Paul Krugman: Europas ökonomischer Selbstmord

Am 16. April veröffentlichte die New York Times einen Artikel ihres Kolumnisten Paul Krugman, Ökonomieprofessor an der Universität Princeton und Nobelpreisträger für Wirtschaft, in dem dieser am Beispiel der wirtschaftlichen Entwicklung Spaniens einmal mehr aufzeigt, wie seiner Überzeugung nach die europäische Finanzpolitik auf einem ökonomisch suizidalen Austeritäts-Irrweg unbeirrt voranschreitet. Hier meine Übersetzung (unter gelegentlicher Verwendung einer z.T. sehr freien Übersetzung von Mischa Jäger, Der Standard, 17.04.2012).

Europas ökonomischer Selbstmord

Am Samstag berichtete die New York Times über ein offenkundig wachsendes Phänomen in Europa: “Selbstmord infolge der Wirtschaftskrise”; Menschen nehmen sich aus Verzweiflung über Jobverlust oder Firmenpleite das Leben. Es war eine herzergreifende Story. Aber ich war bestimmt nicht der einzige Leser, vor allem unter Ökonomen, der sich fragte, ob die übergeordnete Geschichte nicht so sehr von Einzelschicksalen handelt als vielmehr von der offenkundigen Entschlossenheit der europäischen Führer, den ganzen Kontinent in den ökonomischen Selbstmord zu treiben.

Noch vor ein paar Monaten hatte ich Hoffnung für Europa. Sie erinnern sich vielleicht, dass die EU im vergangenen Herbst am Rande des finanziellen Kollapses stand; aber die Europäische Zentralbank, Europas Gegenstück zur Fed, eilte dem Kontinent zu Hilfe. Sie bot den Banken unbegrenzte Kreditlinien an, unter der Bedingung, dass die Geldinstitute ihrerseits europäische Staatsanleihen als Sicherheiten hinterlegen; das stützte auf direktem Weg die Banken, unterstützte indirekt die Regierungen und setzte der Panikstimmung ein Ende.

Die Frage war nun, ob diese mutige und wirksame Aktion der Beginn eines grundlegenderen Umdenkens sein würde, ob die europäischen Führer die durch die EZB geschaffene Atempause nutzen würden, um die Politik zu überdenken, die das Desaster erst auf die Spitze getrieben hatte.

Aber das taten sie nicht. Stattdessen verstärkten sie ihre fehlgeschlagenen Strategien und Vorstellungen. Und es fällt immer schwerer zu glauben, dass sie irgendetwas von ihrem Kurs abbringen könnte.

Sehen wir uns die aktuelle Lage in Spanien an, dem derzeitigen Epizentrum der Krise. Nicht von Rezession ist die Rede – Spanien steckt mitten in einer voll entwickelten Depression, mit einer Arbeitslosenrate von 23,6 Prozent, vergleichbar mit Amerika am Tiefpunkt der Großen Depression, und über 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Das kann so nicht weitergehen – und die Erkenntnis, dass es nicht so weitergehen kann, treibt die Kreditkosten immer höher.

In gewisser Weise ist es eigentlich unerheblich, wie Spanien in diese Lage gekommen ist – aber nebenbei bemerkt hat die spanische Entwicklung keinerlei Ähnlichkeit mit den unter europäischen Offiziellen, vor allem in Deutschland, so populären Geschichten mit dem moralischen Zeigefinger. Spanien war kein “Fiskalverschwender” – am Vorabend der Krise hatte es nur relativ wenig Schulden und einen Haushaltsüberschuss. Unglücklicherweise hatte es außerdem eine enorme Immobilienblase, eine Blase, die zum großen Teil durch riesige Kredite deutscher Banken an ihre spanischen Kollegen möglich geworden war. Als die Blase platzte, ließ man die spanische Wirtschaft auf dem Trockenen sitzen; Spaniens Fiskalprobleme sind eine Folge der Depression, nicht deren Ursache.

Nichtsdestotrotz lauten die Vorgaben aus Berlin und Frankfurt, Sie erraten es, noch mehr Sparen! Das ist, um kein Blatt vor den Mund zu nehmen, einfach irrsinnig. Europa hat bereits mehrere Jahre Erfahrungen mit harscher Sparpolitik gesammelt, und die Ergebnisse belegen exakt das, was Studenten der Wirtschaftsgeschichte Ihnen vorhergesagt hätten: Solche Programme stürzen darniederliegende Ökonomien noch tiefer in die Depression. Und weil Investoren auf die wirtschaftliche Lage eines Landes schauen, wenn sie dessen Fähigkeit zur Schuldentilgung einschätzen wollen, taugen die Sparprogramme nicht einmal dazu, die Zinskosten zu senken.

Was ist die Alternative? Nun, in den 1930er Jahren – eine Ära, die das moderne Europa bis ins letzte Detail im Begriff ist nachzubilden – war die zentrale Voraussetzung für eine Genesung die Abkehr vom Goldstandard. Das heutige Äquivalent dazu wäre der Abschied vom Euro und die Wiedereinführung der nationalen Währungen. Man mag das für unvorstellbar halten, und es wäre in der Tat ein ökonomisch und politisch äußerst schwerwiegendes, umwälzendes Ereignis. Aber mit dem derzeitigen Kurs fortzufahren und Ländern, die bereits an depressionstypisch hoher Arbeitslosigkeit leiden, immer schärfere Sparprogramme aufzubürden, das ist wahrlich unvorstellbar.

