Herausragende Beiträge zur Grass-Debatte

Die Qualität der Kommentare und Analysen zum Grass-Gedicht ist höchst unterschiedlich. Sie reicht von wütender Polemik über oberflächliche Pauschalurteile ohne differenziertere Auseinandersetzung mit dem Werk bis hin zu klugen, sachkundigen und tiefgehenden Analysen. Im Wesentlichen letztere sollen hier aufgeführt werden.

Politisch-historische Analysen

  • Günter Grass, Israel and the crime of poetryHamid Dabashi (Wikipedia), Professor of Iranian Studies and Comparative Literature an der Columbia University (New York), stellt das Gedicht von Günter Grass in einen größeren historischen Rahmen und analysiert die Verbindung von europäischem Kolonialismus, Zionismus, Holocaust und dem heutigen Nahostkonflikt. Sehr lesenswert. – Al Jazeera, 10.04.2012
    • „European guilt about the Holocaust is absolutely necessary and healthy – it is an ennobling guilt. It makes them better human beings, for them to remember what they did to European Jewry. But, and there is the rub, they are, with a supreme hypocrisy that Günter Grass notes in his poem, spending that guilt (when not redirecting it into Islamophobia) on sustaining a colonial settlement, an extension of their own colonial legacy, in supporting Israeli colonialism in the Arab and Muslim world – as a garrison state that further facilitates their renewed imperial interests in the region. Europeans are turning their legitimate guilt into an illegitimate instrument of their sustained imperial designs on the globe, from whom Americans then take their cues.“
  • Grass hat grundsätzlich recht – kenntnisreiche und scharfsinnige Analyse von Mohssen Massarrat  (Exil-Iraner, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac, ehemals Politik-Professor an der Universität Osnabrück) – Financial Times Deutschland, 12.04.2012
    • „Der israelische Staat hat die Angst seiner Bürger vor ausländischen Feinden zur Staatsräson erhoben. Damit hat er seine Demokratie geschwächt und die Bedrohung nur verschärft.“

