu helfen.“

Die ersten drei Aussagen enthalten schwerwiegende Anklagen:

  • Der Westen wird in Bezug auf die Thematik des Gedichts der Heuchelei bezichtigt.
  • Die Hoffnung, es möchten sich „viele vom Schweigen befreien“, setzt einen Zustand der Unterdrückung von Gedanken und Urteilen voraus, die eigentlich „gesagt werden müssten“.
  • Israel wird als „Verursacher der erkennbaren Gefahr“ gebrandmarkt.

Mit „Heuchelei des Westens“ dürfte der Autor vor allem das Messen mit zweierlei Maß in Bezug auf die atomare Bewaffnung von Israel und dem Iran meinen – die stillschweigende Duldung (und vermutlich verdeckte Förderung) des beträchtlichen Atomwaffenarsenals Israels, während die Fähigkeit des Iran, eigene Atomwaffen herzustellen, bereits im Vorfeld massiv bekämpft wird; zudem die Forderung nach umfassender Kontrolle der iranischen Atomanlagen, während Israels atomare Kapazitäten jeglicher Kontrolle von dritter Seite entzogen sind; und schließlich die Beteiligung an der Geheimhaltungstaktik hinsichtlich der israelischen Atomkapazitäten.

Diese Haltung des Westens kann man durchaus als Heuchelei bezeichnen. Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass der Iran im Unterschied zu Israel dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten ist und sich hinsichtlich der Einschränkung der Kontrollen durch die IAEA nicht vertragskonform verhält. Der iranische Staatspräsident Ahmadinedschad erläuterte in einem kürzlichen, sehr aufschlussreichen Interview, das Claus Kleber (ZDF) mit ihm geführt hat, die (offiziellen) Gründe für diese Einschränkung der Kontrollen: ein nicht vertragsgerechtes Verhalten der Kontrolleure in der Vergangenheit – u.a. seien gewonnene Erkenntnisse an „Feinde des Iran“ weitergegeben worden.

Mit der Aussage, es sei „zu hoffen, es mögen sich viele vom Schweigen befreien“, nimmt Grass auf die 4. Strophe seines Gedichts Bezug, in der er ein „allgemeines Verschweigen“ des wachsenden, unter keinerlei Kontrolle der Weltgemeinschaft stehenden nuklearen Potentials Israels beklagte. Dieses allgemeine Verschweigen empfand er „als belastende Lüge und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt, sobald er mißachtet wird“.  – „das Verdikt ‚Antisemitismus‘ (sei) geläufig“.

Diese Unterstellung ist starker Tobak. Grass prangert an, Israel und jüdische Organisationen würden mit manipulativen Mitteln ein Klima schaffen, das ein offenes Ansprechen des israelischen Nuklearpotentials wirksam unterdrückt. Als ein solches manipulatives Mittel benennt Grass das Antisemitismus-Verdikt – eine Verurteilung, im übertragenen Sinn auch ein Verdammungsurteil – das Israel-Kritikern angeblich droht.  Allemal in Intellektuellen-Kreisen „geht“ Antisemitismus natürlich „gar nicht“. Entsprechende Vorwürfe könnte man in der Tat fürchten und zu vermeiden suchen.

Wer aber fürchtet den Vorwurf des Antisemitismus? Dazu schreibt der New Yorker Professor für Iran-Studien und Vergleichende Literaturwissenschaft, Hamid Dabashi, in einem äußerst lesenswerten Beitrag für Al Jazeera zum Grass-Gedicht:

„But has the charge of anti-Semitism really silenced the critics of Israel – as Günter Grass suggests in this poem? Not really – or perhaps only so in Germany, for obvious reasons, but certainly not around the globe. The only people who are afraid of being called anti-Semites are the anti-Semites. Yes certain segments of pro-Israeli Zionists, by no means all, hurtle that accusation to silence their opponents. But by no stretch of the imagination has that charge silenced anyone but the anti-Semites – and they better remain silent. (…) To be sure, the condition in Germany is perhaps different – as indeed it should be. But by overcoming that false fear, Günter Grass can no longer be accused of anti-Semitism…“

Bis zur Lektüre des bereits zitierten Artikels von Antony Lerman konnte ich mir nur schwer vorstellen, dass der Antisemitismus-Vorwurf von israelischer bzw. jüdischer Seite leichtfertig erhoben wird, allemal aus manipulativen Gründen. Durch die Feststellungen dieses ausgewiesenen Kenners antisemitischer Tendenzen und Gegentendenzen bin ich an dieser Stelle allerdings nachdenklich und unsicher geworden – zumal Grass nach Veröffentlichung seines Gedichts genau dies widerfahren ist. Vielleicht wäre es an der Zeit, nicht nur die Verbreitung antisemitischer Tendenzen empirisch zu untersuchen, sondern auch einmal die Verbreitung ungerechtfertigter Antisemitismus-Vorwürfe. – Vgl. zu dieser Thematik vor allem auch: Henryk M. Broder, Erich Follath: Gebt den Juden Schleswig-Holstein! – ein Streit darüber, was passiert, „wenn Deutsche Israel kritisieren“.

Wenn Grass an dieser Stelle erneut Israel als alleinigen „Verursacher der erkennbaren Gefahr“ bezeichnet, so ist dies nur in einer sehr verkürzten Auslegung der vorausgehenden Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zutreffend. Natürlich wäre es im Fall eines israelischen Angriffs die Regierung Israels, die eine autonome Angriffsentscheidung fällen würde (die Rolle der USA einmal außer Acht gelassen). Aber an der Eskalation des israelisch-iranischen Konflikts bis zu diesem Punkt ist selbstverständlich auch der Iran mit seiner undurchsichtigen Nuklearstrategie bei gleichzeitigen massiven Drohungen gegen Israel wesentlich beteiligt. Indem er diesen Aspekt völlig unterschlägt, setzt Grass auch an dieser Stelle seine einseitig anti-israelische Agitation und Propaganda fort.

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