Wenn die europäischen Führer den Euro wirklich retten wollten, müssten sie nach einer anderen Lösung Ausschau halten. Wie die auszusehen hätte, ist wohl ziemlich eindeutig. Der Kontinent braucht eine expansivere Geldpolitik, in Form einer Bereitschaft – einer offiziell angekündigten Bereitschaft – seitens der Europäischen Zentralbank, eine etwas höhere Inflation in Kauf zu nehmen; er braucht eine expansivere Finanzpolitik, in Form von Budgets in Deutschland, die den Sparkurs in Spanien und anderen problembelasteten Peripheriestaaten ausgleichen anstatt ihn zu verstärken. Selbst mit einer solchen Politik würden diesen Staaten harte Jahre bevorstehen. Aber es gäbe immerhin etwas Hoffnung auf wirtschaftliche Erholung.

Was wir indessen derzeit erleben, ist völlige Erstarrung. Im März unterzeichneten die europäischen Regierungen einen Fiskalpakt, der die Sparpolitik als Allheilmittel für alle und jede Probleme festschreibt. Gleichzeitig legen die EZB-Offiziellen Wert darauf, die Entschlossenheit der Bank zu betonen, bereits beim leisesten Anzeichen einer Inflation die Zinsen zu erhöhen.

Nach allem ist es schwer, nicht in Verzweiflung zu verfallen. Statt einzugestehen, dass sie auf dem Holzweg sind, scheinen Europas Führer fest entschlossen, ihre Wirtschaft – und damit die Gesellschaft – in den Abgrund zu treiben. Und die ganze Welt wird den Preis dafür zahlen.

Siehe auch:

  • Paul Krugman: Wie der Euro gerettet werden kann– Gastbeitrag für den Spiegel, 23.04.2012
    • „Die Einführung des Euro war ein fataler Fehler. Trotzdem kann die Gemeinschaftswährung überleben. Dafür muss Europa aber erst die wahren Ursachen der Krise erkennen – und mehr Inflation in Kauf nehmen.“
  • Aus: Il Sole 24 Ore – Italien – (15.04.2012 – Zusammenfassung von euro|topics):

    Barry Eichengreen fordert eine aktivere Rolle der EZB

    Die Euro-Krise ist mit den Problemen von Spaniens Banken und Italiens Staatsverschuldung wieder entflammt. Deshalb rät der US-amerikanische Ökonom Barry Eichengreen in einem Gastbeitrag in der Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore der Europäischen Zentralbank (EZB), erneut einzugreifen:

    • „Die Hürden für weitere geldpolitische Aktionen sind hoch, aber sie sind fast alle selbst auferlegt. … Die EZB macht sich Sorgen über die Gefahr des ‚moralischen Risikos‘, die Idee, dass mit weiteren Hilfen der Handlungsdruck auf die Regierungen nachlassen könnte. Doch sie sollte sich auch über die Gefahr des Finanzkollaps Gedanken machen – über das Risiko, dass ihre Untätigkeit den Regierungen es unmöglich macht, die notwendigen Schritte einzuleiten, um der Wirtschaft wieder eine solide Basis zu verleihen. Die EZB könnte einwenden, dass die Geldpolitik nicht das geeignete Mittel ist, um die europäische Wirtschaft wieder einzurenken. … Doch ohne Wirtschaftswachstum wird es kaum den politischen Willen geben, harte Maßnahmen zu ergreifen. Ohne die Unterstützung der EZB bleiben beide Ziele – wirtschaftliche Erholung und die Durchführung von Strukturreformen – reine Wunschvorstellungen.“
  • Aus: Il Sole 24 Ore – Italien – (22.04.2012 – Zusammenfassung von euro|topics):   

    Guido Rossi gegen Paul Krugmans These vom Ende des Euro

    Die These des Wirtschaftsnobelpreisträgers Paul Krugman, Europa begehe ökonomischen Selbstmord, ist Guido Rossi zufolge falsch. Der Jurist argumentiert in der Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore gegen die Krugman-These, dass Europa als Alternative nur mehr der Ausstieg aus der Währungsunion bleibe:

    • „Lieber Herr Krugman, der Euro ist keine barbarische Reliquie wie der Gold-Standard in den 1930er Jahren. Ihr Vergleich hinkt. Er ist die gemeinschaftliche Währung eines Europa, das sich nur rettet, wenn es seinen Integrationsprozess unbeirrt fortsetzt, indem es den Euro mit einer gemeinschaftlichen Geld- und Steuerpolitik untermauert und zugleich überzeugt auf ein föderalistisches Europa hinarbeitet, auf die Vereinigten Staaten von Europa. Denn dann wird man der Europäischen Zentralbank die wahren Befugnissen einer Zentralbank verleihen können und die Vergabe von gemeinsamen europäischen Anleihen, den Euro-Bonds, in Angriff nehmen. … Das ist, ob es den US-amerikanischen Politikern und Intellektuellen nun gefällt oder nicht, Europas einziger Ausweg aus der Krise.“
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