Stellungnahmen zum Gedicht

Wohlwollend:
    • Friedenspreis statt Schelte für Günter Grass – Kommentar von Thomas Nehls, WDR, ARD-Hauptstadtstudio, 04.04.2012
    • Es musste gesagt werden – Debattenbeitrag von Jakob Augstein– Spiegel, 06.04.2012
      • „Mit seinem Gedicht ‚Was gesagt werden muss‘ liegt Günter Grass richtig: Er holt Deutschland aus dem Schatten der Worte von Kanzlerin Merkel, die Sicherheit Israels gehöre zur deutschen ‚Staatsräson‘. Und der Schriftsteller kritisiert zu Recht, dass Israel der Welt eine Logik des Ultimatums aufdrängt.“
Differenziert:
    • Dichten und Meinen – Anmerkungen zu Günter Grass von Thomas Steinfeld– Süddeutsche Zeitung, 04.04.2012
      • „Günter Grass beschuldigt den Staat Israel, einen Angriffskrieg gegen Iran zu planen. Sein Gedicht steckt voller Übertreibungen, die für den Schriftsteller allerdings typisch sind. (…)  In Günter Grass ist (…) die Literatur mit dem öffentlichen Auftritt des Literaten verschmolzen. Dichten und Verlautbaren sind bei ihm zwei Seiten derselben Figur geworden, das Werk ist in die Person eingewandert. (…) Der 1999 empfangene Literaturnobelpreis verwandelte ihn endgültig zum schreibenden Republikaner. Als solcher irrt Grass zwar immer wieder, doch der Irrtum gehört zum Meinen.“
    • Was auch noch gesagt werden muss – Intellektuelle melden sich in Hintergrund zu Wort. Kommentare zur Grass-Debatte von Moshe Zuckermann, Noam Chomsky, Domenico Losurdo, Rolf Verleger, Ekkehart Krippendorff, Norman Paech, Adam Keller, Michel Warschawski, Tariq Ali, Yonatan Shapira, Yakov M. Rabkin, Moshé Machover, Brian Klug, Enzo Traverso und Gilbert Achcar– hintergrund.de, 06.04.2012
      • „Hintergrund möchte (dem) Unisono der Affirmation schwarz-gelber Außenpolitik und des „War on Terror“ die Stimmen ausgewiesener Ideologiekritiker entgegensetzen. „Was halten Sie von dem Grass-Gedicht und seiner Rezeption in Deutschland“, fragten wir namhafte Intellektuelle aus den Bereichen Wissenschaft, Politik, Literatur und Kunst. Die ersten Antworten sind eingegangen, weitere werden folgen.“
    • Eine Provokation mit bedrückendem Ergebnis – Gespräch mit dem amerikanischen Historiker Fritz Stern über Günter Grass, die Debatte über dessen Gedicht und über konstruktive Kritik an Israel. – FAZ, 13.04.2012
      • „Befremden bei geteilter Sorge: Fritz Stern bedauert und kritisiert die Irreführung der Israel-Kritik durch Günter Grass. Die Notwendigkeit der Kritik an der israelischen Regierungspolitik rechtfertigt nicht dessen Form der Anklage.“
    • Gunter the TerribleUri Avnery – CounterPunch, 13.04.2012
      • „Uri Avnery is an Israeli writer and peace activist with Gush Shalom. He is a contributor to CounterPunch’s book The Politics of Anti-Semitism.“
      • autorisierte deutsche Übersetzung: Günter der Schreckliche– Homepage Uir Avnery, 14.04.2012
        • „Ich habe schon mehrfach erwähnt, dass das israelische und amerikanische Geschwätz über einen israelischen Angriff bestenfalls Teil eines von den USA geführten psychologischen Krieges ist, um die iranischen Führer zum Aufgeben ihrer (vermuteten) Nuklearambitionen zu bringen. Es ist für Israel total unmöglich, den Iran ohne ausdrückliches, vorheriges amerikanisches Einverständnis anzugreifen, und es ist für Amerika total unmöglich, anzugreifen – oder Israel einen Angriff zu erlauben – wegen der katastrophalen Konsequenzen: ein Kollaps der Weltwirtschaft und ein langer und teurer Krieg. Nehmen wir um der Argumente willen an, dass die israelische Regierung tatsächlich entscheidet, Irans nukleare Installationen anzugreifen: dies würde nicht das iranische Volk oder einen Teil davon „auslöschen“. Nur Wahnsinnige würden nukleare Bomben für diesen Zweck benützen. Die israelischen Führer sind – was immer man von ihnen denken mag – nicht wahnsinnig. Selbst wenn Israel taktische nukleare Bomben mit begrenzter Kraft und begrenztem Radius hätte (oder von den USA erhalten würde), wäre die Reaktion der Welt auf ihre Anwendung katastrophal. – Übrigens ist es nicht ihre eigene Wahl, dass die israelischen Regierungen eine Politik nuklearer Nicht-Transparenz hat. Wenn sie könnten, würden unsere Führer unsere nukleare Macht von den Dächern posaunen. Es sind die USA, die auf Unklarheit bestanden, um nicht gezwungen zu sein, etwas zu tun.“
Verrisse:
Herausgehobene, aber problematische Kommentare
    • Was Grass uns sagen will – Erläuterungen und Gedicht(über?)interpretation von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher– FAZ, 04.04.2012
      • „Es empfiehlt sich, Gedichte von Günter Grass erst mit den Augen und dann mit dem Schraubenzieher zu lesen. Sie ähneln Ikea-Regalen. Auf dem Papier sieht alles ganz einfach aus, aber wenn man das fertige Werk erst einmal auseinander genommen hat, kriegt man es einfach nicht mehr zusammen. Ein Gedicht ist natürlich kein Regal. Man sieht von außen nicht, was in ihm steckt. Ein Gedicht ist ein Gedicht, weil es niemals sagt, was Sache ist. Seit Generationen müssen Schüler im Deutschunterricht deshalb die Frage beantworten, was der Dichter uns verheimlicht. Ganz anders der Leitartikel. Ein Leitartikel ist ein Artikel, der immer sagt, was Sache ist. Generationen von Zeitungslesern streiten sich deshalb jeden Morgen, ob sie richtig finden, was er sagt, oder falsch. Schraubt ein Autor Gedicht und Leitartikel zusammen, muss der Leser folgerichtig herausfinden, ob er richtig oder falsch findet, was der Dichter verheimlicht.“
      • Schirrmacher schaut mit dem Schraubenzieher nach und glaubt, einen „lyrischen Etikettenschwindel“ aufdecken zu können. Hinter dem manifesten Gedicht findet er ein zweites in Form eines „Subtextes“, in dem Grass durch die „Wortfelder“, die er aufrufe, „auf der Assoziationsebene“ etwas suggeriere, was er „auf der Aussageebene“ verneine, mit dem Ergebnis einer „ziemlich bestürzenden Umkehrung westdeutscher Nachkriegsdiskurse“. In diesem „Machwerk des Ressentiments“ ergreife Grass „endlich die Chance (…), einen Rollentausch vorzunehmen“, indem nun Israel eines „geplanten Völkermords“ angeklagt wird und Grass sich als „künftiger Überlebender“ äußert. So werde sein Gedicht zu einem „Dokument der ‚imaginären Rache‘ (Nietzsche) einer sich moralisch lebenslang gekränkt fühlenden Generation“. Eine anregende, weitreichende Interpretation,  jedoch voller tiefenhermeneutischer Annahmen und tiefenpsychologischer Vermutungen, die man teilen kann oder auch nicht.

