Eine brisante Debatte hat der erzkonservative frühere Chefredakteur des Daily Telegraph und offizielle Margret-Thatcher-Biograf Charles Moore entzündet: „I’m starting to think that the Left might actually be right“ („Ich beginne zu glauben, dass die Linke doch recht haben könnte“) überschrieb Moore einen aufsehenerregenden Artikel, der Ende Juli im Telegraph erschien.
„Es hat mehr als dreißig Jahre gedauert, bis ich mir als Journalist diese Frage stellte, aber in dieser Woche spüre ich, dass ich sie stellen muss: Hat die Linke nicht am Ende recht?“ fragte sich Moore noch vor den Unruhen in Großbritannien – und trug einen beeindruckenden Katalog von zustimmenden Argumenten zusammen, die allesamt aus der Feder Oskar Lafontaines stammen könnten.
Vor einigen Tagen nun berichtete Frank Schirrmacher in der FAZ ausführlich über Moores Einsichten und kommt zu dem Fazit: „Ehrlich gestanden: Wer könnte ihm widersprechen?“ „Das komplette Drama der Selbstdesillusionierung des bürgerlichen Denkens„ spiele sich derzeit in England ab: „Es gibt Sätze, die sind falsch. Und es gibt Sätze, die sind richtig. Schlimm ist, wenn Sätze, die falsch waren, plötzlich richtig werden. Dann beginnt der Zweifel an der Rationalität des Ganzen. Dann beginnen die Zweifel, ob man richtig gelegen hat, ein ganzes Leben lang.“
„Die Stärke der Analyse der Linken“, so zitiert FAZ-Herausgeber Schirrmacher Charles Moore, „liegt darin, dass sie verstanden haben, wie die Mächtigen sich liberal-konservativer Sprache als Tarnumhang bedient haben, um sich ihre Vorteile zu sichern. ,Globalisierung‘ zum Beispiel sollte ursprünglich nichts anderes bedeuten als weltweiter freier Handel. Jetzt heißt es, dass Banken die Gewinne internationalen Erfolgs an sich reißen und die Verluste auf jeden Steuerzahler in jeder Nation verteilen. Die Banken kommen nur noch ,nach Hause‘, wenn sie kein Geld mehr haben. Dann geben unsere Regierungen ihnen neues. (…)
Wenn die Banken, die sich um unser Geld kümmern sollen, uns das Geld wegnehmen, es verlieren und aufgrund staatlicher Garantien dafür nicht bestraft werden, passiert etwas Schlimmes. Es zeigt sich, dass ein System, das vorgibt, das Vorankommen der Vielen zu ermöglichen, sich zu einem System pervertiert hat, das die Wenigen bereichert – wie die Linke immer schon behauptet hat. (…)
Die Reichen betreiben ein globales System, das ihnen erlaubt, Kapital zu akkumulieren und den niedrigstmöglichen Lohn für Arbeit zu bezahlen. In den Genuss der daraus resultierenden Freiheiten kommen nur sie. Die Vielen sind gezwungen, unter unsicherer werdenden Bedingungen härter zu arbeiten, um für den Reichtum der Wenigen zu sorgen. Das demokratische System, das eigentlich den Vielen Nutzen bringen soll, ist in Wahrheit in den Händen der Banker, Medienmogule und Industriellen, die alle Fäden ziehen und denen alles gehört.“
„Ein Bürgertum, das seine Werte und Lebensvorstellungen von den ‚gierigen Wenigen‘ (Moore) missbraucht sieht“, so Schirrmacher, „muss in sich selbst die Fähigkeit zu bürgerlicher Gesellschaftskritik wiederfinden.“ Die Praxis der heutigen Realpolitik belege „wie in einem Echtzeitexperiment“ nicht nur, „dass die gegenwärtige ‚bürgerliche‘ Politik falsch ist, sondern, viel erstaunlicher, dass die Annahmen ihrer größten Gegner richtig sind.“
„Das große Versprechen an individuellen Lebensmöglichkeiten“ habe sich „in sein Gegenteil verkehrt“. Moore, einst Thatcherist alter Prägung, über die heutige Lage der arbeitenden Bevölkerung:
„Ihre Chancen für einen Job, für ein eigenes Haus, eine anständige Pension, einen guten Start für Ihre Kinder, werden immer kleiner. Es ist, als ob man in einem Raum lebt, der immer mehr schrumpft. Für Menschen, die nach 1940 geboren wurden, ist dies eine völlig neue Erfahrung. Wenn es noch länger so weiter geht, wird sie ziemlich schrecklich werden.“
Debattenbeiträge / Kommentare zu den Analysen Moores und Schirrmachers:
- „Der rechte Abschied von der Politik“
- Constantin Seibt bereichert Moores Generalabrechnung mit dem gegenwärtigen politischen System um eine eigene Analyse und zeigt vor allem die Politikunfähigkeit der politischen Rechten in den Vereinigten Staaten auf – lesenswert. (Der Tages-Anzeiger, Zürich, 8. August 2011)
- Dieser Artikel von Constantin Seibt sorgte für ein enormes Echo in den Social Media. Daraufhin veröffentlichte der Autor in seinem Blog unter dem Titel Das Entsetzen der Konservativen eine ungekürzte Fassung.
- „Warum Frank Schirrmacher immer noch kein Linker ist“ – Mark Schieritz (ZEIT-Blog „Herdentrieb“, 15. August 2011)
- „Frank Schirrmacher und die Erosion des Bürgertums“ – Gunter Hofmann (Cicero, 16. August 2011)
- „Es führt kein Weg zurück zu Ludwig Erhard“ – Paul Nolte (DeutschlandRadio Kultur, 16. August 2011)
- „Die Lüge von der Sozialpartnerschaft“ … wird nun auch in Südtirol erkannt: Norbert Dall‘ Ò – (ff – Das Südtiroler Wochenmagazin, 18. August 2011)
- „Aus Erfahrung klüger – Konservative zweifeln an ihren Analysen“ – Robert Misik (taz, 20. August 2011)
- „Die Welt ist aus den Fugen“ – Brillanter politischer Essay von Tissy Bruns (Tagesspiegel, 22. August 2011) – wird von mir im nächsten Beitrag ausführlich vorgestellt und ergänzt
- „Schirrmacher, das Bürgertum und die Krise der FDP“ – Christoph Seils, Journalist und Buchautor (Cicero, 22. August 2011)
- „Frank Schirrmacher hat’s auch schon gemerkt: Der Kapitalismus ist gemein“ – Alan Posener (starke-meinungen.de, 23. August 2011)
- „Frank Schirrmachers Killerapp und die (ersten) Folgen“ – Übersicht über bisherige Debattenbeiträge bei Thorstena (23. August 2011)
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