Zum Antisemitismus-Vorwurf gegen Grass

  • Wer ist ein „Antisemit“?Ulrich W. Sahm erläutert Definition und Begriffsgeschichte des Antisemitismus-Begriffs – haGalil, 08.04.2012
    • „Wegen Günter Grass ist in Deutschland erneut eine Antisemitismusdebatte entbrannt. Jüdische Kronzeugen von Henryk Broder bis Avi Primor wurden befragt, ob Grass ein „Antisemit“ sei. Deren Ansichten fielen so unterschiedlich aus wie die Interpretationen des Grass-Gedichts, von Iran, Linken und Rechten  – hoch gelobt und von anderen als Hasspamphlet verurteilt.“
  • Wer Antisemit ist, bestimme ich! Moshe Zuckermann, Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv,  liest den Antisemitismus-Klägern gehörig die Leviten – taz, 10.04.2012
  • Grass-Gedicht: Kritik oder Antisemitismus?Jan Riebe (Mitarbeiter der Amadeu Antonio Stiftung; koordiniert die Aktionswochen gegen Antisemitismus) erläutert die üblichen Argumentationsmuster der Antisemitismus-Vorwürfe – Portal „Mut gegen rechte Gewalt“. 13.04.2012
    • Dieser Beitrag wurde hier nicht wegen seiner besonderen Qualität aufgenommen (er ist durchaus kritikwürdig), sondern weil detailliert die Überlegungen dargelegt werden, die einer Prüfung des Antisemitismus-Verdachts zugrunde liegen.
  • Günter Grass, antisemitism and the inflation of evilAntony Lerman,  früherer Direktor des Institute for Jewish Policy Research und Gründungsherausgeber des „Antisemitism World Report“ (1992-1998), analysiert den Antisemitismus-Vorwurf gegen Grass – openDemocracy, 16.04.2012 (auch via Eurozine)
    • „Denunciation of Günter Grass’s poem „What must be said“ typifies a fundamentalist understanding of antisemitism that operates outside the realm of fact, argues Antony Lerman.“

… und das überaus lesenswerte Referenzwerk zum Thema „Wenn Deutsche Israel kritisieren“:

  • Henryk M. Broder, Erich Follath: Gebt den Juden Schleswig-Holstein!
    • „Zwei streitbare Autoren und eine heikle Frage: In welcher Form darf man als Deutscher Israel kritisieren? Die Erfolgsautoren Erich Follath und Henryk M. Broder haben sich scharfzüngig und debattenfreudig dieses heiklen Themas angenommen. Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten – aber auch eine Besatzungsmacht, die Menschenrechte verletzt. Sollen wir uns als Deutsche angesichts unserer Geschichte mit Kritik an diesem Staat zurückhalten? Oder verpflichtet uns die Vergangenheit im besonderen Maße dazu, Missstände anzuprangern? Und geht das überhaupt: Israel wie jedes x-beliebige Land zu behandeln?“

Hintergrundanalysen zum iranisch-israelischen Konflikt

  • Ressourcen „Iran-Konflikt“ – Denkraum
  • Dämon Iran – Nahost-Experte Michael Lüderswarnt eindringlich vor einer einseitigen Beurteilung des Konflikts aus westlicher Perspektive und vor den unabsehbaren Folgen einer israelischen Militäraktion gegen die iranischen Atomanlagen – Blätter für deutsche und internationale Politik, März 2012
    • „Eines ist gewiss: Die Folgen eines Angriffs auf den Iran könnten dieses Jahrhundert prägen wie der Erste Weltkrieg das vorige. Dessen Blutspur endete bekanntlich erst mit dem Fall der Berliner Mauer 1989.“
  • Michael Lüders hat soeben ein Buch zur gegenwärtigen Lage im israelisch-iranischen Konflikt veröffentlicht: Iran – Der falsche Krieg, Beck-Verlag, 175 S., 2012
    • Buchankündigung bei buecher.de mit informativer Rezension von Franziska Augstein aus der Süddeutschen Zeitung vom 30.04.2012
  • Die wahre Atombombe George Friedman – The European, 26.03.2012
    • „Iran blickt einer historischen Möglichkeit entgegen, die Machtbalance am Persischen Golf zu verändern. Dies hat wenig mit Teherans Nuklearprogramm zu tun. Entscheidend ist stattdessen Irans konventionelle militärische Kapazität, sein offener wie verdeckter politischer Einfluss und die Entscheidung der USA, ihre Truppen aus dem Irak abzuziehen.“
    • George Friedman ist Chef des privaten Informationsdienstes Stratfor; zuvor lehrte er für mehr als zwei Jahrzehnte als Professor für Politische Philosophie und Militärstrategie und war Direktor am Zentrum für Geopolitische Studien, Louisiana State University.
  • Netanjahu und die Lust am KonfliktWalther Stützle– Cicero, 01.04.2012
    • „Während der Westen im Atomstreit mit dem Iran auf Diplomatie und Sanktionen setzt, beharrt Israel auf allen Optionen – auch der militärischen. Was aber geschähe, wenn es tatsächlich zum Krieg käme?“

Militärische Aspekte

Kritiken aus literaturwissenschaftlicher Perspektive

  • Locker vom Lyrikhocker – Der Germanist Magnus Klaue verortet das politische Gedicht von Grass literaturhistorisch nicht in der Tradition Brechts sondern der politischen Dichtung der 1960er und 1970er Jahre und erkennt erhebliche Nähe zur „Flugblatt- und Bekenntnislyrik“ Erich Frieds. – Freitag, 12.04.2012
    • „Bei Grass wie bei Fried wird die politische Lyrik gerade dort, wo sie auf Propaganda mit Zeilenumbruch zusammenschrumpft, zum unmittelbaren Selbstausdruck eines Ressentiments, eines lange verborgenen Grolls, einer tief empfunden Zurücksetzung und ‚Ungerechtigkeit‘, die unbedingt „gesagt“ werden muss, die zu den Millionen, die auch so denken, drängt, umso mehr, als sie angeblich nicht gesagt werden darf. Die Lockerung der lyrischen Form, die einmal ihrer vom Reimschema korrumpierten Wahrheit auf die Beine helfen sollte, trägt nunmehr zu deren Zerstörung bei. Metrisch gebunden und wohltönend, wie bei Mallarmée oder Baudelaire, könnte die Lyrik des Ressentiments nicht verbreitet werden. Die ungebundene Form wird zum angemessenen Ausdrucksmittel der durch keinerlei Takt gemilderten Stimme des Volkes. Nur indem er an Brecht und Mallarmé Verrat übte, hat Grass es auf die erste Seite geschafft.“
  • Prosaische Metrik oder lyrische Hochstapelei?Heinrich Detering, Professor für deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft in Göttingen und Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, sieht nach sorgfältiger Analyse der Metrik des Gedichts dieses sehr wohl in der Nähe Brechts angesiedelt. – Cicero, 16. April 2012
    • „Ein jeder empört sich über Grass‘ Gedicht. Doch keiner fragt, was das eigentlich für ein Gedicht ist. Heinrich Detering macht genau das, untersucht das Gedicht auf seinen poetischen Gehalt und fragt, ob Grass die Gedichtform am Ende vielleicht deshalb wählt, um sich unangreifbar zu machen.“

(Wird weiter ergänzt)

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